JudikaturJustizBsw10511/10

Bsw10511/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
26. April 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Murray gg. die Niederlande, Urteil vom 26.4.2016, Bsw. 10511/10.

Spruch

Art. 3 EMRK - Lebenslange Freiheitsstrafe ohne Therapie zur Reduktion der Gefahr eines Rückfalls.

Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung dar (12:5 Stimmen); € 27.500,– an den Sohn und die Schwester des Bf. für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der 1953 auf Aruba geborene Bf. wurde 1979 vom Gericht erster Instanz der Niederländischen Antillen des Mordes an einem sechsjährigen Mädchen für schuldig befunden und zu 20 Jahren Haft verurteilt. Der beigezogene Psychiater diagnostizierte pathologische Störungen, insbesondere eine sehr eingeschränkte Entwicklung seiner geistigen Fähigkeiten. Es sei daher von einer verminderten Schuldfähigkeit auszugehen, auch wenn ihm seine Handlungen zurechenbar wären. Der Gemeinsame Gerichtshof der Niederländischen Antillen hob das erstinstanzliche Urteil auf Antrag der Staatsanwaltschaft auf und verurteilte den Bf. am 11.3.1980 zu lebenslanger Haft. Der Gerichtshof sah es als erwiesen an, dass er das Mädchen nach besonnener Überlegung erstochen hatte, um sich an der Tante des Mädchens, die seine Exfreundin war, zu rächen. Da eine Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt auf den Niederländischen Antillen nicht möglich sei, wäre die lebenslange Haft das passendste Mittel, um die Gesellschaft vor der hohen Rückfallgefahr zu schützen. Die gegen die Verurteilung erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos.

Die ersten 19 Jahre seiner Freiheitsstrafe verbüßte der Bf. in einem Gefängnis auf Curaçao. 1999 wurde er auf eigenen Wunsch in die Justizvollzugsanstalt auf Aruba verlegt, um die Distanz zu seiner Familie zu verringern.

Während der Verbüßung seiner Freiheitsstrafe ersuchte der Bf. den Gouverneur wiederholt um Begnadigung. Vor Erhebung der Beschwerde an den EGMR wurden diese Ansuchen alle abgelehnt. Der Gemeinsame Gerichtshof der Niederländischen Antillen lehnte in seinen Stellungnahmen an den Gouverneur eine Begnadigung stets mit der Begründung ab, eine Entlassung wäre wegen der nach wie vor bestehenden hohen Gefährlichkeit des Bf. unverantwortlich und würde zudem von der Gesellschaft nicht verstanden werden. Der Gerichtshof stellte auch fest, dass sich der Bf. keiner psychiatrischen oder sonstigen Behandlung zur Stärkung seiner Persönlichkeit und zur Herabsetzung der Gefahr einer erneuten Straffälligkeit unterzogen hätte.

Seit einer am 15.11.2011 in Kraft getretenen Änderung des Strafgesetzbuchs von Curaçao muss jede lebenslange Freiheitsstrafe nach 20 Jahren und danach alle fünf Jahre dahingehend überprüft werden, ob die weitere Strafvollstreckung noch gerechtfertigt ist. Auch die über den Bf. verhängte Strafe wurde daraufhin einer solchen Überprüfung unterzogen. Der Gemeinsame Gerichtshof der Niederländischen Antillen entschied am 21.9.2012, dass die Freiheitsstrafe auch nach 33 Jahren weiterhin einem vernünftigen Grund diente. Er verwies insbesondere darauf, dass der Bf. in der Haft nicht therapeutisch behandelt worden sei und nach wie vor an einer Persönlichkeitsstörung leide. Wegen der immer noch bestehenden Gefahr erneuter Straftaten im Fall der Freilassung würde der Schutz der Gesellschaft vorgehen.

Nachdem 2013 eine unheilbare Krebserkrankung diagnostiziert worden war, wurde der Bf. am 31.3.2014 vom Gouverneur von Curaçao begnadigt und sofort aus der Haft entlassen. Er verstarb am 26.11.2014.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen Strafe) durch seine lebenslange Freiheitsstrafe, die de facto und de jure nicht herabgesetzt werden konnte.

Vorfragen

Verfahrenseinreden der Regierung

(77) Die Regierung äußerte in der Verhandlung Zweifel darüber, ob der Sohn des Bf. [...] und seine Schwester [...] Parteifähigkeit (locus standi) haben, um die Beschwerde zu verfolgen. [...]

(79) Der GH erlaubt gewöhnlich den Angehörigen, eine Beschwerde zu verfolgen, wenn der ursprüngliche Bf. nach Erhebung der Beschwerde an den GH verstorben ist. Angesichts des Gegenstands der Beschwerde und aller ihm vorliegenden Elemente nimmt der GH an, dass der Sohn und die Schwester des Bf. ein legitimes Interesse daran haben, die Beschwerde zu verfolgen, und damit die erforderliche Parteifähigkeit gemäß Art. 34 EMRK.

(80) Soweit die Bemerkungen der Regierung als Verfahrenseinrede betreffend die Parteifähigkeit des Sohnes und der Schwester des Bf. zu verstehen sind, verwirft der GH diese Einrede (einstimmig).

(81) Die Regierung behauptete, der Bf. könne hinsichtlich seiner Beschwerde, er habe keine Aussicht auf Entlassung und die Möglichkeit der Begnadigung sei unangemessen und ineffektiv, nicht länger als »Opfer« einer Verletzung iSv. Art. 34 EMRK angesehen werden, weil einem Ersuchen um Begnadigung am 31.3.2014 stattgegeben und er aus dem Gefängnis entlassen worden sei.

(83) [...] Eine Entscheidung oder Maßnahme zugunsten eines Bf. reicht grundsätzlich nicht aus, um ihm seine Opfereigenschaft zu nehmen, solange die nationalen Behörden nicht die Verletzung der Konvention ausdrücklich oder der Sache nach anerkannt und Wiedergutmachung dafür geleistet haben.

(84) Der GH bemerkt [...], dass der Bf. während der 33 Jahre, die er im Gefängnis verbrachte [...], vielfach erfolglos um Begnadigung ersucht hat. Zwar trifft zu, dass ihm letztendlich am 31.3.2014 aus Gesundheitsgründen eine Begnadigung gewährt wurde, doch umfasste diese Entscheidung keine Anerkennung der behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK. Da es zudem keinen Hinweis darauf gibt, dass die Begnadigung gewährt worden wäre, um Wiedergutmachung zu leisten, kann der Bf. für sich in Anspruch nehmen, Opfer der von ihm behaupteten Verletzungen der Konvention zu sein.

Folglich verwirft der GH die sich auf die Opfereigenschaft des Bf. beziehende Einrede der Regierung (einstimmig).

Umfang der Rechtssache vor der Großen Kammer

(85) Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls erachtet es der GH als begründet, die Frage des genauen Umfangs der ihm vorliegenden Rechtssache detailliert zu thematisieren.

(86) Der Antrag des Bf. auf Verweisung und seine Stellungnahmen enthielten Vorbringen hinsichtlich seiner Beschwerden unter Art. 5 EMRK, die von der Kammer für unzulässig erklärt wurden. Nach ständiger Rechtsprechung des GH wird der Inhalt und Umfang der an die Große Kammer verwiesenen Rechtssache aber durch die Entscheidung der Kammer über die Zulässigkeit beschränkt. Die Große Kammer kann daher jene Teile der Beschwerde nicht prüfen, die von der Kammer für unzulässig erklärt wurden. [...]

(89) In seiner schriftlichen Stellungnahme zeigte der Bf. an, dass er nicht länger auf seiner Beschwerde unter Art. 3 EMRK hinsichtlich der Haftbedingungen bestehen wolle, soweit sie die behaupteten unangemessenen Zustände in den Gefängnisgebäuden betreffen. Der GH schließt daraus [...], dass der Bf. damit iSv. Art. 37 Abs. 1 lit. a EMRK meinte, er beabsichtige nicht, diesen Aspekt seiner Beschwerde weiterzuverfolgen. Da es keine besonderen Umstände hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte gibt, die eine Prüfung erfordern würden, wird die Große Kammer diesen Teil der Beschwerde nicht prüfen.

(90) Die Große Kammer wird dementsprechend die Rüge des Bf. unter Art. 3 EMRK prüfen, wonach seine lebenslange Freiheitsstrafe nicht herabsetzbar war und die Haftbedingungen gegen diese Bestimmung verstießen, insbesondere weil er nie einem seinem psychischen Zustand angepassten Regime unterworfen wurde oder eine psychiatrische Behandlung erhielt.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

(91) Der Bf. rügte, dass seine lebenslange Freiheitsstrafe de jure und de facto nicht herabsetzbar war und es in den Gefängnissen, in denen er angehalten wurde, weder ein gesondertes Regime für zu lebenslanger Haft Verurteilte noch für Gefangene mit psychischen Problemen gab. Nach Abschluss der periodischen Überprüfung seiner lebenslangen Freiheitsstrafe brachte er in einem Schreiben von 2.11.2012 weiters vor, dass selbst wenn de jure eine Möglichkeit der bedingten Entlassung geschaffen wurde, er de facto keine Hoffnung auf Entlassung habe, weil er nie eine psychiatrische Behandlung erhalten hätte und aus diesem Grund die Gefahr des Rückfalls als zu hoch eingeschätzt wurde, um ihn als für eine solche Entlassung geeignet anzusehen.

Allgemeine Grundsätze

Lebenslange Freiheitsstrafe

(99) [...] Die Verhängung einer Freiheitsstrafe über einen erwachsenen Straftäter ist für sich nicht unvereinbar mit Art. 3 EMRK oder einem anderen Artikel der Konvention, solange sie nicht grob unverhältnismäßig ist. Der GH hat allerdings festgestellt, dass die Verhängung einer nicht herabsetzbaren lebenslangen Freiheitsstrafe über einen Erwachsenen eine Angelegenheit unter Art. 3 EMRK aufwerfen kann. [...] Dies ist nicht der Fall, solange eine lebenslange Freiheitsstrafe de jure und de facto reduzierbar ist. [...] In Vinter u.a./GB stellte der GH fest, dass eine lebenslange Freiheitsstrafe nur dann mit Art. 3 EMRK vereinbar bleiben kann, wenn sowohl eine Aussicht auf Entlassung besteht als auch eine Möglichkeit der Überprüfung, wobei beides schon ab der Verhängung der Strafe existieren muss. [...]

(100) Wie der GH weiters festgestellt hat, kann ein Gefangener nur angehalten werden, solange es legitime Strafgründe für die Inhaftierung gibt, die Bestrafung, Abschreckung, Schutz der Öffentlichkeit und Resozialisierung einschließen. [...] Die Überprüfung, die erforderlich ist, damit eine lebenslange Freiheitsstrafe reduzierbar ist, sollte den innerstaatlichen Behörden daher erlauben zu erwägen, ob irgendeine Änderung des Gefangenen und ein Fortschritt in Richtung seiner Resozialisierung von solcher Bedeutung sind, dass die weitere Inhaftierung nicht länger durch legitime Strafgründe gerechtfertigt ist. [...] Die Möglichkeit einer Begnadigung oder Entlassung aus Mitleid wegen Krankheit, Behinderung oder hohem Alter entspricht nicht dem Begriff der »Aussicht auf Entlassung« [...].

Resozialisierung und Aussicht auf Entlassung

(101) [...] In Vinter u.a./GB [...] stellte die Große Kammer fest, dass es unvereinbar mit der Menschenwürde [...] wäre, einer Person ihre Freiheit zu entziehen, ohne ihre Resozialisierung anzustreben und ihr die Chance zu geben, diese Freiheit irgendwann in der Zukunft wiederzuerlangen. [...]

(103) Ungeachtet der Tatsache, dass die Konvention kein Recht auf Resozialisierung als solches garantiert, setzt die Rechtsprechung des GH daher voraus, dass es verurteilten Personen, einschließlich solchen, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, erlaubt werden sollte, sich selbst zu resozialisieren. [...] Einem zu lebenslanger Haft verurteilten Gefangenen muss – innerhalb der Zwänge des Gefängnisumfelds – eine realistische Chance gegeben werden, solche Fortschritte hinsichtlich der Resozialisierung zu machen, dass ihm die Hoffnung geboten wird, eines Tages für eine Begnadigung oder bedingte Entlassung geeignet zu sein. [...]

(104) [...] Auch wenn Staaten nicht dafür verantwortlich sind, die Resozialisierung von solchen Gefangenen zu erreichen, haben sie doch die Pflicht, es ihnen zu ermöglichen, sich selbst zu resozialisieren. [...]

Gesundheitsversorgung von Gefangenen mit psychischen Problemen

(106) Im Fall von psychisch kranken Gefangenen hat der GH festgestellt, dass bei der Beurteilung, ob konkrete Haftbedingungen mit den Standards von Art. 3 EMRK unvereinbar sind, die Verletzlichkeit dieser Personen [...] berücksichtigt werden muss. Zudem reicht es nicht aus, wenn solche Gefangenen untersucht werden und eine Diagnose erstellt wird. Vielmehr ist wesentlich, dass eine angemessene Behandlung für das diagnostizierte Problem und eine passende medizinische Überwachung zur Verfügung gestellt werden.

Zu lebenslanger Haft verurteilte Gefangene mit geistigen Behinderungen und/oder psychischen Problemen

(107) Zu lebenslanger Haft verurteilte Gefangene, die als strafrechtlich verantwortlich für die Taten, für die sie für schuldig befunden wurden, qualifiziert wurden – und die daher nicht als »psychisch Kranke« iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK angesehen werden – können dennoch gewisse psychische Gesundheitsprobleme haben. Sie können beispielsweise verhaltensbezogene oder soziale Probleme haben oder an verschiedenen Persönlichkeitsstörungen leiden, was sich alles auf die Gefahr eines Rückfalls auswirken kann. Der GH hat sich bislang nicht mit der spezifischen Frage der Herabsetzbarkeit lebenslanger Freiheitsstrafen befasst, die über Personen verhängt wurden, bei denen eine geistige Behinderung und/oder psychische Probleme festgestellt wurden. Vor dem Hintergrund der oben dargelegten Rechtsprechung erachtet der GH den folgenden Ansatz als angemessen:

(108) Damit ein Staat seinen Verpflichtungen nach Art. 3 EMRK in Hinblick auf in diese Kategorie fallende zu lebenslanger Haft verurteilten Gefangene entspricht, ist es erstens notwendig, dass eine Einschätzung der Bedürfnisse dieser Gefangenen betreffend die Behandlung zur Erleichterung ihrer Resozialisierung und Reduktion der Rückfallgefahr erfolgt. [...] Da solche Gefangenen sich des Bedarfs nach einer Behandlung vielleicht nicht ausreichend bewusst sind, sollte diese Einschätzung unabhängig davon vorgenommen werden, ob ein Wunsch nach einer Behandlung geäußert wurde. Wenn die Beurteilung zur Schlussfolgerung führt, dass eine bestimmte Behandlung oder Therapie dem zu lebenslanger Haft verurteilten Gefangenen tatsächlich helfen kann, sich selbst zu resozialisieren, muss es ihm ermöglicht werden, diese Behandlung in dem innerhalb der Zwänge des Gefängniskontexts möglichen Ausmaß zu erhalten. Dies ist besonders wichtig, wenn die Behandlung praktisch eine Voraussetzung für die mögliche zukünftige Geeignetheit des Gefangenen für eine Entlassung darstellt und daher ein wesentlicher Aspekt der de facto Herabsetzbarkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe ist.

(110) Im Allgemeinen wird es Sache des Staates sein zu entscheiden [...], welche Einrichtungen, Maßnahmen oder Behandlungen erforderlich sind, um es einem zu lebenslanger Haft verurteilten Gefangenen zu ermöglichen, sich so zu resozialisieren, dass er für eine Entlassung geeignet ist. Bei der Wahl dieser Maßnahmen haben die Staaten folglich einen weiten Ermessensspielraum [...].

(111) Ein Staat wird folglich seinen Verpflichtungen nach Art. 3 EMRK nachgekommen sein, wenn er für Haftbedingungen und Einrichtungen, Maßnahmen und Behandlungen gesorgt hat, die einen zu lebenslanger Haft verurteilten Gefangenen in die Lage versetzen, sich selbst zu resozialisieren, selbst wenn es diesem Gefangenen nicht gelungen ist, ausreichende Fortschritte zu machen, [...] um für eine Entlassung in Frage zu kommen. In diesem Zusammenhang erinnert der GH an die positive Verpflichtung von Staaten, Maßnahmen zu ergreifen, um die Öffentlichkeit vor Gewaltstraftaten zu schützen [...]. Staaten können diese positive Verpflichtung, die Öffentlichkeit zu schützen, erfüllen, indem sie zu lebenslanger Haft verurteilte Gefangene solange inhaftieren, wie sie gefährlich bleiben.

(112) Zusammenfassend müssen zu lebenslanger Haft verurteilte Gefangene unter solchen Bedingungen inhaftiert werden und muss ihnen eine solche Behandlung gewährt werden, dass sie eine realistische Gelegenheit bekommen, sich selbst zu resozialisieren, um Hoffnung auf Entlassung zu haben. Das Versäumnis, einem zu lebenslanger Haft verurteilten Gefangenen eine solche Gelegenheit zu geben, kann folglich die lebenslange Freiheitsstrafe de facto unreduzierbar machen.

Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall

(113) Der GH wird sich nun der Frage zuwenden, ob die über den Bf. verhängte lebenslange Freiheitsstrafe herabsetzbar war. [...]

(115) [Dabei] wird der GH erwägen, ob das behauptete Fehlen einer psychiatrischen oder psychologischen Behandlung dem Bf. praktisch jede Aussicht auf Entlassung nahm.

(116) Bei seiner Beurteilung wird sich der GH auf die Situation des Bf. seit der Zeit konzentrieren, zu der er 2010 seine Beschwerde erhob. Er kann jedoch nicht die Tatsache aus den Augen verlieren, dass selbiger zu dieser Zeit bereits rund 30 Jahre inhaftiert war. In diesem Zusammenhang stellt der GH fest, dass die Ablehnungen der verschiedenen Ersuchen des Bf. um Begnadigung unter anderem auf die Einschätzung gestützt waren, dass die Rückfallgefahr, die bei ihm angenommen wurde, weiterhin bestand. In den späteren Jahren seiner Anhaltung wurde dies tatsächlich der einzige Grund für die Weigerung, ihm in irgendeiner Form eine Entlassung zu gewähren. [...]

(117) [...] Im Zuge des gegen ihn geführten Strafverfahrens wegen Mordes wurde der Bf. 1979 von einem Psychiater untersucht, der ihn als zurückgebliebenen, infantilen und narzisstischen jungen Mann beschrieb, dessen Charakter eine schwere Störung psychopathischer Art habe. Der Psychiater empfahl, ihn über einen längeren Zeitraum institutionell zu behandeln oder im Gefängnisumfeld zu versuchen, eine stärkere Persönlichkeitsstruktur zu erreichen, um einen Rückfall zu vermeiden. Aufgrund der Tatsache, dass auf den Niederländischen Antillen keine Unterbringung in einer geschlossenen Klinik angeordnet werden konnte – weil das anwendbare Recht eine solche Maßnahme nicht vorsah – und aufgrund der Überlegung, dass die Unterbringung in einer solchen Klinik im europäischen Teil des Königtums nicht durchführbar war, verhängte der Gemeinsame Gerichtshof der Niederländischen Antillen am 11.3.1980 eine lebenslange Freiheitsstrafe über den Bf. Seine Inhaftierung in einem Gefängnis statt in einer geschlossenen Klinik konnte allerdings nach Ansicht des GH nichts an der Notwendigkeit der empfohlenen Behandlung ändern. Der GH kann auch nicht akzeptieren, dass bloß weil die über den Bf. verhängte Strafe keine Behandlung vorschrieb, die Regierung in dieser Hinsicht während der Dauer seiner Anhaltung keine Verpflichtung getroffen hätte. [...]

(118) Die Behauptung des Bf., während der Zeit seiner Inhaftierung nie irgendeine Behandlung seines psychischen Zustands erhalten zu haben, wird durch Berichte des CPT über Besuche der Gefängnisse auf Curaçao und Aruba, in denen der Bf. inhaftiert war, unterstützt [...]. Sie wird außerdem durch die Verfahrensakte eindeutig untermauert [...].

(119) Tatsächlich bestritt die Regierung nicht, dass der Bf. keine eigentliche Behandlung erhalten hatte, sondern betonte, dass er während seiner Inhaftierung auf Curaçao eine gewisse psychiatrische Hilfe erhalten hatte, auf die er mit seinem Antrag auf Verlegung nach Aruba verzichtet hätte, wo zumindest während der ersten Jahre seiner dortigen Inhaftierung sehr beschränkte Unterstützungsmöglichkeiten bestanden. Doch selbst wenn anerkannt wird, dass eine gewisse medizinische Grundversorgung für den Bf. verfügbar war, bleibt zu prüfen, ob dies ausreichend war, um der Verpflichtung der belangten Regierung zu genügen, dem Bf. die Möglichkeit zu bieten, sich selbst zu resozialisieren.

(120) In diesem Zusammenhang bemerkt der GH zunächst, dass der Grundsatz der Resozialisierung von Gefangenen zumindest seit 1999 im anwendbaren innerstaatlichen Recht ausdrücklich anerkannt war [...]. Den Berichten zufolge änderte sich der Bf. im Lauf der Jahre: Während er in den ersten Jahren seiner Inhaftierung auf Curaçao als problematischer Häftling beschrieben werden kann, besserte er sein Verhalten während seiner Inhaftierung auf Aruba wesentlich.

(121) Dennoch wurde während seiner Inhaftierung die Gefahr eines Rückfalls des Bf. als zu groß angesehen, um seine Begnadigung oder seine bedingte Entlassung [...] in Betracht zu ziehen. [...] Der Gemeinsame Gerichtshof für die Niederländischen Antillen hielt in seiner Stellungnahme an den Gouverneur von Curaçao betreffend das Ersuchen um Begnadigung [von 1997] fest, dass sich der Bf. keiner (psychiatrischen) Behandlung zur Stärkung seiner Persönlichkeitsstruktur zur Vermeidung eines Rückfalls unterzogen hatte. Schließlich [...] stellte der Gemeinsame Gerichtshof in seiner Entscheidung vom 21.9.2012 nach der periodischen Überprüfung der lebenslangen Freiheitsstrafe des Bf. fest, dass wichtige Aspekte seiner gestörten Persönlichkeit, aufgrund derer ursprünglich ein hohes Risiko eines Rückfalls angenommen wurde, nach wie vor bestanden, und dass während der Jahre seiner Inhaftierung keine Behandlung erfolgt war. Obwohl der Gemeinsame Gerichtshof feststellte, dass die Inhaftierung des Bf. nach 33 Jahren nicht länger dem Zweck der Vergeltung diente, erachtete er die fortgesetzte Anhaltung als notwendig, um die Öffentlichkeit zu schützen, da die Gefahr eines Rückfalls zu groß blieb, um seine Entlassung zu erlauben.

(122) Aus den [...] genannten Entscheidungen des Gemeinsamen Gerichtshofs für die Niederländischen Antillen geht klar hervor, dass im vorliegenden Fall eine enge Verbindung zwischen dem Fortbestehen der Gefahr eines Rückfalls des Bf. [...] und dem Fehlen einer Behandlung [...] existierte. Wie der GH zudem feststellt, war den Behörden bekannt, dass eine Behandlung empfohlen worden war und dass der Bf. keine erhalten hatte.

(123) Der Bf. befand sich somit in einer Situation, in der er wegen der Gefahr eines Rückfalls nicht als für eine Begnadigung oder Entlassung geeignet angesehen wurde, während das Fortbestehen dieser Gefahr mit der Tatsache zusammenhing, dass keine Einschätzung von Behandlungsbedarf und -möglichkeiten vorgenommen und keine bestimmte Form einer Behandlung mit Blick auf seine Resozialisierung zur Verfügung gestellt wurde. Folglich war eine Behandlung für den Bf. in der Praxis eine Voraussetzung für die Möglichkeit, Fortschritte hinsichtlich einer Resozialisierung zu machen, was das Risiko seines Rückfalls herabgesetzt hätte. Es ging somit um eine Frage der de facto-Herabsetzbarkeit seiner lebenslangen Freiheitsstrafe.

(124) [...] Es ist nicht Sache des GH vorzuschreiben, welche Behandlung unter den konkreten Umständen geboten war. Im vorliegenden Fall wurde aber offensichtlich, obwohl ursprünglich [...] ein Behandlungsbedarf festgestellt worden war, keine weitere Beurteilung der Art der Behandlung, die geboten war und zur Verfügung gestellt werden konnte, oder der Eignung und des Willens des Bf., sich einer solchen zu unterziehen, vorgenommen – sei es bei Strafantritt oder danach. Nach Ansicht des GH ist der Tatsache, dass sich der Bf. selbst offenbar nicht mit der Beschaffung einer Behandlung befasste und es vorzog, von Curaçao nach Aruba – wo die Verfügbarkeit psychiatrischer Hilfe (noch stärker) eingeschränkt war – verlegt zu werden, allenfalls eine sehr geringe Bedeutung beizumessen. [...]

(125) Angesichts des oben Gesagten stellt der GH fest, dass das Fehlen irgendeiner Behandlung oder zumindest einer Einschätzung von Behandlungsbedarf und -möglichkeiten bedeutete, dass zu der Zeit, als der Bf. seine Beschwerde an den GH erhob, jedes Ersuchen um Begnadigung in der Praxis ungeeignet war, zur Schlussfolgerung zu führen, er hätte so bedeutende Fortschritte in Hinblick auf seine Resozialisierung gemacht, dass seine fortgesetzte Inhaftierung nicht länger einem Strafzweck dienen würde. Diese Feststellung gilt gleichermaßen für die erste – und einzige – periodische Überprüfung der lebenslangen Freiheitsstrafe des Bf. Dies führt den GH zur Schlussfolgerung, dass die lebenslange Freiheitsstrafe des Bf. nicht wie von Art. 3 EMRK verlangt de facto herabsetzbar war.

(127) Dementsprechend hat eine Verletzung von Art. 3 EMRK stattgefunden (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten der Richter Silvis und Pinto de Albuquerque).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung dar (12:5 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richter Spielmann, Sajó und Pinto de Albuquerque und der Richterin Karakas); € 27.500,– an den Sohn und die Schwester des Bf. für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Kafkaris/CY v. 12.2.2008 (GK) = NL 2008, 24

Maiorano u.a./I v. 15.12.2009 = NL 2009, 365

Vinter u.a./GB v. 9.7.2013 (GK) = NLMR 2013, 241

Harakchiev und Tolumov/BG v. 8.7.2014

Trabelsi/B v. 4.9.2014 = NLMR 2014, 383

Khoroshenko/RUS v. 30.6.2015 (GK) = NLMR 2015, 228

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 26.4.2016, Bsw. 10511/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 110) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_2/Murray.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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