JudikaturJustiz15Ns19/01

15Ns19/01 – OGH Entscheidung

Entscheidung
13. Dezember 2001

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 13. Dezember 2001 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Markel als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Strieder, Dr. Schmucker, Dr. Zehetner und Dr. Danek als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. P***** als Schriftführerin, in der Strafsache des Privatanklägers DI Dr. Hermann L***** gegen Dr. Farhad P***** wegen § 111 Abs 1 und 2 StGB, AZ 21 EVr 2932/00, Hv 511/00 des Landesgerichtes für Strafsachen Graz, über die Anzeige des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Graz vom 28. September 2001, AZ 19 Ns 60/01, betreffend den "Anschein der Befangenheit hinsichtlich aller Richter des OLG-Sprengels Graz; Aktenvorlage in analoger Anwendung des § 74 Abs 2 StPO" nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Befangenheitsanzeige des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Graz in Bezug auf sämtliche Richter dieses Oberlandesgerichtes zur Entscheidung über den Antrag des Dr. Farhad P***** auf Ablehnung aller Richter des Landesgerichtes für Strafsachen Graz ist nicht gerechtfertigt.

Text

Gründe:

Der mit 1. April 2001 vom Landesgericht Klagenfurt zum Oberlandesgericht Graz ernannte Richter DI Dr. Hermann L***** ist Privatankläger in dem zunächst beim Landesgericht Klagenfurt zum AZ 17 EVr 1498/00, Hv 105/00 anhängig gewesenen und sodann wegen Befangenheit aller Richter dieses Gerichtshofes mit Beschluss des Oberlandesgerichtes Graz vom 21. September 2000 dem Landesgericht für Strafsachen Graz zugewiesenen Verfahrens, in welches das zum AZ 9 b EVr 6624/00, Hv 3891/00 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien geführte (inhaltsgleiche) Verfahren gemäß § 56 StPO einbezogen wurde. Der Präsident des Landesgerichtes für Strafsachen Graz legte mit Note vom 13. September 2001 die Akten mit der Befangenheitsanzeige des Verhandlungsrichters Dr. Helmut K***** unter Hinweis darauf vor, dass zufolge der nunmehrigen Zugehörigkeit des Privatanklägers zum Gremium des Oberlandesgerichtes Graz der Anschein der Befangenheit auch für alle anderen Richter des Erstgerichtes gelte. Die zur Entscheidung darüber berufenen Senatsmitglieder des Gerichtshofes zweiter Instanz zeigten dem Präsidenten ihre Befangenheit wegen der beruflichen Stellung des Privatanklägers an. In einem Antrag vom 13. September 2001 lehnte der Angeklagte alle Richter des Landesgerichtes für Strafsachen Graz ab und stellte den Eventualantrag auf Delegierung der Strafsache an das Landesgericht Innsbruck.

Mit Schreiben vom 28. September 2001 legte der Präsident des Oberlandesgerichtes Graz die Akten "in analoger Anwendung des § 74 Abs 2 StPO zur Entscheidung" dem Obersten Gerichtshof vor, weil seiner Meinung nach der Anschein der Befangenheit auf alle Mitglieder des Oberlandesgerichtes - einschließlich seiner Person - und der erstinstanzlichen Gerichtshöfe im Sprengel des Oberlandesgerichtes Graz zutrifft.

Der Generalprokurator nahm dazu wie folgt Stellung:

"Nach Ansicht der Generalprokuratur wäre die Strafsache des Privatanklägers DI Dr. Hermann L***** gegen Dr. Farhad P***** wegen § 111 Abs 1, Abs 2 StGB, AZ 21 E Vr 2932/00 des Landesgerichtes für Strafsachen Graz, dem genannten Gerichtshof abzunehmen und einem anderen Gerichtshof erster Instanz zuzuweisen.

§ 62 zweiter Satz StPO verpflichtet zur Delegierung zwar (unter anderem) einer im Fall eines gegen einen Richter des zuständigen oder eines diesem unterstellten Gerichtes zu führenden Verfahrens; dies bedeutet jedoch nicht die Unmöglichkeit einer Delegierung im Fall einer sonstigen Verfahrensbeteiligung eines Richters; vielmehr ist diesfalls nach den konkreten Umständen zu prüfen, ob ein "wichtiger" Grund im Sinne des ersten Satzes des § 62 StPO anzunehmen ist. Vorliegend ist dies zu bejahen, haben doch die Präsidenten des Landesgerichtes für Strafsachen Graz und des Oberlandesgerichtes Graz die Verfahrensführung für nicht opportun erachtet und ihre begründeten Bedenken aktenmäßig festgehalten. Angesichts dieser Fallkonstellation ist geradezu zwingend zu befürchten, dass bei Verfahrensführung vor dem Landesgericht für Strafsachen Graz bei einem außenstehenden Beobachter - vor allem im Falle eines für den richterlichen Privatankläger günstigen Prozessausganges - Zweifel an einer unbefangenen Rechtsprechung aufkommen.

Bemerkt wird, dass die frühere Rechtsprechung, wonach alle mit Befangenheit zusammenhängenden Verfahrenshandlungen im II. Abschnitt des VII. Hauptstückes der StPO (§§ 72 bis 74a) abschließend geregelt sind (SSt 46/57), seit der Novellierung des § 62 StPO (BGBl I 1999/55) überholt ist."

Der Oberste Gerichtshof vermag sich dieser Ansicht nicht anzuschließen.

Rechtliche Beurteilung

Die im vorliegenden Fall zu erwägende Änderung der Zuständigkeit ist unter zwei prozessrechtlichen Aspekten zu beurteilen. Einerseits werden vom Präsidenten des Oberlandesgerichtes Rücksichten richterlicher Befangenheit releviert, indem er die Akten zur Entscheidung ("in analoger Anwendung") nach § 74 Abs 2 StPO vorlegte; andererseits sind Überlegungen gemäß dem § 62 Satz 2 StPO (idF BGBl I 1999/55) in die maßgeblichen Erwägungen einzubeziehen. Ein vom Präsidenten des Oberlandesgerichtes für alle Mitglieder dieses Gerichts reklamierter Anschein der Befangenheit, der die Eignung aufweist, deren volle Unbefangenheit in Zweifel zu setzen, ist nicht gegeben.

Der sich auf Grund durchaus unterschiedlicher Tätigkeiten bei einem Gerichtshof zweiter Instanz nicht unter allen Richtern gleichermaßen zwingend ergebende dienstliche schafft ebenso wenig wie der kollegial persönliche Kontakt des dienstlichen Begegnungsverhältnisses für sich allein einen Grund, der objektiv die Eignung besitzt, Zweifel an der vollen Unbefangenheit sämtlicher Richter zu wecken. Um die relevante Eignung zu erhalten, müssen noch andere Umstände hinzutreten, die eine tatsächliche oder auch nur scheinbare Befangenheit herstellen könnten. Solche Gründe könnten einerseits etwa in einer Feindschaft, in einem persönlichen Rivalitätsverhältnis in irgendeinem Lebensbereich, andererseits aber auch in der Motivationslage der Dankbarkeit oder rein kollegialen Kontakt merkbar überschreitender persönlicher freundschaftlicher Beziehungen bestehen. Die Befangenheit des gesamten Gerichtshofs zweiter Instanz kann nur vorliegen, wenn bei so vielen der dort ernannten Richter jene besonderen Umstände vorhanden sind, die geeignete Gründe für Zweifel an ihrer vollen Unparteilichkeit darzustellen vermögen, dass ein zur individuellen Entscheidung berufener Spruchkörper nicht gebildet werden kann (OGH 13 Ns 23/89, 12 Ns 17/92, 13 Ns 17/94, 13 Nds 119/94, 13 Ns 17/00 uva).

Konkrete Umstände, welche befürchten ließen, dass die Richter des Gerichtshofs zweiter Instanz nicht mit Unbefangenheit und Unparteilichkeit an eine Sache herantreten könnten, werden mit der Behauptung bloß kollegialer Verbundenheit infolge Zugehörigkeit zum gleichen Berufsstand nicht aufgezeigt. Dies allein ist nicht geeignet, die Unbefangenheit der Richter, also deren Fähigkeit, die Strafsache auf Grund des Gesetzes und der vorgeführten Beweismittel gewissenhaft zu beurteilen sowie nach dem Eindruck der Verfahrensergebnisse von einer allenfalls gebildeten Meinung wieder abzugehen, in Zweifel zu setzen (EvBl 1975/142; OGH 13 Ns 16/85 sowie 2 und 21/86).

Aktuell ist derzeit vom Oberlandesgericht Graz gemäß § 74 Abs 2 StPO über den Antrag des Privatangeklagten auf Ablehnung aller Richter des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 13. September 2001 zu entscheiden. In seiner Anzeige gemäß § 72 Abs 2 StPO hat dessen Präsident als Umstand, der eine Befangenheit aller Richter dieses Gerichtshofs zweiter Instanz begründen soll, lediglich die Zugehörigkeit des Privatanklägers zum richterlichen Gremium dieses Gerichtes angeführt. Wie dargelegt liegt allein darin aber kein Grund, der geeignet wäre, die volle Unbefangenheit aller Richter des Oberlandesgerichtes Graz in Zweifel zu ziehen, welches daher berufen ist, über den Ablehnungsantrag zu entscheiden.

Der Oberste Gerichtshof ist aber auch nicht in der Lage, im Sinne des § 62 zweiter Satz StPO mit einer Delegierung der Privatanklagesache von Amts wegen vorzugehen. Entgegen der Ansicht des Generalprokurators bietet die durch BGBl I 1999/55 erfolgte Gesetzesänderung keine Grundlage dafür, von der ständigen Rechtsprechung abzugehen, dass Befangenheitsüberlegungen infolge der abschließenden Regelung der damit im Zusammenhang stehenden Verfahrenshandlungen in §§ 72 bis 74a StPO eine Delegierung nicht rechtfertigen können. Die bezeichneten Vorschriften zeigen vielmehr einlässlich, dass, sofern eine Befangenheit von Gerichtspersonen in Betracht kommt, die Strafsache nur dann dem örtlich zuständigen Gericht abgenommen werden darf, wenn wirklich alle Richter des zuständigen Gerichtes als befangen anzusehen sind (SSt 46/57 uva).

§ 62 zweiter Satz StPO ordnet nunmehr an, dass ein wichtiger Grund zur Delegierung auch dann vorliegt, wenn ein Verfahren gegen einen Richter oder Staatsanwalt des zuständigen oder eines diesem unterstellten Gerichtes zu führen ist. Diese (sprachlich zum Teil irreführende, weil niemals ein Staatsanwalt einem Gericht angehören oder unterstellt sein kann) Regelung wurde der Strafprozessnovelle 1999 in Abänderung der Regierungsvorlage durch Mehrheitsbeschluss des Justizausschusses eingefügt. Sie wird damit begründet, dass in Strafverfahren auch dann, wenn persönliche Befangenheitsgründe der in solchen Verfahren tätigen (ehemaligen) Kollegen des Angeklagten nicht vorliegen mögen, durch eine solche Vorgangsweise in der Öffentlichkeit, in der an derartigen Strafsachen naheliegender Weise besonderes Interesse besteht, mitunter der Eindruck entsteht, der Angeklagte erfahre aus diesen Gründen besonders milde oder aber auch unangemessen strenge, jedenfalls nicht unbefangene Behandlung (JA 1615 Blg 20. GP, 3).

Strafprozessrecht ist öffentliches und damit zwingendes Recht (14 Os 128/91 ua). Im vorliegenden Zusammenhang ist es einer erweiternden Auslegung schon im Hinblick auf das davon berührte verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf den gesetzlichen Richter (Art 83 Abs 2 B-VG) in dem vom Generalprokurator geforderten Sinne auf Ausdehnung der in Rede stehenden Gesetzesstelle auf alle Verfahrensbeteiligungen eines Richters nicht zugänglich. Der klare Wortlaut des Gesetzes im Zusammenhang mit dem in den vorzitierten Materialien zum Ausdruck kommenden Zweck der Regelung, die von der Öffentlichkeit (fallweise) mit besonderem Interesse verfolgten Strafverfahren gegen Richter (und Staatsanwälte) zu erfassen, lassen die Annahme einer planwidrigen Gesetzeslücke bezüglich anderer Verfahrensbeteiligungen dieser Vollziehungsorgane nicht zu und erlauben deshalb keine analoge Anwendung auch auf jene Verfahren, in denen ein Richter als Privatangeklagter auftritt. § 62 zweiter Satz StPO erfasst als abschließende Regelung für Delegierungen als nunmehr vom Gesetz explizit und demonstrativ statuierten wichtigen Grund für diese nur ausnahmsweise zulässige zuständigkeitsverändernde Maßnahme im Bereich der mit richterlicher Unparteilichkeit zusammenhängenden Umstände nur Strafverfahren, die gegen Richter, (oder Staatsanwälte) geführt werden und nicht auch solche Verfahren, an denen die bezeichneten Amtsträger in anderer Weise beteiligt sind. In letzteren Fällen ist eine Änderung des Gerichtsstandes somit nur dann zulässig, wenn tatsächlich ein tauglicher Grund für die Anname einer Befangenheit aller Richter des an sich zuständigen Gerichts nach §§ 72 ff StPO vorliegt (14 Os 126, 131/01).

Dem steht der jedermann zukommende Anspruch, dass über seine Sache, insbesondere über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage ein unparteiisches Gericht zu entscheiden hat (Art 6 Abs 1 MRG), keineswegs entgegen. In der Rechtsprechung des EGMR wurden Grundsätze der Unterscheidung zwischen einem subjektiven und einem objektiven Ansatz dieser Unparteilichkeit entwickelt. Der subjektive Ansatz bezieht sich auf die Mitglieder des betreffenden Gerichts; Unparteilichkeit wird so lange vermutet, als nicht das Gegenteil erwiesen wurde. Der objektive Ansatz bezieht sich auf die Frage, ob in der Art, in welcher das Gericht zusammengesetzt oder organisiert ist, oder ob ein bestimmtes zufälliges Zusammentreffen oder eine bestimmte Aufeinanderfolge von Funktionen eines seiner Miglieder (wie etwa: früheres Auftreten eines nunmehr entscheidenden Richters als Staatsanwalt im selben Verfahren, Erk v 1. Oktober 1982, Piersack, A. 53 [1982], S 14 ff; ein nunmehr entscheidender Richter war in einem früheren Verfahrensstadium als Untersuchungsrichter bzw Vorsitzender einer Untersuchungskammer tätig; Erk v 26. Oktober 1984, De Cubber, A 86 [1984], S 15 ff; Erk v 7. Mai 1985, Yaacoub, A. 127 [1988], S 11 ff) ein Anlass für Zweifel an der Unparteilichkeit des Gerichts oder eines Richters gegeben ist. Liegt ein Grund für eine solche Annahme vor, auch wenn kein konkreter Hinweis für mangelnde Unparteilichkeit der betroffenen Person zu erkennen ist, würde dies bereits zu einer unstatthaften Gefährdung jenes Vertrauens führen, welches das Gericht in einer demokratischen Gesellschaft erwecken muss. Die Prüfung der subjektiven Aspekte erfolgt somit prima vista, die des objektiven Ansatzes nach strengen Gesichtspunkten (van Dijk/van Hoof, Theory and Practice of the Convention on Human Rights2, Deventer-Boston 1990, S 338 f).

Auf den vorliegenden Fall angewendet ergeben die darstellten Grundsätze (unvorgreiflich weiterer Verfahrensentwicklung), dass lediglich subjektive Umstände, nämlich der dienstlich-kollegiale Kontakt zu einer Verfahrenspartei, für die Annahme der Parteilichkeit ins Treffen geführt werden könnten. Solche vermögen jedoch angesichts der Tatsache, dass keine konkreten Umstände für eine Parteilichkeit (= mangelnde Unbefangeheit) sämtlicher Richter des Oberlandesgerichtes Graz erwiesen wurden, deren (zu vermutende) Unparteilichkeit nicht zu beeinträchtigen. Andere besondere Umstände, welche gegen die Unparteilichkeit sämtlicher Richter des Oberlandesgerichts Graz sprechen könnten, wurden weder vorgebracht noch sind sie sonst erwiesen.

Damit stehen der Auslegung des anzuwendenden Gesetzes im Sinne seiner Anwendung auf Strafverfahren gegen Richter und Staatsanwälte jedoch nicht auch auf Fälle anderer Verfahrensbeteiligung solcher Personen aus Konventionsrücksichtigen ebenso wenig verfassungsrechtliche Bedenken entgegen.

Das Oberlandesgericht Graz wird somit (zunächst) gemäß § 74 Abs 2 StPO über den Ablehnungsantrag des Privatangeklagten gegen alle Richter des Landesgerichtes für Strafsachen Graz zu entscheiden haben.

Rechtssätze
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