JudikaturJustiz1Ob516/84

1Ob516/84 – OGH Entscheidung

Entscheidung
14. März 1984

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schragel als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schubert, Dr. Gamerith, Dr. Hofmann und Dr. Schlosser als weitere Richter in der Pflegschaftssache minderjährige Romana N*****, infolge Revisionsrekurses der Mutter Wilhelmine N*****, vertreten durch Dr. Helene Klaar, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 29. November 1983, GZ 44 R 3610/83-134, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Mödling vom 20. September 1983, GZ 1 P 25/81-124, bestätigt wurde, folgenden

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben; dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Die Eltern der minderjährigen Romana N***** heirateten am 29. 9. 1971. Es handelte sich beiderseits um die zweite Ehe. Seit 23. 2. 1981 leben die Eltern getrennt, ein vom Vater beim Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien eingeleitetes Scheidungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen. Die Mutter hat auch zwei uneheliche Kinder, die am 26. 12. 1959 geborene Astrid N***** und die am 13. 7. 1962 geborene, bereits verehelichte Juanita R*****. Aus der ersten Ehe der Mutter stammt die am 19. 8. 1966 geborene Karin. Die Mutter ist nicht berufstätig, der Vater ist Geschäftsführer der Firma B***** Gesellschaft mbH.

Der Vater stellte erstmals am 3. 9. 1981 den Antrag, ihm die elterlichen Rechte und Pflichten zur minderjährigen Romana zu übertragen, welche Anträge er am 28. 12. 1981, 12. 8. 1982, 22. 9. und 6. 10. 1982 wiederholte. Er brachte vor, die Mutter hindere ihn an der Ausübung des ihm zustehenden Besuchsrechts, es bestünden Zweifel an der Erziehungsfähigkeit der Mutter, sie lasse das Kind bei ihrem Mann aus erster Ehe oder bei den älteren Stiefschwestern allein zurück, die minderjährigen Karin sei drogenverdächtig; ein Verfahren nach dem Suchtgiftgesetz sei anhängig; die Mutter habe die Erziehung der minderjährigen Karin vernachlässigt. Sie entwickle gegen ihn einen geradezu pathologischen Hass. An ihrer Zurechnungsfähigkeit bestünden Zweifel. Der Einfluss des ersten Ehemanns der Mutter werde sich mit Sicherheit auf das Kind negativ auswirken; es werde schwerste psychische Schädigungen davontragen. Die Mutter unterhalte ehewidrige Beziehungen zu Dr. Arnold R*****. Infolge Verletzung ihrer Aufsichtspflicht sei das Kind am 9. 8. 1982 von einem Hund gebissen worden.

Die Mutter brachte vor, die väterliche Großmutter, zu der der Vater das Kind wohl in Pflege werde geben müssen, verfüge nicht über ausreichende Wohnräume und sei auch nicht fähig, das Kind zu erziehen. Sie sei psychisch labil und habe schon Selbstmordversuche unternommen. Sie habe schon die Schwester des Vaters nicht ordnungsgemäß erzogen und habe dem Vater während aufrechter Ehe eine Wohnung zur Verfügung gestellt, damit er sich dort mit seiner Freundin aufhalten könne. Das Kind habe zur Großmutter keine Beziehung. Der Vater sei ganztägig berufstätig und könne sich schon aus diesem Grund dem Kind nicht ausreichend widmen. Aufgrund seines Lebenswandels und seines Verhaltens während der Ehe seien ihm erzieherische Qualitäten abzusprechen. Der Vater leide an einer Nervenkrankheit und sei wegen Verdachts auf Epilepsie in Behandlung gewesen. Er spreche übermäßig dem Alkohol zu, fallweise sei er sinnlos betrunken. Er neige dazu, in lebensgefährlicher Weise für sich und andere Straßenbenützer mit dem Auto zu fahren. Er habe sich seinen älteren Stiefkindern unsittlich genähert und sie selbst bedroht. Das Kind leide unter Trennungsangst. Die Tochter Astrid studiere, Juanita bereite sich in Abendkursen auf die Matura vor. Die Erziehung der mj Karin habe deren Vater übernommen. Dem zuletzt bestellten Sachverständigen Dr. Erwin S***** gegenüber gab die Mutter an (ON 116), der Vater verkehre in Zuhälterkreisen und sei gemeinsam mit einem Fotomodell Eigentümer eines Hostessenhauses gewesen. Nach Einholung dieses Gutachtens brachte die Mutter am 19. 8. 1983 (ON 120) ergänzend vor, der Vater habe schon seine erste Frau mit einer Waffe bedroht, anderen Leuten gegenüber erklärt, er glaube, schizophren zu sein; er habe seine eigene Schwester auf den Strich schicken wollen; er haben einen Spiegel an der Schlafzimmertür seiner Eltern angebracht, um diese bei ihrem Eheleben beobachten zu können. Auch sein Vater sei bereits Alkoholiker gewesen. Erneut wurde ein Vorbringen über die mangelnde Erziehungsfähigkeit der väterlichen Großmutter erstattet.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 16. 12. 1982, 5 a E Vr 6530/81, Hv 975/81, wurde der Vater unter anderem von dem wider ihn erhobenen Strafantrag, er habe seine beiden minderjährigen Stiefkinder dadurch zur Unzucht missbraucht, dass er in den Jahren 1974 bis 1977 die mj Astrid wiederholt am Geschlechtsteil und an den Brüsten betastet und sich mit seinem Unterkörper gegen ihren Unterkörper gepresst und im Juli 1977 die mj Juanita am Geschlechtsteil betastet habe, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Das Erstgericht sprach aus, dass der Mutter alle aus den familienrechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und ihren mj Kindern erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten (Pflege, Erziehung, gesetzliche Vertretung und Vermögensverwaltung) zu ihrem mj Kind Romana entzogen und dem Vater übertragen werden. Die Mutter wurde verpflichtet, das Kind dem Vater an jenem Samstag 9 Uhr früh, der dem Eintritt der Rechtskraft dieser Entscheidung unmittelbar folge, samt Kinderbekleidung und Spielsachen an ihrem Wohnort zu übergeben. Der Vater wurde verpflichtet, das Kind zu diesem Zeitpunkt am Wohnort der Mutter zu übernehmen. Das Erstgericht stellte fest, dass dem Vater als Erziehungspersönlichkeit der Vorrang einzuräumen sei. Das Persönlichkeitsbild des Kindes und seine Auffälligkeiten im Verhalten mit den Merkmalen der Verzogenheit seien als Folge einer tiefen inneren Verunsicherung sowie einer Divergenz in der pädagogischen Lenkung aufzufassen. Das Kind sei bei Belassung in Pflege und Erziehung der Mutter in seiner günstigen Persönlichkeitsentfaltung und angemessenen Sozialisierung markant gefährdet. Nicht zuletzt lasse der bisherige Werdegang der Halbgeschwister das erzieherische Können und Wollen der Mutter als sehr fragwürdig erscheinen. Die besseren Voraussetzungen für eine gedeihliche Entwicklung und Erziehung des Kindes lägen beim Vater vor, der sich besser in die Lage seiner Tochter einfühlen könne. Der Vater sei als Bezugsperson des Kindes der Mutter durchaus ebenbürtig, als soziale Richtlinie aber weit überlegen.

Das Rekursgericht gab mit dem angefochtenen Beschluss dem Rekurs der Mutter nicht Folge. Das von der Mutter nach Einholung des Gutachtens des Sachverständigen Dr. Erwin S***** am 9. August 1983 erstattete Vorbringen ON 120, in dem Vorwürfe gegen den Vater und dessen Mutter erhoben werden, sei in Verschleppungsabsicht erhoben worden. Eine weitere Verfahrensverzögerung würde zu einer Entfremdung zwischen dem Kind und seinem Vater führen. Von den Beweisanträgen der Mutter sei daher in analoger Anwendung des § 275 Abs 2 ZPO Abstand zu nehmen. Dass der Vater die mj Stieftöchter zur Unzucht verleitet habe, habe nicht verifiziert werden können. Gehe man von den Sachverständigengutachten aus, so sei ein Pflegeplatzwechsel zum Wohl des Kindes unbedingt erforderlich. Der Vater sei psychisch völlig gesund; die Mutter müsse im Gegensatz dazu als psychisch labil bezeichnet werden. Sie habe das Kind ganz an sich gefesselt und durch ihre Ansichten und durch ihr unausgeglichenes Betragen verunsichert. Die Mutter sei seelisch unausgeglichen, habe einen starken Durchsetzungswillen, sei hartnäckig und rücksichtslos bei Verfolgung eigener Ziele. Ein Pflegeplatzwechsel setze eine Gefährdung des Wohles des Kindes im Falle der Beibehaltung der Pflege und Erziehungsverhältnisse voraus. Eine solche Gefährdung des Kindeswohles liege eindeutig vor. Die mj Romana zeige bereits psychische Auffälligkeiten, die zumindest teilweise auf die erzieherisch fragwürdige Betreuung durch die Mutter hinwiesen. Es bestünden sogar Anzeichen dafür, dass das Kind im Falle seines Verbleibens bei der Mutter in seiner psychosozialen Entwicklung gefährdet wäre. Die Übertragung der elterlichen Rechte und Pflichten im Sinne des § 144 ABGB an den Vater entspreche daher der Sach- und Rechtslage.

Rechtliche Beurteilung

Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist berechtigt. Nach ständiger Rechtsprechung liegt bei Entscheidungen, die das Sorgerecht über Kinder oder die Gestaltung des Besuchsrechts betreffen, ungeachtet des bestehenden Ermessensspielraums eine offenbare Gesetzwidrigkeit dann vor, wenn das Kindeswohl völlig außer Acht gelassen und nicht in den Kreis der Erwägungen gezogen wurde (EFSlg 42.333, 42.334, 42.340, 39.824, 39.832, 37.392 uva). Eine solche Außerachtlassung des Kindeswohles ist bei einer nach § 177 Abs 2 ABGB getroffenen Entscheidung dann gegeben, wenn die Erziehungsverhältnisse nur auf Seiten eines Elternteils festgestellt und geprüft wurden die Möglichkeiten der Unterbringung und Betreuung, die das Kind bei Änderung der Erziehungsverhältnisse zu erwarten haben wird, unberücksichtigt blieben und daher eine nach Abwägung aller Umstände vorzunehmende Prognose, ob es durch eine Änderung der Erziehungsverhältnisse zu einer Verbesserung der Erziehungssituation kommen werde, gar nicht möglich ist (vgl EFSlg 24.139; EvBl 1972/72). Die Entscheidungen der Vorinstanzen lassen Feststellungen, die eine solche Abwägung ermöglichen, vermissen. Es wurde zwar festgestellt, dass der psychisch völlig gesunde Vater eine sozial geordnete und charakterlich intakte Persönlichkeit sei, es wurde aber jede Prüfung unterlassen, auf welche Weise die Pflege und Erziehung des Kindes tatsächlich durchgeführt werden würde und ob sich dadurch gegenüber den Erziehungsverhältnissen bei der Mutter eine günstigere Prognose für die Entwicklung des Kindes ergeben könnte. Der Vater ist berufstätig und muss, wie er im Scheidungsakt angab (S 249 des Aktes 17 Cg 31/81 des LG für ZRS Wien), zahlreiche Geschäftsreisen ins Ausland unternehmen. Die von ihm dem Sachverständigen Dr. Erwin S***** angegebene Möglichkeit, das Kind die Büroräumlichkeiten mitzunehmen, um es dort von drei bei ihm beschäftigten Damen, allenfalls von seiner Mutter, betreuen zu lassen (S 420 des Aktes), scheidet als nicht im Erziehungsinteresse des Kindes gelegen von vornherein aus. Es bliebe nach der Aktenlage nur die Unterbringung des Kindes bei seiner 58jährigen, nach den Angaben des Vaters bei der Wiener Jugendgerichtshilfe (S 207 dA) berufstätigen väterlichen Großmutter. Welche Pflege- und Erziehungsverhältnisse das Kind dort erwarten, ja ob die väterliche Großmutter zur Übernahme der Pflege und Erziehung des Kindes überhaupt bereit ist, ist unbekannt; dazu fehlen jegliche Beweisaufnahmen und Feststellungen. Es mangelt somit an einer Entscheidungsgrundlage, ob die zu erwartenden Erziehungsverhältnisse überhaupt denjenigen bei der Mutter vorzuziehen wären; grundsätzlich ist zu bedenken, dass der Betreuung durch einen Elternteil in der Regel der Vorzug gegenüber der Betreuung durch dritte Personen zu geben ist. Diese den Vorinstanzen unterlaufene offenbare Gesetzwidrigkeit führt zur Aufhebung ihrer Entscheidungen.

Im fortgesetzten Verfahren werden die Vorinstanzen auch die Vorschrift des § 2 Z 5 AußStrG zu beachten haben. Danach hat das Gericht alle Umstände und Verhältnisse, welche auf die richterliche Verfügung Einfluss haben, von Amts wegen zu untersuchen, es gilt also der Untersuchungsgrundsatz (SZ 53/54; SZ 45/22 ua; Dolinar, Österreichisches Außerstreitverfahrensrecht, Allgemeiner Teil 75 ff, 111, 121; Ott, Rechtsfürsorgeverfahren 154; Rintelen, Grundriß 26; Gögl, Der Beweis im Verfahren außer Streitsachen, ÖJZ 1956, 346). Das Gericht hat alle entscheidungsrelevanten Umstände von Amts wegen zu untersuchen, selbst von den Parteien nicht vorgetragene, ihm aber auf andere Weise bekanntgewordene Umstände zu berücksichtigen, und den entscheidungserheblichen Sachverhalt ohne Rücksicht auf das Verhalten der Parteien festzustellen (Dolinar aaO 75). Solange nicht alle Tatumstände geklärt sind, aus denen sich ergeben könnte, dass das Wohl des Kindes nicht gewahrt wird, darf eine Entscheidung über die Pflege und Erziehung des Kindes nicht ergehen (Dolinar aaO 76). Das bedeutet aber auch, dass im Verfahren außer Streitsachen verspätet vorgebrachte, für die Entscheidung aber relevante Tatsachen oder neue Beweisquellen nicht präkludiert sein können und daher nicht aus diesem Grund zurückgewiesen werden dürfen (Ott aaO 156 f). Eine Zurückweisung von relevanten Anträgen wegen Verschleppungsabsicht in analoger Anwendung des § 275 Abs 2 ZPO ist als dem Wesen des Außerstreitverfahrens widersprechend unzulässig. Im Übrigen hatte die Mutter schon in einem früheren Verfahrensstadium (S 30 ff) vorgebracht, dass nicht nur der Vater für die Erziehung nicht geeignet sei, sondern auch die väterliche Großmutter, zu der das Kind keine persönliche Beziehung habe. Diese sei aufgrund ihres psychisch labilen Verhaltens und ihrer bereits unternommenen Selbstmordversuche zur Erziehung des Kindes nicht in der Lage.

Erst wenn das Erstgericht ausreichende Feststellungen getroffen haben wird, wird eine verlässliche Prognose der Entwicklung und der Erziehung des Kindes eine abschließende Entscheidung nach § 177 Abs 2 ABGB ermöglichen. Die Beschlüsse der Vorinstanzen sind daher aufzuheben.

Rechtssätze
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