JudikaturJustiz2Ob50/18v

2Ob50/18v – OGH Entscheidung

Entscheidung
29. Januar 2019

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G***** L*****, vertreten durch Dr. Wolfgang Schöberl, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei W***** AG, *****, vertreten durch Dr. Thomas Romauch, Rechtsanwalt in Krumpendorf, wegen 5.834,91 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Berufungsgericht vom 18. Oktober 2017, GZ 21 R 148/17y 26, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Bezirksgerichts Tulln vom 20. Mai 2017, GZ 2 C 762/16i 22, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.506,75 EUR (darin enthalten 191,63 EUR USt und 357 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 17. Juni 2016 ereignete sich in T***** in der B*****straße ein Verkehrsunfall zwischen dem vom Kläger gehaltenen und von seinem Sohn gelenkten PKW und einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten PKW.

Der Lenker des Klagsfahrzeugs fuhr in der B*****straße und wollte nach links in die F*****gasse einbiegen. Er fuhr ursprünglich mit einer Geschwindigkeit von rund 30 bis 35 km/h. Etwa 55 Meter vor der Kollisionsstelle setzte er den linken Blinker, näherte sich sukzessive der Fahrbahnmitte an und verringerte stetig die Geschwindigkeit. Ab einer Entfernung von 38 Meter zur Kollisionsstelle war er zur Fahrbahnmitte hin eingeordnet. 18 Meter vor der Kollisionsstelle beobachtete er den Nachfolgeverkehr durch einen Blick in den Innen- und in den Außenspiegel. 5,5 Meter vor der Kollisionsstelle vergewisserte er sich letztmalig durch Innenspiegel-, Außenspiegel- und Schulterblick („3-S-Blick“), ob ein Einbiegen nach links in die F*****gasse verkehrstechnisch möglich ist.

Zum selben Zeitpunkt bewegte sich das Beklagtenfahrzeug in der B*****straße als letztes von drei Fahrzeugen in jener Kolonne, an deren Spitze das Klagsfahrzeug fuhr. Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs bemerkte weder, dass beim Klagsfahrzeug der linke Blinker in Betätigung war, noch dass es zur Fahrbahnmitte hin eingeordnet wurde. Er fasste den Entschluss, die beiden vor ihm fahrenden Fahrzeuge zu überholen, erhöhte die Geschwindigkeit auf deutlich mehr als 35 km/h und wechselte auf die Gegenfahrbahn, um das Überholmanöver durchzuführen.

Im Zuge des Linkseinbiegemanövers führte der Lenker des Klagsfahrzeugs keinen „3-S-Blick“ mehr durch. Er nahm das in Überholposition befindliche Beklagtenfahrzeug erst unmittelbar vor der Kollision zwischen der linken Heckpartie seines Fahrzeugs und der linken Frontseite des gegnerischen Fahrzeugs wahr.

Der Lenker des Klagsfahrzeugs hätte den Unfall nur dann verhindern können, wenn er unmittelbar vor Einleiten des Linksabbiegevorgangs den Nachfolgeverkehr noch einmal beobachtet hätte. Auf diese Weise hätte er das sich in Überholposition befindliche Beklagtenfahrzeug wahrnehmen können.

Der Kläger begehrt 5.834,91 EUR sA an Schadenersatz. Das Alleinverschulden treffe den vorschriftswidrig überholenden Lenker des Beklagtenfahrzeugs.

Die Beklagte bestritt und ortete das Alleinverschulden beim Lenker des Klagsfahrzeugs der den gebotenen letzten Blick vor dem Linkszug nicht durchgeführt habe. Andernfalls hätte er das bereits in Überholposition befindliche Beklagtenfahrzeug wahrnehmen müssen. Überdies sei das Klagsfahrzeug nicht zur Fahrbahnmitte hin eingeordnet gewesen und habe nicht geblinkt. Die Beklagte wandte eine Gegenforderung von 4.480 EUR kompensando gegen die Klagsforderung ein.

Das Erstgericht erachtete die Klagsforderung, ausgehend von einem Alleinverschulden des Lenkers des Beklagtenfahrzeugs als zu Recht, die Gegenforderung hingegen als nicht zu Recht bestehend und gab dem Klagebehren mit Ausnahme eines geringfügigen Zinsenteilbegehrens – insoweit erwuchs die Entscheidung in Rechtskraft – statt.

Das von der Beklagten angerufene Berufungsgericht gelangte in Abänderung des erstinstanzlichen Urteils zu einer Verschuldensteilung von 3 : 1 zu Lasten des Lenkers des Beklagtenfahrzeugs. Es erachtete die Beweisrüge zwar als nicht berechtigt, meinte jedoch, die erstgerichtlichen Feststellungen seien dahin zu verstehen, dass das Beklagtenfahrzeug im Zeitpunkt des letzten Rückblicks des Lenkers des Klagsfahrzeugs 5,5 Meter vor der Kollisionsstelle bereits in Überholposition gewesen sei. Es folgerte daraus, dass der Lenker des Klagsfahrzeugs das gegnerische Fahrzeug übersehen habe müsse, was zu einem Mitverschulden von einem Viertel führe.

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision nachträglich zu, weil Judikatur zur Frage der Mithaftung im Fall, dass der Fahrzeuglenker zu einem weiteren Blick zurück zwar nicht verpflichtet sei, ihn aber dennoch – und dann unaufmerksam – mache, nicht bestehe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Klägers ist zulässig , weil das Berufungsgericht die erstinstanzlichen Feststellungen unrichtig ausgelegt hat; sie ist daher auch berechtigt .

Der Senat hat erwogen:

1. Hat der Lenker eines Fahrzeugs seine Absicht, nach links abzubiegen, rechtzeitig angezeigt und sich davon überzeugt, dass niemand zum Überholen angesetzt hat, dann ist er nicht verpflichtet, unmittelbar vor dem Abbiegen nach links noch einmal den nachfolgenden Verkehr zu beobachten. Er darf vielmehr darauf vertrauen, dass ein nachfolgender Fahrzeuglenker dieses Manöver wahrnehmen, sich vorschriftsmäßig verhalten und ihn rechts überholen werde. In diesem Falle braucht er auch an Kreuzungen nicht damit zu rechnen, links überholt zu werden (stRsp: RIS Justiz RS0079255; zuletzt 2 Ob 121/18k mwN). Dieser Grundsatz gilt allerdings nur mit der Einschränkung, dass nicht besondere Gründe den Linksabbieger eine Gefahr erkennen lassen und damit besondere Vorsicht erforderlich machen (2 Ob 229/03w) bzw der Einbiegende damit rechnen muss, dass hinter ihm eine unklare Verkehrslage besteht (RIS Justiz RS0073793).

2. Ein solcher weiterer Kontrollblick wurde etwa verlangt, wenn die Einmündung, in die abzubiegen beabsichtigt ist, für nachkommende Verkehrsteilnehmer schwer erkennbar ist (RIS Justiz RS0079255 [T14, T15 und T21]; 2 Ob 37/12y), bei einer Grundstücks-, Betriebs- oder Hofzufahrt (RIS Justiz RS0079255 [T2 und T20]; RS0073793 [T4 und T9]), bei einer erst aus der Nähe wahrnehmbaren Nebenstraße (RIS Justiz RS0073581) oder wenn der Lenker zwar blinkte, aber nicht zur Fahrbahnmitte hin eingeordnet war oder sich nicht einordnen konnte (2 Ob 28/94; 8 Ob 20/87; 8 Ob 260/82 ZVR 1984/28), so lange blinkte, dass die genaue Abbiegestelle unklar wurde (2 Ob 18/91), oder während der Annäherung an die Abbiegestelle an der Spitze einer Kolonne fahrend von mehreren Fahrzeugen überholt wurde und vor dem eigentlichen Abbiegevorgang noch kurz stehenblieb (2 Ob 121/18k). Keiner dieser Fälle ist hier gegeben.

3. Nach den Feststellungen des Erstgerichts hat der Lenker des Klagsfahrzeugs 5,5 Meter vor Erreichen der Kollisionsstelle zum letzten Mal zurückgeblickt, während sich das Beklagtenfahrzeug „zum selben Zeitpunkt“ noch in der Kolonne befand. Die beklagte Partei hat in der Berufung diese Feststellungen (erfolglos) nur hinsichtlich des letztmaligen „3-S-Blicks“ angefochten, nicht aber im Hinblick auf die Position des Beklagtenfahrzeugs in diesem Moment. Dennoch ist das Berufungsgericht schon bei der Wiedergabe der erstinstanzlichen Feststellungen davon ausgegangen, dass das Beklagtenfahrzeug sich zeitgleich bereits in Überholposition befunden „haben musste“.

Diese Auslegung des festgestellten Sachverhalts ist jedoch rechtlich nicht haltbar, steht ihr doch die insoweit unbekämpft gebliebene, eindeutige Feststellung des Erstgerichts entgegen, was der Kläger in der Revision zutreffend rügt. Die Feststellungen des Erstgerichts widersprechen auch keineswegs den Gesetzen der Logik und der Erfahrung (vgl RIS Justiz RS0043356), weil die für das Fahrmanöver des Beklagtenfahrzeugs zur Verfügung stehende Zeitspanne auch von weiteren – allerdings ungeklärt gebliebenen – Umständen, wie etwa der Geschwindigkeit des Klagsfahrzeugs vor und während des Einbiegevorgangs oder den Tiefenabständen zwischen den Fahrzeugen abhängig ist.

Indem es die getroffenen Feststellungen abweichend von ihrem eindeutigen Sinngehalt interpretierte, hat das Berufungsgericht den Sachverhalt unrichtig rechtlich beurteilt (vgl RIS Justiz RS0118891).

4. Maßgebend für diese Beurteilung sind allein die bindenden Feststellungen des Erstgerichts:

Danach befand sich das Beklagtenfahrzeug beim letztmaligen „3-S-Blick“ des gegnerischen Lenkers noch in der Kolonne und nicht in Überholposition. Dem Lenker des Klagsfahrzeugs ist daher schon deshalb kein Mitverschulden anzulasten. Auf die vom Berufungsgericht als erheblich erachtete Rechtsfrage ist nicht weiter einzugehen, weil sie auf einem unrichtigen Verständnis der relevanten Tatsachengrundlage beruht.

5. In Stattgebung der berechtigten Revision ist daher die erstgerichtliche Entscheidung wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung ist in den § 41 Abs 1, § 50 Abs 1 ZPO begründet.