Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger und den Hofrat Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. November 2021, W101 2218281 2/2E, betreffend Ausstellung eines Fremdenpasses (mitbeteiligte Partei: M A, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
1 Mit Bescheid vom 10. Juli 2020 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) dem Mitbeteiligten, einem 1981 geborenen syrischen Staatsangehörigen, den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Syrien zu.
2 Am 8. Juni 2021 beantragte der Mitbeteiligte die Ausstellung eines Fremdenpasses für subsidiär Schutzberechtigte gemäß § 88 Abs. 2a FPG.
3 Diesen Antrag wies das BFA mit Bescheid vom 14. Juli 2021 ab, weil der Mitbeteiligte die Tatbestandsvoraussetzung nach § 88 Abs. 2a FPG, nicht in der Lage zu sein, sich ein gültiges Reisedokument seines Heimatstaates zu beschaffen, nicht nachgewiesen habe.
4 In der dagegen erhobenen Beschwerde trat der Mitbeteiligte dieser Annahme des BFA mit näheren Ausführungen entgegen.
5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 9. November 2021 gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) der Beschwerde gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 88 Abs. 2a FPG statt und behob den bekämpften Bescheid. Weiters sprach es gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
6 In seiner Begründung stellte das BVwG die Modalitäten zur Erlangung eines Reisepasses in der syrischen Botschaft in Wien fest und wies darauf hin, dass der Mitbeteiligte über einen syrischen Personalausweis, der zum (erforderlichen) Nachweis seiner Identität und Staatsangehörigkeit geeignet sei, verfüge. Es könne jedoch nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass durch solche Kontaktaufnahmen mit der Botschaft über deren Mitarbeiter auch Informationen an Personen in Syrien weitergegeben würden. Dadurch könnten in der Heimat verbliebene Familienangehörige des Mitbeteiligten in das Blickfeld des syrischen Regimes geraten und wegen seines Auslandsaufenthalts Schwierigkeiten bekommen. Außerdem sei es bei Männern im wehrpflichtigen Alter notwendig, bei der Beantragung des Reisedokuments ihren „Einberufungsstatus“ anzugeben. Da sich der Mitbeteiligte immer noch im wehrfähigen Alter befinde, sei nicht vollkommen auszuschließen, dass er durch eine allfällige Vorsprache bei der syrischen Botschaft in Wien die syrischen Behörden auf sich und auf seine noch in der Heimat lebenden Angehörigen aufmerksam machen und dadurch diese Personen möglicherweise einer Verfolgung aussetzen könnte.
7 In der Beweiswürdigung hielt das BVwG fest, aus der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 23. November 2017 zur „Ausstellung eines syrischen Reisepasses an der syrischen Botschaft in Wien“ ergebe sich, dass durch eine Kontaktaufnahme mit der syrischen Botschaft in Wien über deren Mitarbeiter Informationen an Personen in Syrien weitergegeben werden und durch die Bekanntgabe seiner Personalien auch den noch in Syrien lebenden Familienangehörigen des Mitbeteiligten Schwierigkeiten mit den syrischen Behörden oder gar Verfolgungshandlungen drohen könnten.
8 Rechtlich gelangte das BVwG zum Ergebnis, es sei objektiv nachvollziehbar, dass der Mitbeteiligte aus Angst vor einem willkürlichen Vorgehen der Behörden nicht in der Lage sei, sich in die syrische Botschaft zu begeben. Dem Mitbeteiligten sei demnach die Beschaffung eines gültigen Reisedokuments seines Heimatstaates nicht zumutbar und daher ein Fremdenpass auszustellen.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattete, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
10 Die Amtsrevision macht unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG unter anderem geltend, das BVwG habe zur Beurteilung der Frage, ob eine Kontaktaufnahme des Mitbeteiligten mit der syrischen Botschaft tatsächlich nicht zumutbar sei, weil sonst seine Familienangehörigen mit Repressalien durch das syrische Regime belegt würden, kein aktuelles Berichtsmaterial herangezogen. Der allgemein gehaltene Inhalt der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 23. November 2017, auf die sich das BVwG gestützt habe, könne die Feststellungen des BVwG überdies nicht tragen.
11 Die Revision erweist sich wie die nachstehenden Ausführungen zeigen entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig und auch als berechtigt.
12 Zwar stellt die Beurteilung der (Un )Zumutbarkeit bzw. der faktischen (Un )Möglichkeit der Beschaffung eines gültigen Reisedokuments iSd § 88 Abs. 2a FPG eine einzelfallbezogene Beurteilung dar, die wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht erfolgreich mit Revision im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG bekämpft werden kann (vgl. etwa VwGH 27.7.2023, Ra 2021/21/0363, Rn. 10, mwN).
13 Allerdings mangelt es im vorliegenden Fall an einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage. Wie die Revision zutreffend geltend macht, stützte das BVwG die Feststellungen, aufgrund derer es von der für den Mitbeteiligten gegebene Unzumutbarkeit der Beschaffung eines Reisepasses bei der syrischen Botschaft ausging, lediglich auf die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 23. November 2017. Dieses Dokument war jedoch im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt bereits fast vier Jahre alt, sodass es für den vorliegenden Fall keine aktuelle Grundlage für die Feststellungen über allfällige Auswirkungen einer Kontaktaufnahme syrischer Staatsangehöriger mit der syrischen Botschaft in Wien zwecks Reisepassausstellung auf ihre in der Heimat aufhältigen Familienangehörigen darstellen kann. Darüber hinaus behandelt die Anfragebeantwortung primär nur die Voraussetzungen für das Erlangen eines syrischen Reisedokuments durch die syrischen Vertretungsbehörden in Österreich. Lediglich beiläufig wird dort angemerkt, es sei zu beachten, dass ein syrischer Staatsangehöriger mit einem solchen Antrag den syrischen Staat von seinem Aufenthalt in Österreich in Kenntnis setze, was „unterschiedliche Konsequenzen“ nach sich ziehen könne und „nicht für jeden in Österreich befindlichen Syrer eine Option darstellt“. Diese Anmerkung vermag die in Rn. 6 wiedergegebenen Feststellungen des BVwG aber nicht zu tragen.
14 Demzufolge belastete das BVwG seine Entscheidung in einer für den Ausgang des Verfahrens (und von der Revision auch aufgezeigten) relevanten Weise mit einem Verfahrensmangel. Das angefochtene Erkenntnis war aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
15 Bei diesem Ergebnis kommt ein Kostenzuspruch für die Revisionsbeantwortung an den Mitbeteiligten nicht in Betracht (vgl. § 47 Abs. 3 VwGG).
Wien, am 25. Oktober 2023