7Ob95/25h – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätin sowie die Hofräte Dr. Weber, Mag. Fitz, Mag. Jelinek und MMag. Dr. Dobler als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A* W*, vertreten durch Dr. Monika Krause, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei H* AG, *, vertreten durch die MUSEY rechtsanwalt gmbh in Salzburg, wegen 83.720 EUR sA und Rente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 28. März 2025, GZ 3 R 190/24v 45, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
[1]1. Die qualifizierte Mahnung nach § 39 VersVG ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, deren Wirkung nur dann eintritt, wenn sie dem Versicherten iSd § 862a ABGB zugegangen ist (RS0014059). Im Sinne der Empfangstheorie ist eine Erklärung dem Adressaten dann zugekommen, wenn sie derart in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, dass nach regelmäßigen Umständen mit der Kenntnisnahme durch ihn gerechnet werden konnte, wenn sie also in eine solche Situation gebracht wurde, dass die Kenntnisnahme durch den Adressaten unter normalen Umständen erwartet werden kann und Störungen, die sich ihr entgegenstellen sollten, nur mehr im Lebensbereich des Adressaten möglich sind. Dass der Empfänger absichtlich den Zugang verhindert, ändert nichts an der Rechtswirksamkeit der Empfangserklärung (RS0014071, RS0014076; 7 Ob 55/02t mwN). Verhindert der Empfänger absichtlich den Zugang, so ist die Zustellung in dem Zeitpunkt wirksam, in dem sie dem Empfänger unter gewöhnlichen Umständen zugegangen wäre (vgl RS0028552). Die Verpflichtung, für die Möglichkeit des Zugangs von rechtsgeschäftlichen Erklärungen vorzusorgen, ist umso stärker zu gewichten, je eher mit der Möglichkeit des Einlangens solcher Erklärungen zu rechnen ist. Grundsätzlich muss der mit der Zahlung der Folgeprämie in Verzug geratene Versicherungsnehmer mit dem Zugang einer qualifizierten Mahnung rechnen (RS0014098); dabei muss unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls geprüft werden, ob dem Versicherungsnehmer die Kenntnisnahme der Mahnung möglich war bzw ob ihm vorgeworfen werden kann, den Zugang wider Treu und Glauben verhindert zu haben (vgl 7 Ob 83/21p; 7 Ob 55/02t mwN). Für die Beurteilung, ob objektiv mit der Kenntnisnahme durch den Empfänger gerechnet werden kann, sind alle Umstände des Einzelfalls maßgebend (RS0014089).
[2] 1.1 Der Kläger lebte zwar zum Zeitpunkt der Zustellung der qualifizierten Mahnung nicht mehr an der gegenüber der Versicherung bekanntgegebenen Adresse. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, mit der Zustellung an die der Versicherung bekanntgegebenen Adresse und dem Zugang an den bisherigen Mitbewohner, mit dem der Kläger vereinbart hatte, dass er dem Kläger die Post übergibt, ist die Mahnung dem Kläger zugegangen, weil der Kläger wegen des Verzugs mit der Prämienzahlung mit Mahnungen zu rechnen und daher für die Möglichkeit des Zugang vorzusorgen hatte, hält sich im Rahmen des den Gerichten eingeräumten Ermessens- spielraums. Dies insbesondere unter Berücksichtigung, dass der Kläger bereits Prämienvorschreibungen für diese Versicherung sowie Mahnungen der Beklagten aus einer anderen Versicherung dort zugestellt erhalten hatte, sich in einer finanziellen Notlage befand, in der seine Bank bestehende Lastschriftaufträge mangels Kontendeckung nicht mehr durchführte, weshalb er wusste, dass mit einer Mahnung zu rechnen ist und ihm auch die besondere Bedeutung von Mahnungen von Versicherungen bekannt war.
[3] 1.2 Es trifft nicht zu, dass die bisherigen Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs nur vorübergehende Abwesenheiten und nicht Wohnungswechsel betroffen haben. Der Entscheidung 7 Ob 83/21pliegt insofern ein vergleichbarer Sachverhalt zugrunde, als (auch) dort der Versicherungsnehmer tatsächlich in einer anderen Wohnung wohnte, als gegenüber der Versicherung angegeben. Auch dort wurde – unabhängig von der Frage, ob von einem Einschreiben iSd § 10 VersVG auszugehen war – der Zugang mit der Zustellung an der der Versicherung bekanntgegebenen Adresse angenommen, weil der dortige Kläger seinen Wunsch, Zustellungen an diese Adresse zu erhalten, nie revidiert hatte und dort seine Eltern lebten, zu denen er auch Kontakt hatte.
[4]2. Da die Mahnung als iSd § 862a ABGB dem Kläger zugegangen anzusehen ist, stellen sich die von ihm zu § 10 VersVG aufgeworfenen Fragen nicht. Zur Vollständigkeit wird aber ausgeführt:
[5]2.1 Die Prämieneinmahnung unter Nachfristsetzung ist eine der von § 10 VersVG erfassten Willenserklärungen (vgl RS0080265). Die Absendung einer Willenserklärung iSd § 10 Abs 1 VersVG in Form eines eingeschriebenen Briefs ist für die rechtswirksame Annahme der Zugangsfiktion erforderlich ( 7 Ob 83/21p Rz 13).
[6]Daraus ist aber nicht abzuleiten, dass qualifizierte Mahnungen iSd § 39 VersVG bei einem Wohnungswechsel stets eingeschrieben übermittelt werden müssten. Nur für die Inanspruchnahme der Zustellfiktion des § 10 Abs 1 VersVG ist dies notwendig. Es wurde nämlich bereits klargestellt, dass den Versicherer die Beweislast für den Zugang der Mahnung trifft und er die damit verbundenen Nachteile zu tragen hat, wenn er es aus welchen Gründen immer unterlässt, seine Mahnungen auf jene Weise zustellen zu lassen, die ihm einen sicheren Beweis für den Zeitpunkt des Zugangs erbringen würde (RS0080742 [T2; T3]).
[7]2.2 Es besteht auch kein allgemeiner Vorrang der Zustellfiktion des § 10 VersVG gegenüber den anderen Zugangsregeln. Vielmehr entspricht es der Rechtsprechung, dass für die Rechtsfolgen herbeiführende Zustellung einerseits der Nachweis in Betracht kommt, dass die qualifizierte Mahnung dem Erklärungsempfänger entsprechend § 862a ABGB erster Satz tatsächlich zugekommen, also in dessen Machtbereich gelangt ist, oder andererseits, dass dieser Zugang etwa entsprechend § 10 VersVG oder unter analoger Heranziehung des § 862a zweiter Satz ABGB fingiert wird (vgl 7 Ob 314/99y– hier zur vorläufigen Deckung nach § 38 VersVG). Die Varianten bestehen also alternativ.
[8] 3. Damit war die Revision zurückzuweisen.