JudikaturJustiz14Os84/14f

14Os84/14f – OGH Entscheidung

Entscheidung
28. Oktober 2014

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 28. Oktober 2014 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel-Kwapinski in Gegenwart der Richteramtsanwärterin MMag. Spunda als Schriftführerin in der Maßnahmenvollzugssache des Heinz H*****, AZ 188 BE 262/12t des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen die Beschlüsse dieses Gerichts vom 28. Juni 2013, GZ 188 BE 262/12t 73, und des Oberlandesgerichts Wien vom 3. März 2014, AZ 19 Bs 295/13s (ON 94), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Eisenmenger, sowie des Vertreters des Fonds Soziales Wien, Mag. Sachweh, zu Recht erkannt:

Spruch

(I) Der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 28. Juni 2013, GZ 188 BE 262/12t 73, verletzt § 179a Abs 2 StVG.

Dieser Beschluss wird aufgehoben und es wird dem Landesgericht für Strafsachen Wien aufgetragen, neuerlich über die Übernahme der Kosten für die stationäre Pflege und Betreuung des Heinz H***** im G***** zu entscheiden.

(II) Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 13. Jänner 2009, GZ 31 Hv 144/08h 89, wurde Heinz H***** des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach §§ 15, 87 Abs 1 StGB (I) und des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 2 StGB (II) schuldig erkannt und hiefür zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Unter einem wurde seine Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs 2 StGB angeordnet (ON 3).

D ie Maßnahme wurde in der Justizanstalt Garsten vollzogen und der Verurteilte mit (rechtskräftigem) Beschluss des Landesgerichts Steyr als Vollzugsgericht vom 4. September 2012, (vormals) GZ 19 BE 28/11v 51, am 13. September 2012 nach § 47 StGB unter Bestimmung einer Probezeit von fünf Jahren bedingt entlassen. Gleichzeitig wurde nach §§ 50 ff StGB für die Dauer der Probezeit Bewährungshilfe angeordnet und dem Entlassenen mit seiner Zustimmung (ON 50 S 2) folgende Weisung erteilt: „Wohnungnahme im G***** (Fortsetzung der bisherigen Medikation mit hoch dosierten Psychopharmaka)“ (ON 51 S 2). Der bedingt Entlassene hält sich seit 13. September 2012 auch tatsächlich dort auf (vgl S 251).

Im Zuge der Vorbereitung der bedingten Entlassung hatte der Sachwalter des Verurteilten das Vollzugsgericht darüber informiert, dass der Fonds Soziales Wien die Bewilligung der intendierten „Pflegeheimunterbringung“ von einer Zusage der Kostenübernahme durch den Bund abhängig mache (ON 33), worauf ihm mit „Schreiben“ des Landesgerichts Steyr vom 27. Juni 2012 mitgeteilt worden war, dass „die Pflegeheimkosten vom Bund übernommen werden“ (S 142). Mit in der Begründung auf diese „Bestätigung“ verweisendem Bescheid des Magistrats der Stadt Wien vom 11. Juli 2012 wurde Heinz H***** „ Pflege innerhalb von Pflegeheimen durch das Land Wien im Wege des zuständigen Sozialhilfeträgers Fonds Soziales Wien gewährt“ (ON 36).

Mit Schreiben vom 3. Dezember 2012 ersuchte der Fonds Soziales Wien das nunmehr für die Maßnahmenvollzugssache zuständige (§ 179 StVG; S 203) Landesgericht für Strafsachen Wien unter erneuter Bezugnahme auf das zuvor erwähnte Schreiben des Landesgerichts Steyr um Aufklärung darüber, ob die Vorgangsweise korrekt sei, dem Verurteilten einen Kostenbeitrag zu den Pflegeheimkosten (aus seinem Einkommen aus Invaliditätspension in Höhe von 759,52 Euro und Pflegegeld der Stufe 4) und bloß die verbleibende Differenz auf die vollen Kosten dem Bund vorzuschreiben, oder der Bund für die gesamten Pflegeheimkosten „aufkomme“ (ON 60). Das Landesgericht für Strafsachen Wien teilte mit „Note“ vom 7. Dezember 2012 mit, dass „gemäß § 179a StVG der Bund (und auch das mit Einschränkungen) nur den Teil der Kosten übernehmen kann, der nicht durch eine Krankenversicherung gedeckt ist“ (S 251).

In der Folge übermittelte der Fonds Soziales Wien dem Landesgericht für Strafsachen Wien als Vollzugsgericht regelmäßig als „Vorschreibung Kostenbeitrag für stationäre Pflege und Betreuung“ titulierte Zahlungsaufforderungen in Höhe von monatlich etwa 10.000 Euro (vgl etwa ON 62, 64, ON 80 ua).

Der bedingt Entlassene bezieht nach einer vom Vollzugsgericht eingeholten Auskunft der Pensionsversicherungsanstalt vom 15. Mai 2013 Invaliditätspension zuzüglich Pflegegeld in der Höhe von insgesamt 1.297,39 Euro pro Monat, wovon soweit hier wesentlich jeweils 80 %, sohin 1.003,02 Euro, direkt an den Fonds Soziales Wien ausbezahlt werden (§ 324 Abs 3 ASVG und § 13 Abs 1 BPGG; ON 72; vgl dazu auch ON 77).

Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Vollzugsgericht vom 28. Juni 2013, GZ 188 BE 262/12f 73, wurde die „Kostenübernahme von Heinz H***** aus der weisungsgemäßen Unterbringung im G***** von Seiten des Bundes“ mit der Begründung abgelehnt, dass die Voraussetzungen des § 179a Abs 2 StVG nicht erfüllt seien, weil der Genannte „in den Genuss von Leistungen der Pensionsversicherungsanstalt“ (in Höhe der direkt an den Fonds Soziales Wien geleisteten Zahlungen von monatlich 1.003,02 Euro) komme.

Dieser vom Verurteilten, dessen Sachwalter und der Staatsanwaltschaft nicht bekämpfte Beschluss, wurde dem Fonds Soziales Wien am 5. Juli 2013 zugestellt (S 298), der dagegen mit am 22. Juli 2013 zur Post gegebenem Schriftsatz (S 330) Beschwerde erhob (ON 77).

Mit Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 3. März 2014, AZ 19 Bs 295/13s (ON 94), wurde dieses Rechtsmittel wegen verspäteter Einbringung (BS 2) als unzulässig zurückgewiesen und in der Begründung unter ausführlicher Befassung mit der Problematik angemerkt, dass der angefochtene Beschluss mit § 179a Abs 2 StVG nicht im Einklang stehe, welche Gesetzesverletzung jedoch nicht „aus Anlass“ einer verspäteten Beschwerde aufgegriffen werden könne.

Rechtliche Beurteilung

(I) Der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Vollzugsgericht vom 28. Juni 2013, GZ 188 BE 262/12t 73, steht wie die Generalprokuratur in ihrer gegen beide zuvor genannten Beschlüsse erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt - mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Ist einem bedingt Entlassenen außer den Fällen des § 179a Abs 1 StVG die Weisung erteilt worden, sich einer Entwöhnungsbehandlung, einer psychotherapeutischen oder einer medizinischen Behandlung zu unterziehen oder in einer sozialtherapeutischen Wohneinrichtung Aufenthalt zu nehmen, hat der Bund nach Abs 2 dieser Bestimmung die Kosten der Behandlung oder des Aufenthalts ganz oder teilweise zu übernehmen, wenn der Betreffende nicht Anspruch auf entsprechende Leistungen aus der Kranken versicherung hat und durch die Verpflichtung zur Zahlung der Kosten sein Fortkommen erschwert würde. Diese beiden Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen, um eine entsprechende Verpflichtung des Bundes zu begründen ( Pieber in WK² StVG § 179a Rz 3).

Der Höhe nach übernimmt der Bund die Kosten jedoch grundsätzlich nur bis zu dem Ausmaß, in dem die Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter für die Kosten aufkommen könnte, wenn der Entlassene in der Krankenversicherung öffentlich Bediensteter versichert wäre; einen Behandlungsbeitrag (§ 63 Abs 4 B KUVG) hat der Rechtsbrecher nicht zu erbringen (§ 179a Abs 2 zweiter Satz StVG; vgl dazu grundsätzlich 11 Os 96/12w [11 Os 97/12t] mwN).

Indem das Landesgericht für Strafsachen Wien als Vollzugsgericht mit dem angefochtenen Beschluss die Übernahme der Kosten für den (weisungsgemäßen) Aufenthalt des Heinz H***** in der zuvor genannten Pflegeheimeinrichtung durch den Bund demgegenüber schon dem Grunde nach ausschließlich aufgrund seines Bezugs von Leistungen aus der Pensions versicherung (Invaliditätspension und Pflegegeld) in Höhe der direkt an den Fonds Soziales Wien ausbezahlten Beträge von 1.003,02 Euro ablehnte, hat es das Gesetz in der Bestimmung des § 179a Abs 2 StVG verletzt.

Da ein Nachteil dieser Gesetzesverletzung für den Verurteilten nicht auszuschließen ist, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, deren Feststellung gemäß § 292 letzter Satz StPO wie aus dem Spruch ersichtlich mit konkreter Wirkung zu verknüpfen.

Bleibt anzumerken, dass das zuvor erwähnte Schreiben des Landesgerichts Steyr vom 27. Juni 2012 der nunmehr von der Aufhebung umfassten Entscheidung des Landesgerichts für Strafsachen Wien nicht entgegenstand. Abgesehen davon, dass § 179a StVG eine Beschlussfassung über die Kostentragung vor der Entscheidung über die bedingte Entlassung und die Erteilung einer Weisung nicht (ausdrücklich) vorsieht (vgl dazu auch IA 271/A BlgNR 24. GP 42; vgl aber Pieber in WK² StVG § 179a Rz 8), wurde mit dem Schreiben schon nach seinem Inhalt (vgl dazu RIS Justiz RS0106264) weder dem Grunde noch der Höhe nach beschlussmäßig (§ 86 StPO) und damit Bindungswirkung entfaltend (vgl zur Bindungswirkung von Beschlüssen ab deren Erlassung Lewisch , WK StPO Vor §§ 352 363 Rz 31 ff) über eine Kostenersatzpflicht des Bundes entschieden, sondern zu einem Zeitpunkt, als das Vorliegen der Voraussetzungen des § 179a Abs 2 StVG noch gar nicht beurteilt werden konnte (bloß) dem Sachwalter des Verurteilten informell eine nicht näher präzisierte Information über die Möglichkeit einer Kostenübernahme für die Zukunft erteilt (vgl den anders gelagerten Fall zu 11 Os 96/12w).

Im Übrigen

unterliegt der Ausspruch nach § 179a Abs 2 letzter Satz StVG der clausula rebus sic stantibus und steht im Fall wesentlicher Änderung der Verhältnisse einer neuerlichen Entscheidung über den selben Prozessgegenstand nicht entgegen ( Pieber in WK² StVG § 179a Rz 8 mwN).

Vorgesagtes gilt gleichermaßen für die dem Fonds Soziales Wien mit Note des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 7. Dezember 2012 erteilte Rechtsauskunft, die sich in einer teilweisen Wiedergabe des Gesetzestextes des § 179a Abs 2 erster Satz StVG erschöpft.

(II) In Ansehung des Beschlusses des Oberlandesgerichts Wien vom 3. März 2014, AZ 19 Bs 295/13s (ON 94), erblickt die Generalprokuratur eine Verletzung von § 89 Abs 2b letzter Satz zweiter Fall StPO iVm § 180 Abs 1, 17 Abs 1 Z 3 StVG darin, dass das Beschwerdegericht anlässlich der zutreffenden Zurückweisung der verspäteten Beschwerde des Fonds Soziales Wien gemäß § 89 Abs 2 erster Fall StPO (iVm §§ 180 Abs 1, 17 Abs 1 Z 3 StVG) die unter (I) dargestellte Gesetzesverletzung wohl erkannt, aber sich nicht veranlasst gesehen hat, den angefochtenen Beschluss gemäß § 89 Abs 2b letzter Satz zweiter Fall StPO iVm §§ 180 Abs 1, 17 Abs 1 Z 3 StVG von Amts wegen zu ändern, obwohl sich die Gesetzesverletzung zum Nachteil für den Verurteilten ausgewirkt hat.

Der Oberste Gerichtshof hat dazu erwogen:

§ 89 StPO nennt nach der allgemeinen Vorgabe, dass der zuständigen Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben und in nichtöffentlicher Sitzung zu entscheiden ist (Abs 1) drei Formen der Erledigung von Beschwerden durch das Rechtsmittelgericht. Beschwerden, die verspätet oder von einer Person eingebracht wurden, der ein Rechtsmittel nicht zusteht, hat es als unzulässig zurückzuweisen (Abs 2). In bestimmten taxativ aufgezählten Fällen kann es mit Kassation des angefochtenen Beschlusses und Verweisung zu neuer Entscheidung an das Erstgericht vorgehen (Abs 2a), während es bei Beschwerden gegen Festnahmebewilligung und Verhängung oder Fortsetzung der Untersuchungshaft sowie bei Nichtvorgehen nach Abs 2a unter Berücksichtigung von Neuerungen und ohne Bindung an das Beschwerdevorbringen - stets in der Sache zu entscheiden hat. Zum Nachteil des Beschuldigten darf es jedoch niemals Beschlüsse ändern, „gegen die nicht Beschwerde erhoben wurde“ (Abs 2b).

Während die im ersten Satzteil des dritten Satzes des Abs 2b normierte Pflicht des Beschwerdegerichts zur umfassenden Prüfung eines angefochtenen Beschlusses

(vgl dazu RIS Justiz RS0089977 [T11, T12]) als Ausdruck fehlender Bezeichnungspflicht des Beschwerdeführers zu verstehen ist, spricht der letzte Satzteil des § 89 Abs 2b dritter Satz StPO Amtswegigkeit, nämlich ein Vorgehen nicht in Erledigung, vielmehr aus Anlass der Beschwerde an (RIS Justiz RS0117216 [T9]).

Wie der Oberste Gerichtshof mittlerweile bereits wiederholt ausgesprochen hat, beschränken sich sowohl die Pflicht zu umfassender Prüfung als auch die Amtswegigkeit einerseits auf den angefochtenen Beschluss (15 Os 33/09f, 15 Os 25/14m) und setzen andererseits eine nicht bereits nach § 89 Abs 2 StPO zurückzuweisende, demnach rechtzeitige und von einem Anfechtungslegitimierten eingebrachte Beschwerde voraus (

RIS Justiz RS0129395 = 15 Os 25/14m; 15 Os 123/13x, EvBl 2014/107 737, EvBl 2014, 737 = Jus-Extra OGH-St 4846 = Jus-Extra OGH St 4847 = Jus-Extra OGH-St 4848).

Schon aus dem Aufbau und der Systematik der Bestimmung ergibt sich, dass bei einem Vorgehen nach Abs 2a oder einer Entscheidung in der Sache selbst (Abs 2b) stets vorgelagerter Zurückweisung einer Beschwerde wegen fehlender Rechtsmittellegitimation oder Nichteinhaltung der gesetzlichen Frist für das Rechtsmittelgericht kein Anlass besteht, in eine Prüfung der inhaltlichen Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses einzutreten, und demnach entgegen der Ansicht der Generalprokuratur eine Überprüfungs pflicht jedenfalls nicht dem Plan des Gesetzes entsprechen kann (vgl zu amtswegigem Vorgehen nach § 290 StPO Ratz , WK StPO § 290 Rz 18).

Weder die Überschrift des § 89 StPO („Verfahren vor dem Rechtsmittelgericht“) noch die „unterschiedlichen Regelungsinhalte“ dessen Abs 2b bieten Anhaltspunkte für eine gegenteilige Interpretation.

Vielmehr bezieht sich die Bestimmung des § 89 Abs 2b letzter Satz zweiter Halbsatz StPO ihrem Wortlaut nach ausdrücklich auf den vorhergehenden Halbsatz (arg:„jedoch“) und beschränkt die darin genannten Befugnisse des Beschwerdegerichts damit auf die Behandlung zulässiger Beschwerden, worauf das Oberlandesgericht zutreffend und keineswegs bloß „spekulativ“ verwiesen hat.

§ 89 Abs 2b letzter Satz zweiter Halbsatz StPO normiert zudem (wie auch schon der sinngemäß gleichlautende erste Halbsatz des § 114 Abs 4 StPO erster Satz in der Fassung vor BGBl I 2004/19; vgl 13 Os 125/07t) für den Fall des Abweichens von geltend gemachten Beschwerdepunkten die Geltung des Verbots der reformatio in peius (§ 16 StPO) und bringt demnach (nur) zum Ausdruck, dass eine für den Beschuldigten (Angeklagten) nachteilige Abänderung von Entscheidungen nicht in Frage kommt, soferne ein Rechtsmittel oder ein Rechtsbehelf nur zu dessen Gunsten erhoben wurde (vgl auch ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 117; in diesem Sinn auch Tipold , WK-StPO altes Vorverfahren § 114 Rz 31 und § 89 Rz 16, der die angeführten Gesetzespassagen jeweils durch die Wortfolge „seitens der Staatsanwaltschaft“ ergänzt). Aus dem Umstand, dass der erste Halbsatz des ersten Satzes des § 114 Abs 4 StPO aF in § 89 StPO nF (aktuell § 89 Abs 2b letzter Satz zweiter Fall StPO) übergeleitet wurde, lässt sich nichts für den Beschwerdestandpunkt gewinnen, weil die Bestimmung trotz der missverständlichen Formulierung „gegen die nicht Beschwerde erhoben wurde“ damit weder aussagt, dass amtswegiges Vorgehen vollkommen unabhängig von einem Beschwerdeverfahren möglich wäre, noch wie die Nichtigkeitsbeschwerde vermeint dass damit eine „Möglichkeit und Verpflichtung zu amtswegiger Wahrnehmung von Rechtsverletzungen aus Anlass eines auch unzulässigen Rechtsmittels“ geschaffen werden sollte.

Die Ableitung eines entsprechenden gesetzlichen Auftrags durch Umkehrschluss aus § 89 Abs 2b letzter Satz zweiter Halbsatz StPO verbietet sich demgegenüber aus Gründen gesetzessystematischer und historischer Interpretation mit Blick auf einerseits die vorerwähnte Konjunktion mit dem Regelungsinhalt des § 89 Abs 2b letzter Satz erster Halbsatz StPO und andererseits das Unterbleiben einer Übernahme des zweites Halbsatzes des ersten Satzes des § 114 Abs 4 StPO aF in den Regelungsbestand des Strafprozessreformgesetzes (BGBl I 2004/19; § 89 StPO in der Fassung BGBl I 2004/19 sowie BGBl I 2010/111; vgl zum Ganzen auch ( Nimmervoll , Beschluss und Beschwerde in der StPO, 181 f).

Durch die unterlassene Übernahme dieser Bestimmung hat der Gesetzgeber nämlich unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass er den Rechtsmittelgerichten nunmehr weder die den „Gerichtshof zweiter Instanz“ vormals als Ausfluss seiner umfassenden Aufsichtspflicht nach § 15 StPO aF treffende Verpflichtung , die Beseitigung von Verfahrensfehlern nicht nur aufgrund von Beschwerden, sondern auch dann anzuordnen, wenn eine Beschwerde nicht (oder nicht rechtzeitig) ergriffen wurde oder nicht zulässig wäre (vgl zum Ganzen Tipold , WK-StPO altes Vorverfahren § 114 Rz 29 ff; RIS-Justiz RS0097202), auferlegen, noch eine derartige Möglichkeit einräumen wollte.

Auch die Gesetzesmaterialien zu § 89 Abs 2 StPO in der Fassung BGBl I 2004/19 heben übrigens hervor, dass das Rechtsmittelgericht nur dann grundsätzlich in der Sache zu entscheiden hat, wenn kein Grund für eine Zurückweisung der Beschwerde besteht und führen erst im Anschluss daran aus, dass das Rechtsmittelgericht unter Beachtung des Verbots der Verschlechterung (§ 16 StPO) gegebenenfalls auch andere „wesentliche, vom Beschwerdeführer nicht relevierte Rechtsverletzungen“, die dem Erstgericht unterlaufen sind, in seiner Entscheidung zu berücksichtigen hat, wenn es solche aus Anlass einer Beschwerde „im Zuge seiner Entscheidungsfindung“ feststellt (ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 117), worunter im Gesamtzusammenhang gelesen nichts anderes zu verstehen ist, als die (abgesehen von der Zurückweisung damals einzig mögliche) Entscheidung in der Sache selbst.

An dieser Rechtslage hat sich auch durch die Beseitigung des Kassationsverbots im Beschwerdeverfahren und die Neustrukturierung der Bestimmung durch BGBl I 2010/111 nichts geändert.

Die von der Generalprokuratur vorgenommene extensive Interpretation hätte zudem vom Oberlandesgericht zutreffend ausgeführt die unerwünschte und dem Gesetzgeber nicht zuzusinnende Konsequenz, dass das Beschwerdegericht über die wie dargelegt noch auf „Gebrechen des Verfahrens“ beschränkten Befugnisse des § 114 Abs 4 StPO aF (und jene des Obersten Gerichtshofs bei einem Vorgehen nach §§ 290 Abs 1, 292 letzter Satz, 362 StPO) hinaus sogar dazu legitimiert wäre, rechtskräftige Beschlüsse nicht nur aufgrund von Rechtsfehlern, sondern aus allen denkbaren Gründen (etwa in Ausübung richterlichen Ermessens) zu ändern (arg: „Beschlüsse … ändern“; in diesem Sinne aber wohl [unbegründet] Bertel/Venier , Kommentar zur StPO § 89 Rz 6; Bertel/Venier , StPO 7 Rz 171).

Für die von der Beschwerde hervorgehobene (insoweit einschränkende) Ansicht von Fabrizy (StPO 11 § 89 Rz 4), der sich hiezu, ebenso wie (durch Verweis darauf) Tipold (WK-StPO § 89 Rz 16, auf welche Kommentarstelle wiederum in einem obiter dictum in 12 Os 31/14x, EvBl 2014/90 verwiesen wird), auf eine zu § 114 StPO aF ergangene Entscheidung (11 Os 145, 146/82, EvBl 1983/87 = SSt 53/63) stützt, wonach das Rechtsmittelgericht zur Beseitigung einer sich zum Nachteil des Beschuldigten auswirkenden materiellrechtlichen Gesetzesverletzung auch dann verpflichtet sei, wenn die Beschwerde verspätet oder unzulässig ist, lassen sich weder dem Gesetzestext noch den Materialien Anhaltspunkte entnehmen.

Soweit die Generalprokuratur schließlich die Intention des Gesetzgebers, den Rechtsmittelgerichten die Befugnis amtswegiger Wahrnehmung von Gesetzesverstößen in Ansehung von (im Sinn des § 89 Abs 2 StPO unzulässig bekämpften) Beschlüssen einzuräumen, aus den für Urteile geltenden Bestimmungen (§§ 290 Abs 1, 471, 489 Abs 1 zweiter Satz StPO; Ratz , WK-StPO § 290 Rz 14 f) abzuleiten versucht, übersieht sie, dass dem Gesetz eine § 290 StPO („Überzeugt er sich jedoch aus Anlass einer von wem immer ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde ...“) entsprechende Bestimmung für Beschlüsse eben gerade nicht zu entnehmen ist. Im Übrigen spricht § 290 Abs 1 zweiter Satz erster Halbsatz StPO bloß die (materiellen) Nichtigkeitsgründe des § 281 Abs 1 Z 9 bis 11 StPO, sohin einen klar abgrenzbaren Bereich von Rechtsverstößen an, die sich (abgesehen von Feststellungsmängeln) unmittelbar aus der angefochtenen Entscheidung ableiten lassen, und besteht darüber hinaus auch bei nach § 285a Z 1 StPO wegen Verspätung und mangels Beschwerdelegitimation unzulässigen Nichtigkeitsbe-schwerden (oder wenn sämtliche Nichtigkeitsbeschwerden vor der nichtöffentlichen Sitzung oder dem Gerichtstag zurückgezogen werden) insoweit keine von der Generalprokuratur in Ansehung von Beschlüssen angestrebte Überprüfungs pflicht des Obersten Gerichtshofs (vgl erneut Ratz , WK-StPO § 290 Rz 18; vgl zur Unzulässigkeit analoger Anwendung von § 290 Abs 1 zweiter Satz StPO auf Beschlüsse auch Ratz , WK-StPO § 292 Rz 40).

Insoweit war die Nichtigkeitsbeschwerde daher zu verwerfen.

Rechtssätze
6