JudikaturJustiz3Ob221/23f

3Ob221/23f – OGH Entscheidung

Entscheidung
31. Januar 2024

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun-Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Pflegschaftssache des 1. mj *, geboren * 2012, und des 2. mj *, geboren * 2014, beide wohnhaft bei der Mutter *, diese vertreten durch Mag. Elisabeth Gerhards, Rechtsanwältin in Wien (Kinderbeistand für beide Minderjährigen gemäß § 104a AußStrG: *), über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters *, vertreten durch die ENGINDENIZ Rechtsanwälte für Immobilienrecht GmbH, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 7. Juli 2023, GZ 43 R 287/23h 1349, mit dem dem Rekurs des Vaters gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 24. März 2023, GZ 3 Ps 37/19a 1290, nicht Folge gegeben wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie lauten:

„Der Antrag des Vaters auf Übermittlung einer Aktenkopie der Bände XV bis XIX des Pflegschaftsaktes wird bewilligt.“

Text

Begründung:

[1] Der Vater nahm am 16. 3. 2023 in der Gerichtskanzlei (Geschäftsabteilung) des Erstgerichts in die Bände XVII bis XIX des derzeit 20 Bände umfassenden Pflegschaftsaktes Akteneinsicht. Er fotografierte dabei einige Schriftsätze ab und erhielt zudem eine Kopie eines Gutachtens sowie anschließend in der Kopierstelle Kopien zweier weiterer Ordnungsnummern ausgehändigt. Nach Beendigung der Akteneinsicht äußerte er den Wunsch nach einer „Aktenabschrift“ der Bände XV bis XIX des Aktes. All dies hielt die Gerichtskanzlei in einem Kanzleivermerk („KV“) fest (ON 1285).

[2] Das Erstgericht erblickte im genannten „Wunsch“ des Vaters einen Antrag, den es abwies. Es begründete dies im Wesentlichen und zusammengefasst damit, dass der Vater bereits vor dem 16. 3. 2023 mehrfach über Antrag, zuletzt über Antrag vom 22. 7. 2022 (ON 1182), bestimmte Aktenbestandteile erhalten habe. Welche Aktenstücke ihm noch fehlten, habe er nunmehr nicht angegeben. Der Großteil des Akteninhalts sei auf Eingaben von ihm, seinem Rechtsanwalt und der Gegenseite zurückzuführen. Letztere seien seinem Rechtsanwalt zugegangen, bei dem er diese jederzeit einsehen könne. Das Recht auf Aktenkopie setze aufgrund der zwar zur Anfertigung von Aktenabschriften ergangenen, aber für Aktenkopien sinngemäß geltenden Entscheidung ZBl 1929/307 ein ernstliches Bedürfnis voraus. Ein solches, Aktenbestandteile noch einmal kopiert zu erhalten, bestehe hier nicht. Soweit es um dem Rechtsanwalt des Vaters nicht zugestellte Aktenbestandteile gehe, handle es sich um interne Verfügungen des Gerichts, die einer Entscheidung mangels Gehör sowieso nicht zugrunde gelegt werden könnten. Diese habe der Vater bei seiner Akteneinsicht am 16. 3. 2023 einsehen und fotografieren können. Er hätte auch nur von diesen speziell eine Abschrift verlangen können.

[3] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Es schloss sich der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts an. Ergänzend verwies es darauf, dass nach § 89i Abs 1 GOG der Anspruch auf Erhalt von Aktenablichtungen nur „nach Maßgabe der vorhandenen technischen Möglichkeiten“ bestehe und das Bundesministerium für Justiz in einem Erlass (JMZ 226.00/2-III 1/96) dazu erläutert habe, dass die Einschätzung der technischen Möglichkeiten auch die personellen Ressourcen einschließe. Im Hinblick auf die bestehende Personalknappheit liege es außerhalb der technischen Möglichkeiten des Erstgerichts, dem Antrag auf Erstellung von Aktenkopien ganzer Aktenbände zu entsprechen. Die Herstellung von Kopien in diesem Umfang durch Kanzleipersonal scheitere daran, dass die wenigen Kanzleibediensteten ohnedies mehr als voll ausgelastet seien und ihre Arbeitskraft nicht in diesem Ausmaß gebunden werden dürfe, weil sonst andere Rechtssuchende benachteiligt würden. Auch Rechtspraktikanten könnten nicht in dem hier erforderlichen Zeitbedarf herangezogen werden, sei es doch Aufgabe der Gerichte, diese auszubilden, und nicht über mehrere Stunden oder Tage mit Kopieren zu beschäftigen.

[4] Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs mit der Begründung nicht zu, eine Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG sei nicht vorgelegen.

[5] Gegen diese Entscheidung richtet sich der wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters mit einem auf Stattgebung des Kopieantrags abzielenden Abänderungsantrag.

Rechtliche Beurteilung

[6] Der Revisionsrekurs ist – wie in der Zulassungsbeschwerde des Revisionsrekurswerbers zutreffend ausgeführt – mangels Rechtsprechung zur Frage, ob der Anspruch nach § 219 Abs 1 ZPO auf eine Aktenkopie von den technischen und/oder personellen Möglichkeiten des Gerichts dazu abhängt, zulässig . Er ist im Sinne des gestellten Abänderungsantrags auch berechtigt .

[7] Die Entscheidung, ob eine Partei Anspruch auf Akteneinsicht bzw eine Aktenkopie hat (beides wird durch § 219 ZPO – hier iVm § 22 AußStrG – gemeinsam geregelt und unterliegt daher dem gleichen Verfahrensregime), ist keine Entscheidung „über die Sache“ iSd § 68 Abs 1 (oder auch § 48 Abs 1) AußStrG ( Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth , AußStrG I 2 [2019] § 22 Rz 57). Unter einer solchen versteht die ständige Rechtsprechung nämlich stattgebende, abweisende oder auch zurückweisende Entscheidungen über einen Rechtsschutzantrag, somit (nur) jede Entscheidung über den Verfahrensgegenstand (4 Ob 56/09b [Pkt 2.1]; 5 Ob 178/22w [Rz 12]). Weil auch keine besondere Vorschrift vorhanden ist, die die Zweiseitigkeit anordnen würde, ist dieses Revisionsrekursverfahren e contrario § 68 Abs 1 AußStrG einseitig.

[8] Die Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht bzw Übermittlung einer Aktenkopie ist auch kein „verfahrensleitender Beschluss“ iSd § 45 Satz 2 AußStrG und damit grundsätzlich selbständig anfechtbar (2 Ob 194/14i [Pkt 2.1. und 2.2.]; Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth , AußStrG I 2 [2019] § 22 Rz 57; Lutschounig in Schneider/Verweijen , AußStrG [2019] § 22 Rz 9 [mwN]; Ziehensack , Schriftsätze für Rechtsanwälte [15. Lfg 2020] Kap ZPO 24 Rz 105; aA LG Salzburg 21 R 344/13d = EFSlg 104.164; LGZ Wien 48 R 234/16s [unveröff]). Das Rekursgericht ging daher zutreffend von der abgesonderten Anfechtbarkeit des erstgerichtlichen Beschlusses aus.

[9] Dass das Erstgericht den Kanzleivermerk vom 16. 3. 2023 genügen ließ, um von einem Antrag des Vaters auf Aktenkopie der Bände XV bis XIX des Pflegschaftsaktes auszugehen, steht mit § 10 Abs 1 AußStrG wonach Anträge, Erklärungen und Mitteilungen (nur) „in der Form eines Schriftsatzes beim Gericht erster Instanz eingebracht oder zu Protokoll erklärt werden [können]“, in Widerspruch. Das vorliegende Gebrechen ist aber jedenfalls dadurch geheilt, dass der Rechtsmittelantrag im vom Vater anwaltlich eingebrachten Revisionsrekurs auf Stattgebung seines (Aktenkopie-) Antrags lautet. Es ist daher vom Obersten Gerichtshof retrospektiv von einem gültig gestellten (geheilten) Aktenkopieantrag auszugehen.

[10] Gemäß § 22 AußStrG sind im Außerstreitverfahren die Bestimmungen der ZPO über Protokolle, Akten sowie die Sitzungspolizei, Beleidigungen in Schriftsätzen und über Strafen sinngemäß anzuwenden. Die Frage der Akteneinsicht und des Anspruchs auf Aktenkopie ist demnach nach § 219 ZPO zu beurteilen (3 Ob 298/05b; 9 Ob 15/07g [mwN]).

[11] Gemäß § 219 Abs 1 ZPO können die Parteien in sämtliche ihre Rechtssache betreffenden, bei Gericht befindlichen Akten (Prozessakten) mit Ausnahme der Entwürfe zu Urteilen und Beschlüssen, der Protokolle über Beratungen und Abstimmungen des Gerichts und solcher Schriftstücke, welche Disziplinarverfügungen enthalten, sowie anderer kraft ausdrücklicher Anordnung der Akteneinsicht entzogener Aktenstücke Einsicht nehmen und sich davon auf ihre Kosten Abschriften (Kopien) und Auszüge (Ausdrucke) erteilen lassen.

[12] Bei der Auslegung des Begriffs der Partei iSd § 219 Abs 1 ZPO ist auf das jeweilige Verfahren abzustellen (zB 2 Ob 68/22x [Rz 18]). Dem Vater kommt im vorliegenden Kontaktrechtsverfahren als Antragsteller Parteistellung zu (§ 2 Abs 1 Z 1 AußStrG).

[13] Der Oberste Gerichtshof sprach in der am 22. 5. 1929 ergangenen, vom Erstgericht ins Treffen geführten Entscheidung aus, dass die Berechtigung der Parteien zum Verlangen nach Abschriften von Akten ihre natürlichen Grenzen habe. Die Parteien könnten zwar Abschriften von sämtlichen, ihre Rechtssache betreffenden Akten verlangen, aber nur soweit ein ernstliches Bedürfnis danach bestehe. In jenen Fällen, wo Parteien durch Akteneinsichtnahme und Notizen daraus ihr Interesse befriedigen könnten und wo es nicht etwa auf den Wortlaut von Urkunden oder Protokollen ankomme, könnten sie nicht verlangen, dass ihnen Abschriften von den ganzen, ihre Rechtssache betreffenden Akten erteilt werden. Sie müssten sich vor Augen halten, dass derartige Anträge geeignet seien, die Tätigkeit der gerichtlichen Schreibabteilungen unnötig zu belasten und dadurch Verzögerungen in der Ausarbeitung anderer gerichtlicher Erledigungen zum Nachteile anderer Rechtssuchender herbeizuführen (3 Ob 440/29 = ZBl 1929/307).

[14] 3 Ob 440/29 erging zu einer Zeit, in der es noch keine Kopiergeräte und Drucker gab. Zutreffend erkannte bereits vor 30 Jahren das LGZ Wien in einer Entscheidung, dass durch die mittlerweilige Ausstattung der Gerichte mit Kopiergeräten sich seit der Entscheidung ZBl 1929/307 die Sachlage geändert habe (LGZ Wien 46 R 734/93 = AnwBl 1994/4709 [zust Witt ]). Auch der Gesetzgeber ließ die flächendeckende Ausrüstung der Gerichte mit Kopiergeräten und Druckern nicht unberücksichtigt und fügte durch die ZVN 2004 (BGBl I 2004/128) – hier interessierend – in § 219 Abs 1 ZPO im Ergebnis in der bisherigen Wortfolge „und sich davon auf ihre Kosten Abschriften und Auszüge erteilen lassen“ nach „Abschriften“ den Klammerausdruck „Kopien“ und nach „Auszüge“ den Klammerausdruck „Ausdrucke“ ein.

[15] Die Entscheidung 3 Ob 440/29 ist nicht nur durch die zwischenzeitliche technische und einfachgesetzliche, sondern auch – wie vom Revisionsrekurswerber zutreffend gerügt – die verfassungsrechtliche Entwicklung überholt, konkret durch die Vorschrift des Art 6 EMRK. Das durch sie geschützte Grundrecht des fair trial macht für die am Verfahren Beteiligten eine generelle Verweigerung des Rechts auf Akteneinsicht und Entnahme von Aktenabschriften, die für die wirksame Rechtsdurchsetzung, insbesondere für die Erhebung von Rechtsmitteln unerlässlich sind, unzulässig. Beschränkungen dieses Rechts sind nur in sehr geringem Umfang möglich und bedürfen einer besonderen gesetzlichen Regelung. Die in § 219 Abs 1 ZPO normierten Ausnahmen sind daher, soweit nicht sondergesetzliche Regelungen bestehen als taxative Aufzählung zu verstehen (RS0110043; zuletzt 2 Ob 68/22x [Rz 19]).

[16] Eine besondere Vorschrift besteht hier insofern, als nach § 89i Abs 1 GOG die Parteien, soweit ihnen ein Recht auf Akteneinsicht zusteht, (nur) „nach Maßgabe der vorhandenen technischen Möglichkeiten Anspruch darauf [haben], Ablichtungen der ihre Sache betreffenden Akten und Aktenteile zu erhalten“. Zwar hat, wie vom Rekursgericht ausgeführt, das Bundesministerium für Justiz in seinem Erlass vom 23. 1. 1997, JMZ 226.00/2-III 1/96 (abgedruckt bei Fellner/Nogratnig , RStDG, GOG und StAG und wichtige Nebengesetze 5 II [2021] § 89i GOG Rz 6), dazu die Ansicht vertreten, die Einschätzung der technischen Möglichkeiten schließe auch die personellen Ressourcen ein. Ein solcher Ministerialerlass ist aber keine für die Gerichte bindende Rechtsquelle (statt vieler 9 ObA 96/22s [Rz 17 und 20] mwN). Die im Erlass vertretene Rechtsansicht des Ministeriums vermag auch inhaltlich nicht zu überzeugen. Das GOG verweist in verschiedenen Bestimmungen auf die „technischen und personellen Möglichkeiten“ (zB in § 80 Abs 2 und in § 91b Abs 2, 3 und 5), in anderen nur auf die technischen Möglichkeiten (zB in § 89c Abs 2 und 5 sowie im hier relevanten § 89i Abs 1). Es ist jeweils von einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers auszugehen, weshalb sich verbietet, die personellen als von den technischen Möglichkeiten miterfasst zu betrachten. Auch hat der VwGH bereits zu der § 89i Abs 1 GOG parallelen Bestimmung des § 17 Abs 1 AVG (damals idF BGBl 1991/51) judiziert, dass die gesetzliche Wendung „nach Maßgabe der vorhandenen technischen Möglichkeiten“ kein Ermessen der Behörde über die Frage, ob Kopien angefertigt werden sollen oder nicht, normiere. Es werde damit – so der VwGH – „einzig die Voraussetzung der technischen Machbarkeit normiert, kurz gesagt: besitzt die Behörde einen Kopierer, der funktionstüchtig ist, hat die einsichtnehmende Partei einen Rechtsanspruch darauf, dass Kopien der Aktenteile (auf ihre Kosten) angefertigt werden“ (VwGH 2001/07/0149). Der Senat sieht keinen Grund, warum für § 89i Abs 1 GOG anderes gelten sollte.

[17] Entgegen der Ansicht des Rekursgerichts ist damit eine personell angespannte Lage innerhalb der Gerichte keine Rechtfertigung dafür, einer Partei ihren nach dem klaren Wortlaut des § 219 ZPO zustehenden Anspruch auf eine Aktenkopie zu verweigern. Es ist Aufgabe der Justizverwaltung, die Gerichte personell so auszustatten, dass sie ihren gesetzlichen Pflichten – hier: Anfertigung und Übermittlung einer Aktenkopie – entsprechen können.

[18] Dass die technischen Voraussetzungen für die Erstellung von Aktenkopien beim Erstgericht vorhanden sind, steht außer Zweifel.

[19] Dass dem Vater aus den Aktenbänden XV bis XIX, hinsichtlich derer er nunmehr die Übermittlung einer vollständigen Kopie verlangt, bereits einzelne Aktenbestandteile in Kopie übermittelt wurden, ändert nichts an seinen Anspruch auf eine vollständige Aktenkopie dieser Bände und kann für ihn allein – wenn ihm Verfahrenshilfe nach § 64 Abs 1 Z 1 ZPO (iVm § 7 Abs 1 AußStrG) gewährt wurde – Kostenfolgen haben (dazu Rassi in Fasching/Konecny , Zivilprozessgesetze 3 II/3 [2015] § 219 ZPO Rz 70 aE).

[20] Dafür, dass hinsichtlich bestimmter Aktenteile, zB Zustellverfügungen, wie vom Erstgericht angenommen kein Recht auf Aktenkopie besteht, bietet das Gesetz – abseits der in § 219 Abs 1 ZPO genannten Ausnahmen – keine Grundlage.

[21] Der Vater hat damit Anspruch auf die begehrte vollständige Aktenkopie der Bände XV bis XIX des Pflegschaftsaktes. Dem Revisionsrekurs war im Sinne des gestellten Abänderungsantrags Folge zu geben.

Rechtssätze
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