JudikaturJustiz5Ob173/11v

5Ob173/11v – OGH Entscheidung

Entscheidung
09. November 2011

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden und durch die Hofrätinnen Dr. Hurch und Dr. Lovrek sowie die Hofräte Dr. Höllwerth und Mag. Wurzer als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj J*****, geboren am *****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter D*****, vertreten durch Mag. Stephan Podiwinsky, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtsachen Wien als Rekursgericht vom 6. April 2011, GZ 42 R 537/10x 132, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1. Besteht im Bereich von Pflege und Erziehung Gefahr im Verzug, so ist der Jugendwohlfahrtsträger nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB verpflichtet, die zur Gefahrenabwendung erforderlichen Maßnahmen mit vorläufiger Wirkung bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst zu treffen. Dem Jugendwohlfahrtsträger kommt ab dem Zeitpunkt der Setzung der Maßnahme bis zur gerichtlichen Entscheidung im Umfang der gesetzten Maßnahmen die Obsorge zu ( Weitzenböck in Schwimann ABGB³ § 215 Rz 3 f). In einem solchen Fall kann der Jugendwohlfahrtsträger auch über den Aufenthalt des Kindes entscheiden (§ 146b ABGB), ohne dass es hierzu der Genehmigung des Gerichts bedürfte (§ 214 Abs 1 ABGB; Kathrein in Fenyves/Kerschner/Vonkilch , Klang³ § 214 Rz 5).

2. Die Bestimmung des § 176 Abs 1 ABGB gilt für alle mit der Obsorge betrauten Personen und daher auch für den Jugendwohlfahrtsträger, wenn er in Ausübung der auf das Gebiet der Pflege und Erziehung beschränkten Notkompetenz tätig wird. Die Ausübung der Obsorge durch den Jugendwohlfahrtsträger kann demnach bei Gefährdung des Kindeswohls mit einem Auftrag des Pflegschaftsgerichts an diesen beschränkt werden (RIS-Justiz RS0122183; 10 Ob 64/07w: Beschränkung der Obsorge des Jugendwohlfahrtsträgers dahin, dass Änderungen des Aufenthaltsorts nur mit Zustimmung des Gerichts angeordnet werden dürfen). Auf eine solche Anordnung zielt die Revisionsrekurswerberin mit ihrem Antrag auf Erteilung einer Weisung an den Jugendwohlfahrtsträger, den gewöhnlichen Aufenthalt der Minderjährigen nicht außerhalb von Wien zu begründen, in eventu diesen nach Wien zurückzuverlegen, ab.

3. Das Recht zur Bestimmung des Aufenthalts darf nicht gegen das Wohl des Kindes ausgeübt werden ( Stabentheiner in Rummel ABGB³ § 146b Rz 1; Verschraegen in Schwimann ABGB³ § 146b Rz 3; Barth in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang³ § 146b Rz 8). Bei der Frage, ob das Kindeswohl durch eine Übersiedlung gefährdet ist, handelt es sich um eine nach pflichtgemäßen Ermessen zu treffende Entscheidung im Einzelfall, der keine grundsätzliche Bedeutung zuerkannt werden kann (RIS Justiz RS0006998; RS0048632 [T11]). Eine Einzelfallentscheidung ist für den Obersten Gerichtshof aber nur dann überprüfbar, wenn im Interesse der Rechtssicherheit ein grobe Fehlbeurteilung zu korrigieren wäre (RIS Justiz RS0044088). Das ist hier nicht der Fall.

4.1 Das Recht des mj Kindes und des mit ihm nicht im gemeinsamen Haushalt lebenden Elternteils, miteinander persönlich zu verkehren, ist ein Grundrecht der Eltern-Kind-Beziehung und ein allgemein anerkanntes, unter dem Schutz des Art 8 EMRK stehendes Menschenrecht (4 Ob 131/06b; RIS Justiz RS0047754). Regelmäßige Besuchskontakte entsprechen in aller Regel auch dem Wohl des Kindes. Eine Aufenthaltsbestimmung, die die Ausübung des Besuchsrechts unmöglich macht, wird daher im Allgemeinen unzulässig sein (vgl Barth aaO Rz 9).

4.2 Der Umstand, dass die Mutter zur Ausübung ihres Besuchsrechts nach Graz fahren muss, führt zwar dazu, dass für sie die Wahrnehmung der Besuchskontakte mit größerem Aufwand verbunden ist, macht die Ausübung ihres Besuchsrechts aber keineswegs unmöglich. Hinzu kommt, dass ihre Kosten für die Anreise zur Ausübung des Besuchsrechts vom Jugendwohlfahrtsträger übernommen werden. Damit verbleibt ein zeitlich erhöhter Aufwand der Mutter, um die Besuchskontakte wahrzunehmen. Auch in jenen Fällen, in welchen die Obsorge nicht beiden Elternteilen zukommt, führt die Aufenthaltsbestimmung durch den „hierzu berechtigten Elternteil“ (§ 146b ABGB) mitunter dazu, dass dem anderen Teil die Ausübung des Besuchsrechts erschwert wird. Das muss grundsätzlich hingenommen werden ( Barth aaO Rz 9; Verschraegen aaO Rz 1).

5. Weder eine Ausweitung des Besuchsrechts noch die endgültige Entscheidung über die Obsorge sind Gegenstand des angefochtenen Beschlusses. Auf die darauf bezugnehmenden Argumente im Revisionsrekurs braucht daher nicht eingegangen zu werden.

Rechtssätze
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