JudikaturJustizBsw27306/07

Bsw27306/07 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
19. Juni 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesachen Krone Verlag GmbH gg. Österreich, Urteil vom 19.6.2012, Bsw. 27306/07 und Kurier Zeitungsverlag und Druckerei GmbH gg. Österreich, Urteil vom 19.6.2012, Bsw. 1593/06.

Spruch

Art. 10 EMRK - Berichterstattung über Obsorgestreit.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die beiden Urteile betreffen die Berichterstattung über einen Sorgerechtsstreit in zwei österreichischen Tageszeitungen.

Zum Hintergrund

Nachdem sich die Eltern von Christian W. getrennt hatten, entbrannte ein Streit um das Sorgerecht. Während das Verfahren anhängig war, lebte Christian entgegen einer einstweiligen Verfügung bei seinem Vater U. W. Im Dezember 2003 wurde dessen Antrag, der Mutter die Obsorge zu entziehen und auf ihn zu übertragen, abgewiesen.

Es wurden mehrere Versuche unternommen, diese Entscheidung zu vollstrecken. Die österreichischen Zeitungen berichteten darüber, da U. W. regelmäßig Journalisten informierte. Ein erster Vollstreckungsversuch scheiterte am 23.12.2003, weil sich U. W. und Christian versteckten. Daraufhin wurde vom Gericht eine Verhandlung anberaumt, bei der das Kind an die Mutter übergeben werden sollte. Nachdem der Vater nicht zur Verhandlung erschienen war, ordnete der Richter die zwangsweise Vorführung von Christian an. Als diese Entscheidung von Gerichtsvollziehern vollstreckt werden sollte, verbarrikadierte sich Christian in seiner Volksschule. Da die einschreitenden Polizisten keine Gewalt anwenden wollten, scheiterte auch dieser Versuch. Über dieses Ereignis wurde in den Medien berichtet, die von Christians Vater informiert worden waren.

Nach weiteren erfolglosen Versuchen versuchten Gerichtsvollzieher am 26.1.2004, Christian an sich zu nehmen, als sie ihn in Begleitung einer Babysitterin in einem Auto vor dem Haus seines Vaters antrafen. Christian schrie und widersetzte sich, woraufhin die Gerichtsvollzieher den Vollstreckungsversuch abbrachen. Auch über diese Szenen wurde in den Medien berichtet, nachdem einige Journalisten und Fotografen an den Ort des Geschehens geeilt waren.

Nachdem Christian von seinem Vater ins Salzburger Landeskrankenhaus gebracht worden war, um etwaige Verletzungen durch die Justizbeamten feststellen zu lassen, konnte er am 28.1.2004 durch ein Ablenkungsmanöver von seinem Vater getrennt und der Mutter übergeben werden. Er lebt seither mit ihr in Schweden. Auch über diese Phase der Ereignisse wurde in den Medien berichtet.

Die Artikel in den Zeitungen

In der Kronen Zeitung erschienen im Jänner und Februar 2004 13 Artikel über das »Familiendrama«. Darin wurde detailliert und unter Nennung des vollen Namens von Christian über den Obsorgestreit und vor allem über die gescheiterten Versuche berichtet, die als »unmenschlich« bezeichnete gerichtliche Entscheidung zu vollstrecken, sowie die »allgemeine Empörung« über die Vorgangsweise der Justiz wiedergegeben. Die Artikel waren mit zahlreichen Fotos von Christian illustriert, auf denen er in einem Zustand der Verzweiflung und des Schmerzes zu sehen war.

In der Tageszeitung Kurier erschienen drei Artikel über den »Fall Christian«. Am 29.1.2004 wurde berichtet, wie das Kind unter aufsehenerregenden Umständen wieder in die Obhut seiner Mutter gelangt war. Am folgenden Tag berichtete die Zeitung, dass nun auch ein Obsorgestreit um seinen Bruder drohe. Schließlich erschien am 13.2.2004 ein Artikel, in dem eine sensiblere Vorgehensweise der Justiz gefordert wurde, wobei insbesondere Richter und Expertinnen zu Wort kamen. Zwei der Artikel waren mit Fotos von Christian illustriert, auf denen er mit verzweifeltem Gesichtsausdruck zu sehen war, sein voller Name wurde wiederholt genannt.

Die Verfahren gegen die Medieninhaberinnen

Der von seiner Mutter vertretene Christian beantragte Entschädigungen nach § 7 und § 8a MedienG, da er durch die Veröffentlichungen, in denen sein voller Name genannt wurde und die mit Fotos illustriert waren, in seinen durch diese Bestimmungen geschützten Rechten verletzt worden sei.

Das LG für Strafsachen Wien gab den Anträgen am 19.10.2004 statt. Es verurteilte die Medieninhaberin der Kronen Zeitung zur Zahlung einer Entschädigung von € 136.000,– und jene des Kurier zur Zahlung einer Entschädigung von € 20.000,–. Beiden Medienunternehmen wurde die Urteilsveröffentlichung und die Kostentragung auferlegt. Durch die Veröffentlichungen, die Details aus dem Sorgerechtsverfahren enthielten, den vollen Namen des Kindes offenbarten und mit Fotos illustriert waren, die es mit verzweifeltem Gesichtsausdruck zeigten, hatten die beiden Bf. seinen höchstpersönlichen Lebensbereich in einer Weise dargestellt, die geeignet war, ihn in der Öffentlichkeit bloßzustellen. Außerdem habe die Bekanntgabe seiner Identität auch gegen § 7a MedienG verstoßen, da Christian W. Opfer einer Straftat sei. Das LG anerkannte zwar einen direkten Zusammenhang zwischen dem Gegenstand der Berichterstattung und dem öffentlichen Interesse wegen der harschen Kritik am Verhalten der Justizbeamten, die versucht hatten, die Sorgerechtsentscheidung zu vollstrecken. Diesem Interesse hätte jedoch auch ohne Veröffentlichung von Fotos des Kindes und seines vollen Namens entsprochen werden können.

In teilweiser Stattgebung von Berufungen der Medieninhaberinnen behob das OLG Wien die Urteile insofern, als ein Verstoß gegen § 7a MedienG festgestellt worden war. Daraufhin wurden die Entschädigungen auf € 130.000,– bzw. € 9.000,– herabgesetzt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit) durch ihre Verurteilung zur Zahlung von Entschädigungen.

Zulässigkeit

Die Beschwerden sind nicht offensichtlich unbegründet. Da sie auch aus keinem anderen Grund unzulässig sind, müssen sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

Es ist unbestritten, dass die Urteile, mit denen Christian Entschädigungen zugesprochen wurden, Eingriffe in das Recht der Bf. auf freie Meinungsäußerung darstellen. Diese waren in § 7 MedienG gesetzlich vorgesehen und dienten dem legitimen Ziel des Schutzes des guten Rufs und der Rechte anderer.

Die vorliegende Angelegenheit bezieht sich einerseits auf das durch Art. 10 EMRK geschützte Recht der Presse, die Öffentlichkeit über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse in Bezug auf laufende Gerichtsverfahren und über die Art, wie Entscheidungen der Gerichte vollstreckt werden, zu informieren und andererseits auf die positive Verpflichtung des Staates nach Art. 8 EMRK, die Privatsphäre von Personen, insbesondere von Minderjährigen, zu schützen, die von solchen Verfahren betroffen sind. Bei der Vergewisserung, ob die Behörden einen fairen Ausgleich zwischen den beiden geschützten Werten getroffen haben, die in derartigen Fällen in Konflikt miteinander geraten können – der durch Art. 10 EMRK geschützten Meinungsäußerungsfreiheit und dem in Art. 8 EMRK enthaltenen Recht auf Achtung des Privatlebens – muss der GH das öffentliche Interesse an der Veröffentlichung und die Notwendigkeit, das Privatleben zu schützen, gegeneinander abwägen. Die Abwägung individueller Interessen, die sich widersprechen können, ist eine schwierige Angelegenheit und den Konventionsstaaten muss in dieser Hinsicht ein weiter Ermessensspielraum zugestanden werden.

Im vorliegenden Fall veröffentlichten die Kronen Zeitung bzw. der Kurier im Jänner und Februar 2004 eine Serie von Artikeln, in denen die Identität von Christian und Details über sein Familienleben bzw. seine Gesundheit und seinen Gefühlszustand enthüllt wurden. Sie waren mit Fotos illustriert, auf denen Christian nicht unkenntlich gemacht war und die ihn in einem Zustand des Schmerzes und der Verzweiflung zeigten.

Nach Ansicht des GH waren die Gründe, die das LG für Strafsachen Wien für die Verurteilungen heranzog und die vom OLG Wien bestätigt wurden, ohne Zweifel relevant in Hinblick auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 10 Abs. 2 EMRK. Es bleibt zu prüfen, ob sie auch ausreichend waren.

In Fällen wie dem vorliegenden hat der GH die Position der von der Veröffentlichung betroffenen Person herangezogen und berücksichtigt, ob sie eine Person des öffentlichen Lebens ist oder sonstwie die Bühne der Öffentlichkeit betreten hat. Ein weiterer wichtiger Faktor ist, ob die Artikel oder Fotos zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beitrugen.

Christian ist weder eine Person des öffentlichen Lebens noch hat er die Bühne der Öffentlichkeit betreten, indem er Opfer eines Sorgerechtsstreits zwischen seinen Eltern wurde, der erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit erregte.

Die Artikel betrafen eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse, nämlich die angemessene Vollstreckung von Obsorgeentscheidungen und die Frage, ob und in welchem Maße dabei Gewalt angewendet werden darf oder soll. Eine solche Angelegenheit kann Anlass für eine öffentliche Debatte geben, was hier auch tatsächlich der Fall war. Da aber weder Christian selbst noch seine Eltern Personen des öffentlichen Lebens waren oder zuvor die öffentliche Sphäre betreten hatten, kann nicht angenommen werden, dass die Offenlegung seiner Identität für das Verständnis der Besonderheiten des Falls notwendig gewesen wäre. In diesem Zusammenhang merkt der GH an, dass die Bf. über alle Details des Falls berichten hätten dürfen, insbesondere hinsichtlich der problematischen Versuche, die Obsorgeentscheidung zu vollstrecken, jedoch nicht die Identität von Christian offenlegen und intimste Details über ihn veröffentlichen oder ein Foto abdrucken, auf dem er erkannt werden konnte.

Der GH ist nicht überzeugt vom Argument der Bf., die Veröffentlichung der Fotos, die den Schmerz im Gesicht von Christian zeigten, wäre notwendig gewesen, um die Glaubwürdigkeit der Geschichte sicherzustellen. Die Veröffentlichung von Fotos und Artikeln, deren einziger Zweck darin besteht, die Neugier einer bestimmten Leserschaft über Details aus dem Privatleben einer Person des öffentlichen Lebens zu befriedigen, trägt nicht zu einer Debatte von allgemeinem gesellschaftlichem Interesse bei, auch wenn die Person allgemein bekannt ist. Unter solchen Umständen muss die Meinungsäußerungsfreiheit enger ausgelegt werden. Diese Überlegungen gelten auch in Hinblick auf Personen, die wie Christian keine Personen des öffentlichen Lebens sind.

Auf der anderen Seite steht außer Zweifel, dass die Bewahrung der intimsten Sphäre des Lebens eines Jugendlichen, der Opfer eines Sorgerechtsstreits wurde und nicht selbst in die Öffentlichkeit getreten ist, angesichts seiner verletzlichen Position besonderen Schutz verdient.

Der GH muss weiters prüfen, ob die Eingriffe in das Recht der Bf. auf Verbreitung von Information verhältnismäßig waren. Die Bf. wurden nicht in Strafverfahren zu einer Geldstrafe verurteilt, sondern zur Zahlung von Entschädigungen für die Beeinträchtigung, die eine Person durch das Eindringen in ihr Privatleben erlitten hat.

Im Fall Kurier Zeitungsverlag und Druckerei GmbH erscheint der Betrag von € 9.000,– angemessen angesichts der Länge und des Inhalts der drei Artikel, die aufgrund der veröffentlichten Details und der Fotos sowie der verletzlichen Situation von Christian sowie der weiten Verbreitung der Zeitung einen schwerwiegenden Eingriff darstellen.

Im Fall Krone Verlag GmbH ist die Entschädigung mit € 130.000,– außergewöhnlich hoch. Die Bf. berichtete in 13 Artikeln über den Fall, wobei sie jedes Mal Informationen über den engsten Privatbereich Christians wiederholte, intime Details aus seinem Leben, seinen Gefühlszustand und seine Gesundheit offenlegte und wiederholt Fotos abdruckte. Auch wenn diese Fakten bereits öffentlich bekannt geworden waren, war ihre häufige Wiederholung ab einem bestimmten Punkt geeignet, ein Klima der ständigen Belästigung zu schaffen, das in der betroffenen Person ein starkes Gefühl des Eindringens in ihr Privatleben oder gar der Verfolgung auslösen konnte.

Ein weiteres zu berücksichtigendes Element ist die besonders weite Verbreitung der Kronen Zeitung.

Schließlich ist zu prüfen, ob im innerstaatlichen Recht angemessene und wirksame Sicherungen gegen unverhältnismäßige Entschädigungen bestanden. Dazu stellt der GH fest, dass § 7 Abs. 1 MedienG einen Höchstbetrag von € 20.000,– als Entschädigung in einem Einzelfall vorsieht. § 6 Abs. 1 MedienG enthält klare Richtlinien für die Festsetzung der Entschädigung und sieht unter anderem vor, dass die wirtschaftliche Existenz des Medieninhabers nicht gefährdet werden darf. Diese Sicherungen sind angemessen und verhindern effektiv unverhältnismäßige Entschädigungen. Die zugesprochene Entschädigung war daher unter den Umständen des vorliegenden Falls nicht unverhältnismäßig.

Im Ergebnis handelte der Staat in beiden Fällen im Rahmen seines Ermessensspielraums, als er Entschädigungen für das Eindringen in das Privatleben von Christian durch die Bf. zugesprochen hat. Die Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. beruhte auf relevanten und ausreichenden Gründen und war verhältnismäßig zu den verfolgten Zielen.

Daher hat keine Verletzung von Art. 10 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Von Hannover/D v. 24.6.2004 = NL 2004, 144 = EuGRZ 2004, 404 = ÖJZ 2005, 588

Hachette Filipacchi Associés/F v. 14.6.2007 = NL 2007, 140

Egeland und Hanseid/N v. 16.4.2009 = NL 2009, 104

Enea/I v. 17.9.2009 (GK) = NL 2009, 264

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Urteile des EGMR vom 19.6.2012, Bsw. 27306/07 und Bsw. 1593/06 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 187) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Urteile im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_3/Krone.pdf und www.menschenrechte.ac.at/orig/12_3/Kurier.pdf

Die Originale der Urteile sind auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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