JudikaturJustiz14Os53/17a

14Os53/17a – OGH Entscheidung

Entscheidung
05. September 2017

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 5. September 2017 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Wukovits, LL.M., als Schriftführerin in der Auslieferungssache des Alexandr G*****, AZ 313 HR 24/15z des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag der betroffenen Person auf Erneuerung des Verfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Mit Beschluss vom 13. Jänner 2017, GZ 313 HR 24/15z 35, erklärte der Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien die von der Russischen Föderation mit Note deren Generalstaatsanwaltschaft vom 26. November 2014 (ON 2) begehrte (nachträgliche) Auslieferung des bereits am 11. Dezember 2013 an die Russische Föderation ausgelieferten (vgl zuletzt 14 Os 52/15a) russischen Staatsangehörigen Alexandr G***** zur Strafverfolgung hinsichtlich einiger der im Ersuchen (samt ergänzenden Unterlagen [ON 27]) beschriebenen Tatvorwürfe – nach den Bestimmungen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens (BGBl 1969/320 idgF) ergänzt durch das zweite Zusatzprotokoll (BGBl 1983/297) – für (nicht un-)zulässig, hinsichtlich weiterer jedoch für unzulässig. Der gegen die Erklärung der Zulässigkeit der Auslieferung gerichteten Beschwerde der betroffenen Person (ON 39) gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 5. Mai 2017, AZ 22 Bs 37/17b (ON 49), nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich der auf die Behauptung einer Verletzung der Art 2, 3 und 6 MRK gestützte (rechtzeitige) Antrag des Alexandr G***** auf Verfahrenserneuerung gemäß § 363a StPO.

Ein nicht auf eine Entscheidung des EGMR gestützter Erneuerungsantrag hat nicht nur deutlich und bestimmt darzulegen, worin eine (vom Obersten Gerichtshof sodann selbst zu beurteilende) Grundrechtsverletzung im Sinn des § 363a Abs 1 StPO zu erblicken sei, sondern hat sich dabei auch mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung in allen relevanten Punkten

auseinanderzusetzen (RIS-Justiz

RS0124359) und seine Argumentation grundsätzlich (soweit nicht Begründungsmängel aufgezeigt oder erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit getroffener Feststellungen geweckt werden) auf Basis der Tatsachenannahmen der bekämpften Entscheidung (methodengerecht) zu entwickeln (RIS-Justiz RS0125393 [T1]).

Indem der Erneuerungswerber eine Verletzung der Art 2 und 3 MRK (zum Prüfungsmaßstab des EGMR bei durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen reklamierten Verletzungen der Art 2 und 3 MRK vgl 13 Os 150/07v mwN sowie die Alexandr G***** betreffenden Entscheidungen 14 Os 145/13z und 14 Os 28/15x) und des Art 6 MRK zunächst mit der bloßen Behauptung reklamiert, das Oberlandesgericht hätte die nachträgliche Auslieferung für unzulässig erklären müssen, weil „eine auf das konkrete Verfahren bezogene diplomatische Zusicherung, die konkret die Rechte nach Art 2, 3 und 6 EMRK umfasst“, nicht vorliege, wird sie diesen Kriterien nicht gerecht und setzt sich mit der Annahme des Beschwerdegerichts, die von der russischen Generalstaatsanwaltschaft abgegebenen Zusicherungen, insbesondere jene der Anhaltung der betroffenen Person in einer speziellen Justizanstalt und des jederzeitigen Besuchsrechts durch Botschaftsangehörige, würde fallkonkret die Gefahr von Folter oder sonstige schwere sowie irreparable Misshandlungen hintanhalten (ON 49 S 11 iVm ON 2 S 9), nicht fundiert auseinander.

Weshalb die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, ernsthaften (gewichtigen) Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung der betroffenen Person im Empfangsstaat (vgl RIS-Justiz RS0123229, RS0123201, RS0118200) nicht als hinreichend konkret und schlüssig nachgewiesen erachtet wurde, hat das Oberlandesgericht ausführlich insbesondere damit begründet, dass die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation mehrere als zuverlässig gewertete Zusicherungen („insbesondere die Anhaltung in einer speziellen Justizanstalt und das jederzeitige Besuchsrecht durch Botschaftsangehörige“) abgegeben habe (vgl zu diesen ON 2 S 7 f), durch das Inkrafttreten des Gesetzes der Russischen Föderation über die Änderungen des Föderalen Verfassungsgesetzes über den Verfassungsgerichtshof der Russischen Föderation ein konkretes, den erteilten Zusicherungen widerstreitendes Risiko der auszuliefernden Person nicht geschaffen worden sei (vgl auch 12 Os 154/15m), diese bezüglich ihrer mehr als drei Jahre währenden Haft in Russland „konkrete Misshandlungen oder menschenunwürdige Haftbedingungen“ nicht nennen habe können, in Betreff der behaupteten Verweigerung der Religionsausübung durch einen vorgelegten Zeitungsartikel lediglich „das unentschuldigte Fehlen G*****s bei einem Appell wegen heimlichen Besuchs“ einer Synagoge nachgewiesen worden sei, durch die behaupteten Vorkommnisse im Zusammenhang mit dem Abgeordneten zum russischen Parlament M***** eine politische Verfolgung nicht nachvollziehbar bescheinigt worden sei, es sich „bei den inkriminierten Tathandlungen um herkömmliche Wirtschaftskriminalität – wenngleich höherer Ordnung –“ handle und der Nachweis einer ständigen Praxis umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen (vgl dazu

RIS Justiz

RS0123229 [T12]) nicht erbracht worden sei (ON 49 S 10 ff). Indem der Erneuerungswerber unter Wiederholung seines Beschwerdevorbringens (ON 39 S 9 ff) neuerlich behauptet, die Haftbedingungen in der Russischen Föderation würden grundsätzlich nicht den europäischen Standards entsprechen und er werde aus politischen Gründen verfolgt, setzt er sich mit den Erwägungen des Beschwerdegerichts inhaltlich nicht ausreichend auseinander und zeigt mit seinen eigenen Überlegungen eine Fehlbeurteilung nicht auf.

Mit den Hinweisen auf eine Erklärung der Russischen Föderation zur Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof, die mediale Kritik des russischen Präsidenten an einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs und auf Berichte der „Tagespresse“ wird weder ein konkretes Risiko für Folter oder Misshandlung der auszuliefernden Person noch eine Situation systematischer Menschenrechtsverletzungen im Zielstaat, die diplomatische Zusicherungen generell wertlos erscheinen ließe (vgl 14 Os 10/16a [14 Os 11/16y] mwN; Göth-Flemmich in WK 2 ARHG Vor §§ 10–25 Rz 7 f), aufgezeigt.

Eine Verletzung des Art 3 MRK reklamiert der Erneuerungswerber auch mit der Behauptung, das Oberlandesgericht habe abweichend von den Auslieferungsunterlagen die ihm vorgeworfenen gesetzwidrigen Kreditvergaben nicht „unter einem einzelnen Tatvorwurf zusammengefasst“, sondern die Auslieferung „hinsichtlich jedes einzelnen genannten Vertrags für zulässig erklärt“, weshalb nunmehr eine gesonderte Verurteilung in Betreff von 29 Kreditverträgen und zufolge des in der Russischen Föderation geltenden Kumulationsprinzips in Summe eine Freiheitsstrafe von mehreren hundert Jahren möglich sei. Abgesehen davon, dass der Erneuerungswerber eine derartige Bindung der russischen Gerichte an Formulierungen in der gegenständlichen Auslieferungsentscheidung ohnehin nicht schlüssig nachweist, sondern darüber bloß spekuliert, dass die russische Strafprozessordnung ein solches Vorgehen zulassen würde, vernachlässigt er, dass Fragen des geeigneten Strafmaßes grundsätzlich außerhalb des Anwendungsbereichs der Konvention liegen, der EGMR bei der Annahme einer (lediglich) aus der zu erwartenden Strafhöhe resultierenden Gefahr im Sinn des Art 3 MRK sehr zurückhaltend ist und einen großen Beurteilungsspielraum unterschiedlicher Strafrechtsordnungen in dieser kriminalpolitischen Frage akzeptiert (

vgl 14 Os 41/12d mwN).

Dass der Antragsteller bei einer Verurteilung wegen der ihm vorgeworfenen Straftaten zu einer derart hohen Haftstrafe, die de facto einer lebenslangen Freiheitsstrafe gleichkommt, keine rechtliche und tatsächliche Aussicht auf Entlassung hätte und keine Möglichkeit zur Überprüfung der Haft gegeben wäre, behauptet er ohnehin nicht (

vgl zu lebenslangen Freiheitsstrafen RIS-Justiz RS0126647

,

RS0126646, RS0118079 [T2]; Grabenwarter/Pabel , EMRK 6 § 20 Rz 46).

Eine Verletzung des Art 6 MRK sieht der Erneuerungswerber in der Beurteilung des Oberlandesgerichts, er habe nicht den Nachweis erbracht, dass ihm in der Russischen Föderation eine offenkundige Verweigerung eines fairen, den Verfahrensgarantien des Art 6 MRK entsprechenden Verfahrens (vgl dazu RIS Justiz RS0123200) drohe (ON 49 S 8 ff). Den dazu getroffenen Annahmen des Beschwerdegerichts, wonach die erfolgreiche Bekämpfung einerseits von Handlungen eines russischen Untersuchungsführers und andererseits einer Sicherstellung im Zuge der gegen Alexandr G***** geführten Verfahren zeige, „dass russische Gerichte nicht willkürlich und in Art 6 MRK widersprechender Weise ein Strafverfahren gegen den Betroffenen abführen, selbst wenn sich im Ermittlungsverfahren Abhilfe im Wege der Anklagebehörde als problematisch erweist“, wonach weiters das Ersuchen um nachträgliche Auslieferung durch die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation demonstriere, dass Auslieferungsbestimmungen sowie der Spezialitätsgrundsatz ernst genommen würden und die Einflussnahme auf die Zeugin Tatiana L***** lediglich behauptet werde (ON 49 S 9 f), stellt der Erneuerungsantrag – wiederum unter Wiederholung des Beschwerdevorbringens, aber unter Vernachlässigung der als zuverlässig angesehenen, auch Art 6 MRK betreffenden Zusicherungen der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation (ON 2 S 7 f) – nur seinen eigenen Prozessstandpunkt gegenüber, ohne Begründungsmängel (§ 281 Abs 1 Z 5 StPO) oder erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit getroffener Feststellungen (§ 281 Abs 1 Z 5a StPO) aufzuzeigen.

Soweit ein Verstoß gegen Art 6 MRK mit der Behauptung reklamiert wird, das Oberlandesgericht habe eine eigenständige Prüfung des Tatverdachts abgelehnt, obwohl es dem Erneuerungswerber aufgrund der im Auslieferungsersuchen enthaltenen vagen und rechtlich widersprüchlichen Angaben zum Tatverdacht nicht nachvollziehbar gewesen sei, „welcher Tatbestand überhaupt Gegenstand des Tatverdachts sein soll“, und ein Schaden durch die Kreditvergaben gar nicht eingetreten sei, setzt sich der Erneuerungsantrag nicht mit den Feststellungen des Beschwerdegerichts zum Tatverdacht (ON 49 S 2 ff und 7) und dessen rechtlicher Qualifikation (ON 49 S 6 f), sowie der Annahme auseinander, dass die Voraussetzungen zur Durchbrechung des im Auslieferungsverfahren geltenden formellen Prüfungsprinzips (vgl RIS-Justiz RS0125233) im gegenständlichen Fall gerade nicht vorlagen (ON 49 S 7 f). Substantiierte Gründe für eine dem Erneuerungswerber drohende Verletzung der Verfahrensgarantien des Art 6 MRK zeigt er mit diesem Vorbringen nicht auf.

Durch die (erstmals) im Erneuerungsantrag vorgebrachte Behauptung, der Erneuerungswerber sei am 19. Mai 2017 (sohin nach der Beschwerdeentscheidung) aus der Haft entlassen worden, ihm werde jedoch die Ausstellung eines Reisepasses verweigert, um einen 44 Tage überschreitenden Aufenthalt in der Russischen Föderation zu erzwingen und damit den in Art 461 Abs 2 der Russischen Strafprozessordnung normierten Entfall des Spezialitätsgrundsatzes zu erwirken (vgl aber Art 461 Abs 2 Z 1 der vom Erneuerungswerber vorgelegten Übersetzung des genannten Gesetzes, wonach in die 44-tägige Frist die Zeit nicht eingerechnet wird, in der die ausgelieferte Person ohne ihr Verschulden das Staatsgebiet nicht verlassen konnte), wird ebenfalls kein Begründungsdefizit aufgezeigt. Neuerungen zum Sachverhalt – die im Übrigen geeignet sein müssten, die (aus dem Gesetz abgeleitete) Unzulässigkeit der Auslieferung zu bewirken – können nur Gegenstand einer Wiederaufnahme sein (vgl 13 Os 80/16p [13 Os 92/16b]; Ratz , EvBl 2016/69, 467 [Hinweis zu 12 Os 154/15m]).

Der Erneuerungsantrag war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bereits bei der nichtöffentlicher Beratung als offenbar unbegründet zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO; zum ergänzenden Vorbringen in der Äußerung zur Stellungnahme der Generalprokuratur vgl RIS Justiz RS0123231 [T1]).

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