Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofräte Mag. Berger und Dr. Horvath als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision der I W S, vertreten durch Dr. Anton Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Schottenfeldgasse 2 4/23, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Februar 2022, W222 22414231/3E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 und Feststellung der vorübergehenden Unzulässigkeit einer Abschiebung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die Revisionswerberin, eine kenianische Staatsangehörige, heiratete im Juni 2005 in Kenia einen österreichischen Staatsbürger.
2 In den Jahren 2006 und 2008 hielt sich die Revisionswerberin zum Teil im Bundesgebiet auf. In der Folge war sie in Deutschland aufhältig.
3 Ende des Jahres 2009 wurde ihre Tochter in Deutschland geboren, welche sowohl österreichische Staatsbürgerin als auch kenianische Staatsangehörige ist.
4 Am 16. Mai 2015 wurde die genannte (erste) Ehe der Revisionswerberin geschieden.
5 Am 29. Mai 2015 heiratete die Revisionswerberin einen deutschen Staatsangehörigen, woraufhin ihr ein bis Ende 2018 gütiger deutscher Aufenthaltstitel erteilt wurde. Diese Ehe wurde Anfang des Jahres 2018 geschieden, sodass dieser Aufenthaltstitel nicht verlängert wurde.
6 Von Juli 2018 bis Juli 2019 hielt sich die Revisionswerberin mit ihrer Tochter in Norwegen auf.
7In der Folge reisten beide erneut in Österreich ein. Die Revisionswerberin beantragte am 27. August 2019 die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Aufenthaltsberechtigung plus“ nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005.
8 Mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 8. März 2021 wurde der Antrag abgewiesen. Unter einem wurde festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gegenüber der Revisionswerberin bis zur Volljährigkeit ihrer Tochter vorübergehend unzulässig sei, es sei denn, es ginge zuvor die österreichische Staatsbürgerschaft der Tochter oder die Obsorgeberechtigung der Revisionswerberin für sie verloren, sodass die Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung schon mit diesem Zeitpunkt enden würde.
9 Gegen diesen Bescheid erhob die Revisionswerberin Beschwerde, in der sie unter anderem ausführte, dass sie das Familienleben mit ihrer Tochter mangels Anknüpfungspunkten in Kenia keinesfalls fortsetzen könnte und auch das Kindeswohl der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet entgegenstehe. Der Sachverhalt sei insbesondere diesbezüglich nicht hinreichend geklärt worden, zumal das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Revisionswerberin nicht einvernommen, sondern lediglich ihre schriftlichen Antworten an Hand eines Fragebogens eingeholt habe. Die Revisionswerberin beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
10 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde der Revisionswerberin ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
11 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit unter dem Gesichtspunkt einer Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften vorbringt, das Bundesverwaltungsgericht habe zu Unrecht keine mündliche Verhandlung durchgeführt. Insbesondere hätte es nicht von einem hinreichend geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA VG ausgehen dürfen.
12 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erstattete in dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
13 Die Revision ist zulässig und begründet.
14 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß dem hier maßgeblichen ersten Tatbestand des ersten Satzes des § 21 Abs. 7 BFA VG („wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“) dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFAVG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. VwGH 11.12.2023, Ra 2021/17/0197 bis 0198, mwN).
15 Die Revisionswerberin hat in ihrer Beschwerde den durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl festgestellten Sachverhalt nicht bloß unsubstantiiert bestritten. Schon deshalb durfte das Bundesverwaltungsgericht nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgehen. Das Bundesverwaltungsgericht hätte daher nicht gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG von der Durchführung der mündlichen Verhandlung absehen dürfen.
Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen außer in einem hier nicht vorliegenden eindeutigen Fallder Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die (allenfalls erforderliche) Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände (vgl. VwGH 12.11.2024, Ra 2022/17/0132, mwN).
16Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
17Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 30. April 2025