JudikaturJustiz9Ob53/06v

9Ob53/06v – OGH Entscheidung

Entscheidung
12. Juli 2006

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling, Dr. Hradil, Dr. Hopf und Univ. Doz. Dr. Bydlinski als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R***** reg GenmbH, *****, vertreten durch Dr. Anton Bauer, Rechtsanwalt in Klosterneuburg, gegen die beklagte Partei Eva M*****, Angestellte, *****, wegen EUR 8.691,12 sA, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts Leoben als Berufungsgericht vom 6. März 2006, GZ 1 R 66/06g, 1 R 67/06d-30, womit das Versäumungsurteil des Bezirksgerichts Liezen vom 9. November 2005, GZ 2 C 1638/05d-19, aufgehoben wurde (Pkt II.), in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit EUR 665,66 (darin EUR 110,94 USt) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

Nach rechtzeitiger Erhebung des Einspruchs der Beklagten gegen den im vorliegenden Verfahren erlassenen Zahlungsbefehl des Bezirksgerichts Mödling vom 25. 4. 2005 beantragte die Beklagte mit Eingabe vom 1. 9. 2005, die am 2. 9. 2005 bei Gericht einlangte, die Bewilligung der Verfahrenshilfe. Mit Beschluss vom 8. 9. 2005 übertrug das Bezirksgericht Mödling die Rechtssache auf Grund übereinstimmend beantragter Delegierung an das Bezirksgericht Liezen. Das Bezirksgericht Liezen (in der Folge Erstgericht) beraumte für den 9. 11. 2005 die vorbereitende Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung an, ohne vorerst den noch offenen Verfahrenshilfeantrag der Beklagten zu beachten. In der Ladung wies es die Beklagte ausdrücklich darauf hin, dass unbedingt ein Rechtsanwalt einschreiten müsse; sollte die Beklagte ohne Rechtsanwalt kommen, gelte sie als nicht erschienen und es würde ein Versäumungsurteil ergehen. Mit Eingabe vom 6. 11. 2005 beantragte die Beklagte erneut die Bewilligung der Verfahrenshilfe und wies darauf hin, dass sie zufolge derzeitiger Karenz einkommenslos und daher nicht in der Lage sei, die zu erwartenden Vertretungskosten durch einen Rechtsanwalt aus eigenen Mitteln zu bedienen. Auch diese Eingabe blieb vom Erstgericht vorerst unbearbeitet. Am 9. 11. 2005 erließ das Erstgericht über Antrag der allein erschienenen Klägerin gegen die der Tagsatzung ferngebliebene Beklagte ein klagestattgebendes Versäumungsurteil. Mit Eingabe vom 15. 11. 2005 wies die Beklagte innerhalb der Berufungsfrist auf ihren Verfahrenshilfeantrag vom 6. 11. 2005 hin und beantragte, das Versäumungsurteil für nichtig zu erklären. Mit Beschluss vom 16. 11. 2005 erteilte das Erstgericht der Beklagten einen umfassenden Verbesserungsauftrag hinsichtlich ihres Verfahrenshilfeantrags vom 6. 11. 2005. Mit Beschluss vom 13. 12. 2005 bewilligte es schließlich der Beklagten die Verfahrenshilfe in vollem Umfang. Über Berufung der Beklagten gegen das Versäumungsurteil vom 9. 11. 2005 hob das Berufungsgericht das Versäumungsurteil als nichtig auf und trug dem Erstgericht die Verfahrensfortsetzung und die neuerliche Entscheidung auf. Verfahrenshilfeanträge zählten zu jenen dringenden Angelegenheiten, die gemäß § 110 Abs 1 Geo vom Gericht sogleich zu erledigen seien. Das Versäumungsurteil sei nichtig gemäß § 477 Abs 1 Z 4 ZPO, weil das Erstgericht den Verfahrenshilfeantrag der Beklagten vom 1. 9. 2005 erst mehr als zwei Monate nach der Antragstellung und überdies erst nach der Tagsatzung vom 9. 11. 2005 einer Bearbeitung zugeführt habe. Durch dieses gesetzwidrige Untätigbleiben des Erstgerichts habe die infolge absoluter Anwaltspflicht postulationsunfähige Beklagte keine Möglichkeit gehabt, sich am Verfahren zu beteiligen und das Versäumungsurteil abzuwenden. Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei gemäß § 519 Abs 2 ZPO zuzulassen, weil eine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob ein Versäumungsurteil nichtig sei, wenn es erlassen werde, ohne dass vorher über einen rund zwei Monate vor der Tagsatzung gestellten Verfahrenshilfeantrag entschieden werde. Gegen diese Entscheidung richtet sich das - ungeachtet seiner fälschlichen Bezeichnung „Revision" bzw „Revisionsrekurs" - als Rekurs zu qualifizierende Rechtsmittel der Klägerin mit dem Antrag, das erstgerichtliche Versäumungsurteil wiederherzustellen. Die Beklagte beantragt in ihrer (fälschlich als „Revisionsrekursbeantwortung" bezeichneten) Rekursbeantwortung die Zurückweisung des Rechtsmittels der Klägerin; hilfsweise dessen „Abweisung".

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs der Klägerin ist zwar zulässig, er ist jedoch im Ergebnis nicht berechtigt.

Die Rechtslage stellt sich zusammenfassend wie folgt dar:

Vor den Bezirksgerichten besteht in Sachen, deren Streitwert an Geld oder Geldeswert EUR 4.000 übersteigt, absolute Anwaltspflicht, dh die Parteien müssen sich durch Rechtsanwälte vertreten lassen (§ 27 Abs 1 ZPO). Dies gilt jedoch nicht für die Erhebung des Einspruchs im bezirksgerichtlichen Mahnverfahren (§ 448 Z 1 ZPO) bzw bei Handlungen in Bezug auf die Verfahrenshilfe (§ 72 Abs 3 ZPO); insoweit bedarf es nicht der Vertretung durch einen Rechtsanwalt. Bleibt eine der Parteien von einer Tagsatzung aus, bevor sie sich durch mündliches Vorbringen zur Hauptsache in den Streit eingelassen hat, so ist auf Antrag der erschienenen Partei ein Versäumungsurteil nach § 396 ZPO zu fällen (§ 442 ZPO). Die Tagsatzung ist von einer Partei versäumt, wenn die Partei zu der für die Tagsatzung anberaumten Zeit nicht erscheint (§ 133 Abs 2 ZPO). Als versäumt gilt die Tagsatzung auch dann, wenn die Partei bei denjenigen Prozesshandlungen, für welche die Beiziehung eines Rechtsanwalts im Gesetz vorgeschrieben ist, ohne Rechtsanwalt erscheint (§ 133 Abs 3 ZPO).

Verfahrenshilfe ist einer Partei so weit zur Gänze oder zum Teil zu bewilligen als sie außerstande ist, die Kosten der Führung des Verfahrens ohne Beeinträchtigung des notwendigen Unterhalts zu bestreiten, und die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht als offenbar mutwillig oder aussichtslos erscheint (§ 63 Abs 1 ZPO). Die Verfahrenshilfe kann für einen bestimmten Rechtsstreit auch die vorläufig unentgeltliche Beigebung eines Rechtsanwalts umfassen, sofern die Vertretung durch einen Rechtsanwalt gesetzlich geboten ist oder sie nach der Lage des Falls erforderlich erscheint (§ 64 Abs 1 Z 3 ZPO). Über den Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe hat stets das Prozessgericht erster Instanz zu entscheiden (§ 65 Abs 2 ZPO). Der Beschluss ist ohne mündliche Verhandlung zu fassen, sofern das Prozessgericht eine solche nicht zur Erörterung ihm erheblich scheinender Tatsachen für erforderlich hält (§ 72 Abs 1 ZPO).

Der vom Berufungsgericht (gestützt auf LG Krems/Donau in RIS-Justiz RKR0000013) angenommene Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 4 ZPO setzt voraus, dass einer Partei „die Möglichkeit, vor Gericht zu verhandeln, durch ungesetzlichen Vorgang, insbesondere durch Unterlassung der Zustellung, entzogen wurde". Derartiges kann hier jedoch nicht angenommen werden. Wenn die ordnungsgemäße Ladung der Partei ausgewiesen ist, liegt bei ihrem Fernbleiben ein gesetzlicher Versäumnistatbestand vor (§§ 133, 442 ZPO), der der Annahme einer Nichtigkeit iSd § 477 Abs 1 Z 4 ZPO entgegensteht (vgl 4 Ob 71/81, SZ 54/105 ua). Durch die bloße Nichterledigung des Verfahrenshilfeantrags wird dem Antragsteller ebenso wenig „die Möglichkeit" genommen, vor Gericht zu verhandeln (§ 477 Abs 1 Z 4 ZPO), wie durch die ausdrückliche Ablehnung eines - vielleicht berechtigten - Antrags (vgl 4 Ob 71/81, SZ 54/105 ua). Fehlt aber nur eine der Voraussetzungen des § 477 Abs 1 Z 4 ZPO, dann ist dieser Nichtigkeitsgrund nicht gegeben (RIS-Justiz RS0042202 ua). Das Verfahren über die Erteilung der Verfahrenshilfe ist ein Zwischenverfahren, das den Gang des Hauptverfahrens nicht verzögern darf (1 Ob 680/90 ua). Auch wenn der Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe die Parteien nicht berechtigt, die Einlassung in den Rechtsstreit oder die Fortsetzung der Verhandlung zu verweigern oder die Erstreckung von Fristen oder die Verlegung von Tagsatzungen zu begehren (§ 73 Abs 1 ZPO), so heißt dies nicht, dass die Behandlung eines Verfahrenshilfeantrags im Belieben des Gerichts steht. Nach der Rechtsprechung begründet die Fällung eines Versäumungsurteils ohne vorherige Erledigung eines allfälligen Erstreckungsantrags zwar keine Nichtigkeit iSd § 477 Abs 1 Z 4 ZPO, wohl aber einen wesentlichen Verfahrensmangel nach § 496 Abs 1 Z 2 ZPO (Pimmer in Fasching/Konecny IV/1² § 477 Rz 49 mwN; 4 Ob 71/81, SZ 54/105; RIS-Justiz RS0036610 ua). Ähnliche Überlegungen können auch hier angestellt werden. Die Partei soll durch die notwendig gewordene Bewilligung der Verfahrenshilfe keine Säumnisfolgen und Rechtsnachteile in Ansehung befristeter Prozesshandlungen erleiden (Schutzprinzip; Fasching, Ergänzungsband § 73 ZPO Anm 4). Wie der Oberste Gerichtshof zu 1 Ob 680/90 klargestellt hat, dürfen vom Gericht zu vertretende Verzögerungen in der Beschlussfassung über den Verfahrenshilfeantrag dem Antragsteller nicht zum Nachteil gereichen. Es gilt bereits allgemein, dass der Richter die bei Gericht anhängigen Angelegenheiten so rasch wie möglich zu erledigen hat (§ 57 Abs 1 RDG). Die eingelaufenen Stücke und die bei Gericht aufgenommenen Protokolle sind, wenn sie dringende Angelegenheiten (zB Haftsachen) betreffen, sogleich, sonst so rasch als es die Geschäftslage gestattet, zu erledigen. Gleich aber, ob nun Verfahrenshilfeanträge zu den "dringenden Angelegenheiten" iSd § 110 Abs 1 Geo zählen, die sogleich zu erledigen sind (Danzl, Geo § 110 Anm 3), oder ob sie jedenfalls so rasch zu erledigen sind, als es die Geschäftslage gestattet (M. Bydlinski in Fasching II/1² § 73 Rz 2), kann hier kein Zweifel bestehen, dass zwischen der ersten Antragstellung der Beklagten vom 1. 9. 2005 und der vorbereitenden Tagsatzung vom 9. 11. 2005, die schließlich zum Versäumungsurteil gegen die Beklagte führte, für das Erstgericht hinreichend Zeit lag, den Verfahrenshilfeantrag der Beklagten in Behandlung zu ziehen. Auch das Verbesserungsverfahren hinsichtlich des Antrags, das nach dem 9. 11. 2005 stattfand, wäre in diesem Zeitraum unterzubringen gewesen. Ist das Gericht aber wie im vorliegenden Fall aus Gründen, die ausschließlich in seiner Sphäre liegen, außerstande, einen Verfahrenshilfeantrag zu behandeln, dann hat es die bevorstehende Tagsatzung gemäß § 134 Abs 1 Z 1 ZPO von Amts wegen zu verlegen, wenn sich dem rechtzeitigen Erscheinen der Verfahrenshilfe (einschließlich der Beigebung eines Rechtsanwalts) beantragenden Partei ein zumindest sehr erhebliches Hindernis entgegenstellt und die Partei ohne Verlegung einen nicht wieder gut zu machenden Schaden erleiden würde (vgl M. Bydlinski aaO § 73 Rz 2).

Die Überlegungen der Rekurswerberin, die Beklagte hätte zur Tagsatzung erscheinen und selbst eine Erstreckung der Tagsatzung beantragen müssen, übergehen sowohl § 73 Abs 1 ZPO als auch die absolute Anwaltspflicht nach § 27 Abs 1 ZPO. Es bedarf entgegen ihrer Auffassung auch nicht der "nachhaltigen Fortbetreibung" eines einmal gestellten Verfahrenshilfeantrags. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Tagsatzung stellt für die von der Untätigkeit des Gerichts betroffene Partei schon in Anbetracht der Kostenfolgen (§ 154 ZPO) eine nur unvollkommene Alternative dar. Hat die Partei alles getan, was vernünftigerweise von ihr verlangt werden kann, führt aber das Gericht trotz eigener Säumnis bei der Behandlung des Verfahrenshilfeantrags die Tagsatzung durch, ohne sie von Amts wegen zu verlegen, dann leidet das erlassene Versäumungsurteil an einem wesentlichen Verfahrensmangel nach § 496 Abs 1 Z 2 ZPO. Der Berufungsentscheidung, die dieses Versäumungsurteil aufhob und dem Erstgericht die Verfahrensfortsetzung und neuerliche Entscheidung auftrug, ist daher im Ergebnis beizupflichten. Dem unbegründeten Rekurs der Klägerin muss ein Erfolg versagt bleiben.

Die Entscheidung über die Kosten des Rekursverfahrens beruht auf den §§ 41, 50 Abs 1 ZPO.

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