JudikaturJustizBsw33400/96

Bsw33400/96 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
15. Juli 2003

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Ernst u.a. gegen Belgien, Urteil vom 15.7.2003, Bsw. 33400/96.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK, Art. 10 EMRK, Art. 13 EMRK, Art. 14 EMRK - Richterliche Immunität und Zugang zu einem Gericht.

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 6 Abs. 1 EMRK

(einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Jeweils EUR 2.000,- für immateriellen Schaden, EUR 9.000,- für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. sind allesamt Journalisten. Mit Urteil vom 21.6.1995 entzog das Höchstgericht dem Lütticher Gericht zweiter Instanz acht anhängige Verfahren betreffend Verletzung des Berufsgeheimnisses durch ranghohe Bedienstete der Staatsanwaltschaft. Es war festgestellt worden, dass bezüglich einiger bei diesem Gericht anhängiger Rechtssachen von hoher Brisanz, darunter der Mord an Minister André Cools und der Selbstmord eines Generals der Luftwaffe, vermehrt Informationen an die Medien durchgesickert waren. In der Folge wurde das Gericht zweiter Instanz in Brüssel mit der Führung des Verfahrens betraut. Am 23.6.1995 ordnete der Untersuchungsrichter die Vornahme einer Hausdurchsuchung an den Arbeitsplätzen und in den Privatwohnungen der Bf. an, „um dort jegliche Dokumente ausfindig zu machen und zu beschlagnahmen, die für die Untersuchung von Nutzen sein könnten". Noch am selben Tag nahm die Polizei sowohl in den Redaktionen als auch in den Privatwohnungen der Bf. Hausdurchsuchungen vor, in deren Verlauf zahlreiche Dokumente beschlagnahmt wurden.

Am 20.9.1995 erstatteten die Bf. beim Untersuchungsrichter des Brüsseler Gerichts erster Instanz Strafanzeige gegen unbekannt und beantragten, sich dem Verfahren als Privatbeteiligte anschließen zu dürfen. Mit Beschluss vom 16.10.1995 entschied das Gericht erster Instanz, den Fall dem Untersuchungsrichter zu entziehen und an die Staatsanwaltschaft abzutreten, weil die Strafanzeige sich gegen einen Angehörigen des Richterstandes als Urheber der angeordneten Hausdurchsuchungen gerichtet habe. Der Akt wurde dem Justizminister übermittelt und schließlich an den Generalprokurator beim Höchstgericht in Brüssel weitergeleitet. In der Folge beantragten die Bf. beim Höchstgericht, ein Schiedsgericht mit der Vorfrage zu befassen, ob es gegen Verfassungsprinzipien verstoße, dass ein durch eine Gerichtsperson Geschädigter keine Beschwerde gegen diese führen könne bzw. es ihm verwehrt sei, sich dem Verfahren als Privatbeteiligter anzuschließen.

Am 1.4.1996 sprach das Höchstgericht sein Urteil. Angesichts der Tatsache, dass die gegenständliche Strafanzeige gegen eine Person gerichtet sei, die richterliche Immunität genieße, sei der Antrag der Bf., sich dem Verfahren als Privatbeteiligte anschließen zu dürfen, für unzulässig zu erklären. Was die Befassung eines Schiedsgerichts betreffe, sei festzustellen, dass die Unzulässigerklärung sich direkt aus § 63 der belgischen StPO ergebe, der selbst jedoch nicht Gegenstand des Antrags auf Befassung eines Schiedsgerichts gewesen sei. Das Höchstgericht sei daher nicht angehalten gewesen, diese Frage dem Schiedsgericht vorzulegen. Am 26.4.1996 wurde den Bf. vom Generalprokurator mitgeteilt, dass er das Verfahren eingestellt habe. In der Zwischenzeit war von den Bf. eine Amtshaftungsklage gegen den belgischen Staat eingebracht worden. Das Verfahren ist noch anhängig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten, das Urteil des Höchstgerichts habe ihr Recht auf Zugang zu einem Gericht gemäß Art. 6 (1) EMRK verletzt. Sie beanstanden ferner, dass sie gegenüber Personen, die eine Klage gegen Angehörige einbringen, die nicht dem Richterstand angehören, entgegen Art. 14 EMRK iVm. Art. 6 (1) EMRK in diskriminierender Weise benachteiligt würden. Die Bf. rügen außerdem Verletzungen von Art. 6

(1) EMRK (hier: Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Bsw. bei einer nationalen Instanz) und behaupten überdies, dass die Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung) und von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens und auf Achtung der Wohnung) dargestellt hätten.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK:

Recht auf Zugang zu einem Gericht:

Die Zuerkennung richterlicher Immunität ist eine nicht nur in Belgien, sondern auch in anderen nationalen und internationalen Rechtssystemen langgeübte Praxis. Sie verfolgt ein legitimes Ziel, nämlich die Gewährleistung einer ordnungsgemäßen und ausgewogenen Rechtsprechung. Als nächstes ist zu fragen, ob der eingeschränkte Zugang zu einem Tribunal verhältnismäßig war. Dazu ist festzustellen, dass der Antrag, sich dem Verfahren als Privatbeteiligte anschließen zu dürfen, nach belgischem Recht lediglich eine von mehreren Möglichkeiten darstellt, zivilgerichtliche Ansprüche gegen Privatpersonen geltend zu machen. Für Zivilklagen gegen Richter gilt dies hingegen nur eingeschränkt (vgl. §§ 1140 und 1147 Code judiciaire). Der GH bezweifelt, dass den Bf. ein solches Rechtsmittel zur Geltendmachung von Schadenersatz gegen einen Richter zur Verfügung gestanden wäre.

Im vorliegenden Fall haben die Bf. parallel zu ihrem Antrag, sich dem Verfahren als Privatbeteiligte anschließen zu dürfen, eine Amtshaftungsklage gegen den belgischen Staat eingebracht, die auf demselben Sachverhalt beruhte; dieses Verfahren ist noch anhängig. Die Unzulässigerklärung des Antrags sowie die Einstellung des Verfahrens durch den Generalprokurator hatten somit nicht zur Folge, dass sie von jeglichem Ersatz für erlittene Schäden ausgeschlossen worden wären. Der eingeschränkte Zugang der Bf. zu den Gerichten hat somit den Wesensgehalt ihres Rechts auf ein Tribunal nicht berührt und war somit verhältnismäßig.

Fehlende Offenlegung von Urkundenbeweisen:

Die Bf. behaupten, dass ihnen vom Höchstgericht zahlreiche Aktenstücke vorenthalten wurden, auf die sich sowohl das Höchstgericht als auch der Generalprokurator bei seinen Entscheidungen bezogen hätten. Diese Vorgangsweise stelle eine Verletzung ihres Rechts auf Waffengleichheit dar.

Im vorliegenden Fall hat das Höchstgericht sein Urteil anhand des Aktenstandes getroffen, der auch den Bf. bekannt war und ihnen somit für kontradiktorische Einwendungen offen stand. Der GH ist der Ansicht, dass das Höchstgericht für seine Entscheidung über keine anderen Beweisstücke zu verfügen brauchte. Die Tatsache, dass die dem Generalprokurator zur Verfügung stehenden Beweise nicht auch dem Höchstgericht bzw. den Bf. übermittelt wurden, ist vernachlässigbar, da beide gleichermaßen Kenntnis von seiner Stellungnahme hatten.

Fehlende öffentliche Verhandlung bzw. Verkündung des Urteils:

Die Bf. machen geltend, dass die Verhandlungen vor dem Gericht erster Instanz und dem Höchstgericht keinen öffentlichen Charakter gehabt hätten und das Urteil des Höchstgerichts nicht öffentlich verkündet worden wäre.

Die belgische Verfassung sieht zwar die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren und die öffentliche Verkündung von Urteilen vor, jedoch gilt dieses Prinzip nicht für Untersuchungshandlungen, die in Belgien der Geheimhaltung unterliegen. Eine solche Regelung lässt sich durchaus mit dem Schutz des Privatlebens der Prozessparteien und den Interessen der Rechtspflege iSd. zweiten Satzes des Art. 6 (1) EMRK rechtfertigen. Was die fehlende öffentliche Verkündung des Urteils des Höchstgerichts angeht, ist auf das Urteil Sutter/CH hinzuweisen, wonach es nicht auf die wörtliche Auslegung dieser Verfahrensgarantie ankommt, sondern es genügt, wenn jedermann, der ein Interesse nachweist, das Urteil einsehen kann. Im vorliegenden Fall besorgten sich die Bf. bereits einige Tage nach Ergehen der Entscheidung von der Kanzlei eine schriftliche Ausfertigung des Urteils, ferner wurde das Urteil samt den Ausführungen des Generalprokurators in der amtlichen Entscheidungssammlung veröffentlicht.

Weigerung der Befassung des Schiedsgerichts mit einer Vorfrage:

Der GH stellt fest, dass die Konvention kein Recht garantiert, eine anhängige Gerichtssache zur Entscheidung über eine Vorfrage von einer nationalen Instanz an eine andere oder an einen internationalen Spruchkörper zu verweisen. Im vorliegenden Fall hat das Höchstgericht die Nichtbefassung des Schiedsgerichts mit besagter Vorfrage ausreichend begründet, für das Vorliegen von Willkür liegen keinerlei Anhaltspunkte vor. Keine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (alle einstimmig, im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Loucaides hinsichtlich der Nichtbefassung des Schiedsgerichts).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK:

Der GH erinnert an seine Rspr., wonach bei der Frage des Zugangs zu einem Gericht die Garantien nach Art. 13 EMRK von denjenigen des Art. 6 (1) EMRK absorbiert werden. Da keine Verletzung des Rechts auf Zugang zu einem Gericht festgestellt wurde, liegt auch keine Verletzung von Art. 13 EMRK vor (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 6 (1) EMRK:

Die von den Bf. kritisierte Benachteiligung verfolgte ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz des Richterstandes vor missbräuchlicher Strafverfolgung und die Ausübung richterlicher Funktionen in sachlicher und unabhängiger Weise. In Anbetracht dessen, dass den Bf. eine Amtshaftungsklage gegen den belgischen Staat offen stand, waren die zur Verfügung gestellten Rechtsbehelfe gegenüber dem gesetzlich verfolgten Ziel verhältnismäßig. Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Die durchgeführten Hausdurchsuchungen stellen einen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. dar. Dieser war gesetzlich vorgesehen und verfolgte ein legitimes Ziel, nämlich die Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen, den Schutz des guten Rufes anderer und die Gewährleistung der richterlichen Autorität und Unabhängigkeit. Zu prüfen ist, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Der GH kann sein Befremden über den Aufwand der bei insgesamt acht Personen und fast gleichzeitig durchgeführten Hausdurchsuchungen nicht verhehlen, die nach Angaben der Bf. den Einsatz von etwa 160 Polizeibeamten nach sich zogen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob dem Untersuchungsrichter nicht auch andere Maßnahmen zur Identifikation der Urheber der Verletzung von Berufsgeheimnissen, wie etwa die Durchführung einer internen Untersuchung einschließlich der Befragung der involvierten Beamten, zur Verfügung gestanden wären. Der GH hat bereits im Urteil Goodwin/GB hervorgehoben, dass „Beschränkungen der Vertraulichkeit von journalistischen Quellen einer besonders sorgfältigen Prüfung seitens der Konventionsorgane unterliegen". Es ist somit festzuhalten, dass das Gleichgewicht zwischen den beiderseitigen Interessen nicht gewahrt wurde. Die vom Gericht angeführten Gründe waren zwar „erheblich", jedoch nicht „ausreichend", um Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen von diesem Ausmaß rechtfertigen zu können. Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Die in den Wohnungen, an den Arbeitsplätzen und teilweise in den Privatautos der Bf. durchgeführten Durchsuchungen stellen einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung der Wohnung dar. Dieser war gesetzlich vorgesehen und verfolgte ein legitimes Ziel, nämlich die Verhinderung von strafbaren Handlungen und den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Was die Notwendigkeit der gerügten Maßnahme anlangt, ist zu sagen, dass die Durchsuchungen von bestimmten verfahrensrechtlichen Garantien begleitet waren. Abgesehen davon, dass die Bf. zu keiner Zeit mit strafrechtlichen Vorwürfen konfrontiert wurden, waren die Hausdurchsuchungsbefehle von ihrem Wortlaut her ziemlich weit gefasst. Sie enthielten keinerlei Informationen über die Untersuchung als solche, die aufzusuchenden Räumlichkeiten und zu beschlagnahmenden Gegenstände und übertrugen den mit der Hausdurchsuchung betrauten Kriminalbeamten sehr weitreichende Befugnisse. Die Reg. hat übrigens eingeräumt, dass den Bf. der konkrete Grund für die gegenständlichen Operationen nicht mitgeteilt wurde. Die bekämpften Hausdurchsuchungen waren somit nicht verhältnismäßig zum verfolgten Ziel. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig)

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Jeweils EUR 2.000,-- für immateriellen Schaden, EUR 9.000,-- für

Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Lemmens).

Vom GH zitierte Judikatur:

Sutter/CH v. 22.2.1984, A/74 (= EuGRZ 1985, 229).

Goodwin/GB v. 27.3.1996 (= NL 1996, 83 = ÖJZ 1996, 795).

Waite Kennedy/D v. 28.2.1999 (= NL 1999, 17).

Al-Adsani/GB v. 21.11.2001 (= NL 2001, 247).

Stés Colas ua./F v. 16.4.2002 (= NL 2002, 88).

A./GB v. 17.12.2002 (= NL 2003, 11).

Cordova (Nr. 1 und 2)/I v. 30.1.2003 (= NL 2003, 22).

Roemen Schmit/L v. 25.2.2003 (= NL 2003, 74).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 15.7.2003, Bsw. 33400/96, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2003, 205) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/03_4/Ernst.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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