JudikaturJustiz8Ob34/22s

8Ob34/22s – OGH Entscheidung

Entscheidung
24. Oktober 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann Prentner und Mag. Korn sowie die Hofräte Dr. Stefula und Dr. Thunhart als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M* B*, vertreten durch Mag. Maximilian Kocher, Rechtsanwalt in Brunn am Gebirge, als gerichtlich bestellter Erwachsenenvertreter, gegen die beklagte Partei G* B*, vertreten durch Dr. Walter Schuhmeister, Mag. Franz Haydn, Rechtsanwälte in Schwechat, wegen Wiederaufnahme, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Berufungsgericht vom 17. Jänner 2022, GZ 16 R 317/21p 41, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Mödling vom 8. September 2021, GZ 2 C 37/20k 36, einschließlich des vorangegangenen Verfahrens als nichtig aufgehoben wurde und die Klage zurückgewiesen wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der Beschluss des Berufungsgerichts wird einschließlich seiner Kostenentscheidung aufgehoben und in der Sache die Entscheidung des Erstgerichts wieder hergestellt.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Kosten des Verfahrens in der Hauptsache.

Text

Begründung:

[1] Die Streitteile sind in aufrechter Ehe miteinander verheiratet, leben jedoch seit Jänner 2010 getrennt.

[2] Im wiederaufzunehmenden Verfahren des Erstgerichts beantragte die Klägerin, den Beklagten zur Zahlung von 180 EUR monatlich ab 1. 12. 2015 an Ehegattenunterhalt zu verpflichten. Sie brachte vor, der Beklagte beziehe monatliche Pensionseinkünfte von ungefähr 2.000 EUR netto, während ihr eigenes Einkommen 1.020,06 EUR netto betrage. Bei einem Familieneinkommen von somit rund 3.000 EUR sei der begehrte Unterhaltsbeitrag angemessen.

[3] Das Erstgericht stellte aufgrund der vom Beklagten vorgelegten Nachweise sein Einkommen im Jahr 2015 mit monatlich 1.464,17 EUR netto aus einer Berufsunfähigkeitspension der PVA fest. Darauf gegründet verneinte es unter Berücksichtigung des eigenen Einkommens der Klägerin den Anspruch auf einen Unterhaltsbeitrag und wies die Klage mit Urteil vom 19. 10. 2016 rechtskräftig ab.

[4] Durch ein Schreiben der Pensionsversicherungsanstalt vom 3. 9. 2018 erfuhr der Klagevertreter, dass der Beklagte neben der Berufsunfähigkeitspension aufgrund der Folgen eines 2006 erlittenen Arbeitsunfalls auch eine Versehrtenrente der AUVA beziehe. Er stellte daraufhin Nachforschungen an, die zur Bestätigung eines Rentenbezugs ab 1. 1. 2018 in Höhe von monatlich 1.820,55 EUR netto 14 x jährlich führten. Eine Auskunft über allfällige Versehrtenrentenansprüche in der Zeit davor erhielt der Klagevertreter weder vom Beklagten, noch von der AUVA, die sich auf ihre Datenschutzpflicht berief.

[5] Aufgrund dieser Information erhob die Klägerin eine neuerliche Klage auf Zuerkennung von Ehegattenunterhalt ab 1. 1. 2018 (2 C 9/20t des Erstgerichts). In diesem Verfahren gestand der Beklagte bei seiner Einvernahme am 17. 9. 2020 zu, die Versehrtenrente bereits seit 2009 bezogen zu haben. Er sei im Vorprozess davon ausgegangen, dass dies für die Unterhaltsbemessung nicht relevant wäre.

[6] Mit ihrer am 8. 10. 2020 eingebrachten, auf § 530 Abs 1 Z 3 und 7 ZPO gestützten Wiederaufnahmsklage begehrt die Klägerin, das zu GZ 2 C 67/15i des Bezirksgerichtes Mödling ergangene Urteil vom 19. 10. 2016 aufzuheben und im wiederaufgenommenen Verfahren den Beklagten zu den eingeklagten monatlichen Unterhaltsbeträgen von 180 EUR ab 1. 12. 2015 bis 31. 12. 2017 zu verpflichten. Eine Ausdehnung des Klagebegehrens werde vorbehalten.

[7] Der Beklagte habe im wiederaufzunehmenden Verfahren in Missachtung des gerichtlichen Auftrags für 2015 und 2016 lediglich Nachweise über die Höhe seiner Berufsunfähigkeitspension vorgelegt, aber die bereits damals bezogene Versehrtenrente verschwiegen. Erst am 17. 9. 2020 hätten die Klägerin und ihr Vertreter durch die Aussage des Beklagten im Verfahren 2 C 9/20t davon erfahren.

[8] Der Rentenbezug des Beklagten sei eine neu hervorgekommene Tatsache, deren Vorbringen im Vorprozess eine für die Klägerin günstigere Entscheidung bewirkt hätte. Bei Feststellung des tatsächlichen Einkommens des Beklagten wäre dem Klagebegehren im Vorprozess stattgegeben worden.

[9] Weder die Klägerin noch den Klagevertreter treffe daran, dass ihnen erst am 17. 9. 2020 der Zeitraum des Bezugs der Unfallrente bekannt wurde, ein Verschulden. Die Klägerin selbst sei vom Beklagten nicht informiert worden, und wäre aufgrund ihrer psychischen Krankheit auch nicht in der Lage gewesen, die Zusammenhänge zu erkennen. Der Klagevertreter habe nach den erhaltenen Auskünften davon ausgehen müssen, dass der Beklagte erst seit 1. 1. 2018 eine Unfallrente beziehe. Die Frist für die Klage auf Wiederaufnahme sei daher am 17. 9. 2020 in Gang gesetzt worden und bei Klagseinbringung am 8. 10. 2020 noch offen gewesen.

[10] Das Erstgericht bewilligte die Wiederaufnahme des Verfahrens 2 C 67/15i aus dem Grund des § 530 Abs 1 Z 7 ZPO und hob das Urteil vom 19. 10. 2016 auf.

[11] Das Berufungsgericht hob mit dem angefochtenen Beschluss aus Anlass der Berufung der beklagten Partei das Urteil des Erstgerichts und das diesem vorangegangene Verfahren als nichtig auf und wies die Wiederaufnahmsklage zurück.

[12] Es übernahm nach Prüfung der Beweisrüge des Berufungswerbers die erstgerichtlichen Feststellungen und kam darauf gegründet zu dem rechtlichen Ergebnis, dass mit dem Klagsvorbringen kein gesetzlicher Wiederaufnahmsgrund geltend gemacht werde. Der Streitgegenstand der Wiederaufnahmsklage sei nicht mit dem des Vorverfahrens ident, das lediglich den PVA-Pensionsbezug des Beklagten umfasst habe. Der Anspruch auf ein erhöhtes Unterhaltsbegehren aufgrund eines tatsächlich höheren Einkommens könne mit einer weiteren Klage geltend gemacht werden, ohne dass eine Streitanhängigkeit im Vorprozess oder die Rechtskraft der ergangenen Entscheidung dem entgegenstünden. Die Voraussetzungen für den Wiederaufnahmegrund gemäß § 530 Abs 1 Z 3 ZPO lägen ebenfalls nicht vor, weil die zuständige Staatsanwaltschaft von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Beklagten mangels hinreichenden Tatverdachts Abstand genommen habe.

[13] Dagegen richtet sich der Rekurs der Wiederaufnahmsklägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Voraussetzungen des § 530 Abs 1 Z 7 ZPO, mit dem Antrag, den Beschluss des Berufungsgerichts aufzuheben und das Ersturteil wieder herzustellen. Der Wiederaufnahmsbeklagte strebt in seiner Rekursbeantwortung die Bestätigung der angefochtenen Entscheidung an.

Rechtliche Beurteilung

[14] Der Rekurs ist zulässig. Wenn das Berufungsgericht unter Nichtigerklärung des erstinstanzlichen Verfahrens und des Urteils die Klage zurückweist, ist sein Beschluss gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO stets, also unabhängig vom Streitwert und vom Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage, anfechtbar (RIS Justiz RS0043882; ua Zechner in Fasching/Konecny ZPO³ IV/1 § 519 Rz 1 ).

[15] Der Rekurs ist auch berechtigt.

[16] 1 . Eine Wiederaufnahme wegen neu aufgefundener Beweismittel kommt nur dort in Frage, wo im Hauptprozess eine bestimmte Tatsache zwar behauptet wurde, aber nicht bewiesen werden konnte, und die neu aufgefundenen Beweismittel eben den Beweis dieser Tatsache erbringen sollen (RS0040999).

[17] Die Wiederaufnahme gemäß § 530 Abs 1 Z 7 ZPO steht mit der Präklusionswirkung der Rechtskraft in untrennbare m Zusammenhang. Sie setzt voraus, dass die Tatsache zum sachlichen Fundament des Vorprozesses, nämlich zum rechtserzeugenden Sachverhalt, gehört und von der Präklusionswirkung der dort getroffenen Entscheidung umfasst ist (vgl Jelinek in Fasching/Konecny ³ IV/1 § 530 ZPO Rz 141).

[18] Das hier wiederaufzunehmende Verfahren war auf das Tatsachenvorbringen gegründet, dass der Beklagte ein monatliches (Pensions )Nettoeinkommen von rund 2.000 EUR beziehe. Wäre dieser behauptete Sachverhalt – und nicht nur ein Einkommen von rund 1.464 EUR – als bewiesen festgestellt worden, hätte sich daraus rechtlich ein Unterhaltsanspruch zugunsten der Klägerin ergeben. Der hier geltend gemachte Wiederaufnahmegrund geht damit keineswegs über den Streitgegenstand des Vorprozesses hinaus, sondern betrifft die vollständige (anstatt nur teilweise) Beweisbarkeit des dort erstatteten rechtserzeugenden Tatsachenvorbringens.

[19] Die vom Berufungsgericht zitierten Entscheidungen (1 Ob 217/75; 4 Ob 51/11w) sind nicht einschlägig. Ihnen liegt jeweils ein Sachverhalt zugrunde, in dem im wiederaufzunehmenden Verfahren der begehrte Betrag bereits zur Gänze zugesprochen wurde. In diesen Fällen wäre aber eine günstigere Entscheidung iSd § 530 Abs 1 Z 7 ZPO im wiederaufzunehmenden Verfahren gar nicht möglich gewesen. Der Geltendmachung einer im Vorprozess noch nicht erhobenen Forderung mit neuer Klage stand auch keine Bindungswirkung der Vorentscheidung entgegen.

[20] Im vorliegenden Wiederaufnahmsverfahren geht es nicht um ein neues Begehren, sondern gerade um das abgewiesene Hauptbegehren der Klägerin im wiederaufzunehmenden Verfahren. Der Gegenstand und das Begehren des wiederaufzunehmenden Verfahrens werden durch die Bewilligung der Wiederaufnahme nicht verändert. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts war der rechtserzeugende Sachverhalt dieses Verfahrens, ein behauptetes Nettoeinkommen des Beklagten von 2.000 EUR, auch wenn auf eine „Pension“ Bezug genommen wurde, nicht auf die Berufsunfähigkeitspension eingeschränkt, sondern es konnte damals nur dieses Einkommen bewiesen werden.

[21] 2. Zur Klarstellung ist auch auf den in der Berufung erhobenen, aber in der Rekursbeantwortung nicht mehr relevierten Einwand der Verfristung der Wiederaufnahmsklage einzugehen.

[22] Die Frist des § 534 Abs 2 Z 4 ZPO beginnt erst, wenn der Wiederaufnahmskläger die neuen Beweismittel so weit kennt, dass er ihre Eignung für ein allfälliges Verfahren auch prüfen kann; der Wiederaufnahmskläger muss in der Lage sein, einen formgerechten und inhaltsgerechten Beweisantrag zu stellen (RS0044635 [T1]). Allein die Kenntnis, dass ein Beweismittel vorhanden ist, das allenfalls zugunsten des eigenen Standpunktes sprechen könnte, verpflichtet noch nicht zur Erhebung einer Wiederaufnahmsklage bei sonstiger Verfristung (RS0044635 [T8]; RS0044646).

[23] Für den Beginn der Frist des § 534 Abs 2 Z 4 ZPO ist ferner nur die tatsächliche Kenntnis maßgeblich. Eine fahrlässige Unkenntnis iSd § 530 Abs 2 ZPO löst nicht die Klagefrist aus, sondern ist nur soweit beachtlich, als sie die Geltendmachung der Tatsache oder des Beweismittels im Hauptprozess verhinderte (2 Ob 207/15b; Jelinek in Fasching/Konecny ³ IV/1 § 534 ZPO Rz 31).

[24] Nach den für den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellungen haben die Klägerin und deren Vertreter am 17. 9. 2020 durch die gerichtliche Aussage des Beklagten Kenntnis erlangt, dass er nicht erst ab 1. 1. 2018, sondern schon im maßgeblichen Zeitraum des wiederaufzunehmenden Verfahrens eine Versehrtenrente bezogen hat. Die bereits am 8. 10. 2020 eingebrachte Wiederaufnahmsklage ist damit innerhalb der Notfrist des § 534 Abs 1 ZPO erhoben worden.

[25] 3. Dem berechtigten Rekurs war daher Folge zu geben und die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.

[26] Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO (vgl Obermaier , Kostenhandbuch³ Rz 1.224).

Rechtssätze
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