JudikaturVwGH

Ra 2022/17/0132 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
12. November 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofräte Mag. Berger und Dr. Horvath als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des M S, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Juni 2022, W123 14089952/3E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 sowie Erlassung einer Rückkehrentscheidung mit Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Revisionswerber, ein indischer Staatsangehöriger, stellte im Jahr 2009 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, der letztlich im Instanzenzug mit Erkenntnis des damals zuständigen Asylgerichtshofes vom 26. Juli 2010 abgewiesen wurde; unter einem wurde der Revisionswerber nach Indien ausgewiesen.

2 Mit vorübergehenden Unterbrechungen durch Aufenthalte in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union verblieb der Revisionswerber im Bundesgebiet.

3Am 29. Oktober 2020 beantragte er die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK, namentlich einer „Aufenthaltsberechtigung plus“ nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005.

4 Mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 2. März 2022 wurde der Antrag des Revisionswerbers auf Erteilung des Aufenthaltstitels abgewiesen, eine Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen, die Zulässigkeit seiner Abschiebung nach Indien festgestellt, eine Frist für seine freiwillige Ausreise nicht gewährt und ein auf § 53 Abs. 2 Z 6 FPG fußendes Einreiseverbot für die Dauer von drei Jahren gegen den Revisionswerber erlassen. Begründend stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl unter anderem fest, dass der Revisionswerber (offenbar gemeint: gegenwärtig) keiner legalen Beschäftigung nachgehe und daher mittellos sei. Jedoch stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl auch fest, der Revisionswerber habe angegeben, als Zeitungszusteller erwerbstätig zu sein. Zudem stellte es fest, dass er (als Selbständiger) sozialversichert sei und von 1. Jänner 2010 bis 28. Mai 2021 ein Gewerbe als Marktfahrer innegehabt habe; im Zusammenhang damit traf das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Feststellung, dass es dem Revisionswerber nicht möglich sei nachzuweisen, dass seine finanziellen Mittel aus legalen Quellen stammten. Feststellungen dazu, ob der Revisionswerber strafgerichtlich unbescholten sei, traf das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nicht.

5 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde. Darin verwies er auf seinen langen Aufenthalt im Bundesgebiet. Während dieser Zeit habe er mit seinem Gewerbe rechtmäßig Einkommen erwirtschaftet, wofür er ordnungsgemäß Steuern und Sozialversicherungsbeiträge bezahlt habe. In der Beschwerde wurde ferner die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlungder Beschwerde nur insoweit Folge, als es die Befristung des Einreiseverbots auf einen Zeitraum von 18 Monaten verkürzte. Im Übrigen wies es die Beschwerde als unbegründet ab. Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht für nicht zulässig. Begründend ging es über die Feststellungen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl hinaus davon aus, dass der Revisionswerber mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 22. September 2020 wegen „§§ 223 Abs. 2 und 224 StGB“ zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten rechtskräftig verurteilt worden sei.

7 Dagegen erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Mit Erkenntnis vom 28. Februar 2023, E 2060/2022 18, hob der Verfassungsgerichtshof das angefochtene Erkenntnis wegen Verletzung in Rechten durch Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes namentlich § 53 Abs. 2 Z 6 FPG, BGBl. I Nr. 100/2005, idF BGBl. I Nr. 87/2012 auf, soweit der Beschwerde nur mit der Maßgabe stattgegeben worden sei, dass die Dauer des Einreiseverbotes auf 18 Monate herabgesetzt werde. Im Übrigenalso betreffend die Abweisung des Antrags auf Erteilung des Aufenthaltstitels nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 und die Rückkehrentscheidung mit Nebenaussprüchen lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde ab und trat sie unter einem dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

8In der Folge wurde die vorliegende außerordentliche Revision erhoben, die in den Ausführungen zu ihrer Zulässigkeit nach § 28 Abs. 3 VwGVG unter dem Gesichtspunkt einer Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften vorbringt, das Bundesverwaltungsgericht habe zu Unrecht keine mündliche Verhandlung durchgeführt. Insbesondere hätte das Bundesverwaltungsgericht schon wegen der Ergänzung des Sachverhalts um eine dem Revisionswerber dem Vorbringen nach unbekannte strafgerichtliche Verurteilung nicht nach § 21 Abs. 7 BFA Verfahrensgesetz (BFA VG) von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen.

9 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erstattete in dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 Die Revision ist in Bezug auf ihr Zulässigkeitsvorbringen zum Abweichen des Verwaltungsgerichts von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen für ein Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG zulässig und begründet.

11 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß dem hier maßgeblichen ersten Tatbestand des ersten Satzes des § 21 Abs. 7 BFA VG („wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“) dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFAVG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. VwGH 11.12.2023, Ra 2021/17/0197 bis 0198, mwN).

12 Vorliegend wäre die nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts zu Lasten des Revisionswerbers zu berücksichtigende strafgerichtliche Verurteilung deren Vorliegen er in der Revision dezidiert in Abrede stellt zeitlich deutlich vor dem angefochtenen Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl erlassen worden, sodass sie in dessen Feststellungen hätte Eingang finden müssen; diesbezüglich durfte das Bundesverwaltungsgericht also nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgehen. Zudem ging aus den Feststellungen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl nicht eindeutig hervor, inwieweit der Revisionswerber gegenwärtig und in der Vergangenheit erwerbstätig und selbsterhaltungsfähig ist bzw. war. Auch insoweit durfte das Bundesverwaltungsgericht keinen geklärten Sachverhalt annehmen. Das Bundesverwaltungsgericht hätte daher nicht gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG von der Durchführung der mündlichen Verhandlung absehen durfte. Diesbezüglich ist auch darauf hinzuweisen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen außer in einem hier nicht vorliegenden eindeutigen Fallder Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die (allenfalls erforderliche) Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 MRK (sonst) relevanten Umstände (vgl. VwGH 8.8.2023, Ra 2022/17/0209, mwN).

13Das angefochtene Erkenntnis war schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften zur Gänze aufzuheben.

14Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 12. November 2024