JudikaturJustiz14Os15/06x

14Os15/06x – OGH Entscheidung

Entscheidung
04. April 2006

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 4. April 2006 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Holzweber als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Philipp, Hon. Prof. Dr. Schroll, Hon. Prof. Dr. Kirchbacher und Mag. Hetlinger als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Westermayer als Schriftführerin in der Strafsache gegen Markus M***** wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichtes Wels als Schöffengericht vom 15. September 2005, GZ 13 Hv 126/03p-33, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Staatsanwalt Mag. Leitner, des Angeklagten Markus M***** und seines Verteidigers Dr. Rumplmayr zu Recht erkannt:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.

Der Berufung der Staatsanwaltschaft wird dahin Folge gegeben, dass unter Ausschaltung des § 43a Abs 2 StGB über den Angeklagten eine Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten verhängt wird, wovon gemäß § 43a Abs 3 StGB ein Strafteil von zwölf Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wird. Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Markus M***** des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB schuldig erkannt.

Danach hat er am 11. Juli 2003 in Neukirchen an der Vöckla an der am 16. Februar 1994 geborenen Isabella H*****, somit an einer unmündigen Person, dadurch eine dem Beischlaf gleichzusetzende Handlung vorgenommen, dass er mit seinem Finger in die Scheide der Unmündigen eindrang.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die aus Z 4, 5, 5a und 10 des § 281 Abs 1 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der keine Berechtigung zukommt.

Entgegen der Verfahrensrüge (Z 4) wurden durch die Abweisung des Beweisantrages (S 265) auf Einvernahme der Zeugin Manuela P***** zum Beweis dafür, dass „die Kassette" (ersichtlich gemeint eine dem Gericht vom Angeklagten vorgelegte Pornokassette) „tatsächlich von Thomas H***** (dem Bruder des Tatopfers) stammt, dies trotz der heutigen Aussage des Zeugen" (ersichtlich gemeint Andreas H*****), keine Verteidigungsrechte verletzt.

Aus der mit dem Antrag gerade noch ersichtlich unter Beweis gestellten bloßen Möglichkeit der Unmündigen, die in Rede stehende Videokassette zu sehen, ist für den Angeklagten nichts zu gewinnen. Hinsichtlich der - unter dem Gesichtspunkt der Beweiskraft der einzigen Tatzeugin erheblichen (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 340) - Frage, ob Isabella H***** aber den Pornofilm tatsächlich gesehen hat, was sie vor Gericht ausdrücklich verneinte (S 266) und von der psychologischen Sachverständigen Dr. Maria R***** als eher unwahrscheinlich eingestuft wurde (S 267), lässt sich diesbezüglich kein Schluss ziehen.

Auf das erst im Rechtsmittel erstattete ergänzende Vorbringen ist nicht einzugehen, weil der Oberste Gerichtshof die Berechtigung des Antrages stets auf den Antragszeitpunkt bezogen überprüft und erst in der Beschwerde nachgetragene Gründe daher unbeachtlich sind (Ratz, aaO Rz 325).

Die zunächst eine Unvollständigkeit der Urteilsgründe (Z 5 zweiter Fall) behauptende Mängelrüge bezeichnet den geltend gemachten Nichtigkeitsgrund nicht deutlich und bestimmt (§ 285a Z 2 StPO), weil sie nicht eine Erörterung in der Hauptverhandlung vorgekommener Verfahrensergebnisse vermisst, sondern unter Darlegung eigener Spekulationen zum „typischen Verhalten" von Täter und Opfer in „vergleichbaren Fällen", welches die hier Beteiligten nicht gezeigt hätten (Heranlockung des Opfers mittels Süßigkeiten an einen sicheren Ort, Anbot von Schweigegeld oder Androhung von Konsequenzen bei Bekanntwerden des Geschehens, Inanspruchnahme psychischer Hilfe und Meidung des Täters durch das Opfers), in unzulässiger Weise nach Art einer Schuldberufung die Beweiswürdigung des Schöffengerichtes (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 451) bekämpft, ohne einen Begründungsfehler aufzuzeigen.

Wie die Mängelrüge selbst einräumt, haben sich die Tatrichter ausführlich mit den ins Treffen geführten Umständen, dass im Genitalbereich der Isabella H***** weder Verletzungen oder Rötungen noch Schmutzanhaftungen festgestellt werden konnten, auseinandergesetzt (US 4 und 6). Indem der Beschwerdeführer den Urteilsannahmen bloß eigene Auffassungen und Erwägungen gegenüberstellt und die Schlüsse des Erstgerichtes als nicht zwingend ansieht, zeigt er keinen Fall der Z 5 auf.

Entgegen dem weiteren Vorbringen der Mängelrüge enthält das Ersturteil auch keine Scheinbegründung zur subjektiven Tatseite. Das Schöffengericht hat vielmehr aus dem objektiven Tatgeschehen, wonach der Angeklagte, von Beruf Krankenpfleger, seine 9-jährige Nachbarin - ohne medizinische Notwendigkeit - dazu aufforderte, Hose und Unterhose auszuziehen, daraufhin mit seinem Finger tief in die Scheide des Mädchens eindrang und diesen kurz darauf wieder herausnahm, im Einklang mit den Gesetzen folgerichtigen Denkens und grundlegenden Erfahrungssätzen die für § 206 Abs 1 StGB deliktsspezifische Vorsatzkomponente abgeleitet, zumal es nicht erforderlich ist, dass der Täter auch die rechtliche Wertung der einer besonderen Auslegung bedürftigen normativen Begriffe juristisch exakt vornimmt (vgl Reindl in WK² § 5 Rz 12; Mayerhofer StGB5 § 5 E 1e).

Im Übrigen übersieht der Rechtsmittelwerber, dass es in subjektiver Hinsicht für die Verwirklichung des § 206 Abs 1 StGB genügt, dass der (Eventual )Vorsatz des Täters alle Tatbildmerkmale, also das Unternehmen des Beischlafs oder einer gleichwertigen Handlung und das Alter des Opfers (Unmündigkeit) umfasst. Eine auf geschlechtliche Erregung oder Befriedigung gerichtete Tendenz verlangt das Gesetz nur in den hier nicht aktuellen, auf die Verleitung des Opfers zur Selbstvornahme von (qualifizierten) geschlechtlichen Handlungen abstellenden Fällen der §§ 206 Abs 2 zweiter Fall, 207 Abs 2 zweiter Fall sowie 212 Abs 1 und Abs 2 jeweils letzter Fall StGB. Hingegen erfordert der Tatbestand des § 206 Abs 1 StGB keine solche sexuelle Tätermotivation.

Die Tatsachenrüge (Z 5a) wiederholt im Wesentlichen das Vorbringen zur Mängelrüge, ohne damit sich aus den Akten ergebende erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der dem Schuldspruch zugrunde liegenden entscheidenden Tatsachen aufzuzeigen.

Der Beschwerdeführer versucht hier vielmehr unter Hervorhebung isolierter (negativer) Verfahrensergebnisse und ohne Befassung mit den diesbezüglichen Erwägungen des Erstgerichtes die ihn „nicht überzeugende" Beweiswürdigung der Tatrichter und deren persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit einer Beweisperson zu bekämpfen. Die sinngemäß eine Unterlassung der amtswegigen Durchführung eines Lokalaugenscheins zur Überprüfung, „ob der Genitalbereich eines Kindes, das in einer Hängematte sitzt, dann, wenn die Beine - notwendigerweise - ein bisschen gespreizt sind, zugänglich ist oder nicht", reklamierende Aufklärungsrüge versagt schon deshalb, weil der Nichtigkeitswerber nicht darlegt, aus welchem Grund er an einer entsprechenden Antragstellung in der Hauptverhandlung zu seinen im Verfahren nie geäußerten Schlussfolgerungen aus den Tatumständen gehindert war (WK-StPO § 281 Rz 480).

Letztlich zielt die Subsumtionsrüge (Z 10) - unter grundsätzlich zutreffender, aber bloß teilweiser Darstellung der Judikatur zu dieser Problematik - auf die rechtliche Beurteilung der vom Schuldspruch umfassten Tat (bloß) als Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB ab und führt zur Begründung zusammengefasst aus, das im vorliegenden Fall festgestellte kurze tiefe Einführen des Fingers in die Scheide der Isabella H***** stelle keine dem Beischlaf gleichwertige Handlung dar, weil hiefür eine intensive körperliche Verbindung von zwei Personen erforderlich sei und die Frage des Alters des Opfers im Rahmen der Prüfung der „Beischlafadäquanz" keine Rolle spielen könne. Dem Rechtsmittelwerber ist insoferne beizupflichten, als das Einführen eines Fingers in die Scheide einer weiblichen Person nur dann als eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung qualifiziert werden kann, wenn hiedurch nach Intensität der sexuellen Inanspruchnahme des Opfers, Schwere des Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung und Ausmaß der Demütigung und Erniedrigung ein Schweregrad erreicht wird, der einem Beischlaf gleichkommt (12 Os 101/04, 11 Os 101/99, 14 Os 61/95 ua).

Entgegen seinem Rechtsstandpunkt ist dabei aber eine fallspezifische Gesamtbetrachtung aus Sicht der Täter- und Opferseite anzustellen, wobei sehr wohl auch das (geringe) Alter des Tatopfers miteinzubeziehen ist (12 Os 29/02; vgl auch 11 Os 80/02). Im gegebenen Fall hat das Erstgericht das tiefe Eindringen (US 3, vgl auch S 36) eines Fingers in die Scheide des zum Tatzeitpunkt erst 9-jährigen Mädchens (auch aufgrund der damit verbundenen Verletzung der psychischen und physischen Integrität sowie der Würde der Unmündigen) zutreffend als in der Summe ihrer Auswirkungen und Begleiterscheinungen einen höheren Unwertgehalt als die in § 207 StGB verpönten Angriffe auf die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung aufweisende, sohin dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung angesehen, zumal es für das Tatbildmerkmal des „Unternehmens" des mit Strafe bedrohten Angriffs auf dessen Dauer und Vollständigkeit nicht ankommt. Damit wurde das inkriminierte Täterverhalten rechtsrichtig § 206 Abs 1 zweiter Fall StGB subsumiert (vgl dazu insgesamt 11 Os 80/02, 14 Os 42/03, 11 Os 88/05h mwN). Nicht nachvollziehbar ist der Rechtsmittelantrag, „nach § 288a StPO die Hauptverhandlung zu vernichten", weil der Nichtigkeitsgrund des §281a StPO, auf den § 288a StPO abstellt, nicht herangezogen wurde, kein Gericht zweiter Instanz die Versetzung in den Anklagestand ausgesprochen und daher auch kein unzuständiges Oberlandesgericht entschieden hat.

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher zu verwerfen.

Das Schöffengericht verurteilte Markus M***** nach § 206 Abs 1 zweiter Fall StGB unter Anwendung § 43a Abs 2 StGB zu einer Geldstrafe von 300 Tagessätzen à 15 Euro, für den Fall der Uneinbringlichkeit zu 150 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe, sowie zu einer für eine 3-jährige Probezeit bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von 13 Monaten.

Dabei wertete es keinen Umstand erschwerend, mildernd dagegen den bisher ordentlichen Lebenswandel des Angeklagten.

Diesen Strafausspruch bekämpfen die Staatsanwaltschaft mit dem Ziel der Erhöhung der Freiheitsstrafe unter Ausschaltung des § 43a Abs 2 StGB und der Angeklagte, der eine Herabsetzung der Sanktion unter Anwendung des § 41 StGB, deren gänzlich bedingte Nachsicht nach § 43 Abs 1 StGB sowie die bedingte Nachsicht der Rechtsfolge nach § 44 Abs 2 StGB anstrebt, jeweils mit Berufung.

Lediglich der Berufung der Staatsanwaltschaft kommt teilweise Berechtigung zu.

Das vom Angeklagten ins Treffen geführte Wohlverhalten seit der am 11. Juli 2003 begangenen Tat stellt - seinem Rechtsstandpunkt zuwider - den Milderungsgrund des § 34 Abs 1 Z 18 StGB nicht dar, weil als längere Zeit eine Zeitspanne zu verstehen ist, die sich an der fünfjährigen Rückfallsverjährungsfrist des § 39 Abs 2 StGB orientiert (Ebner in WK² § 32 Rz 46).

Bei gebotener abwägender Gesamtbetrachtung aller Umstände des konkreten Straffalles ist auch die Dauer des im Juli 2003 eingeleiteten und Markus M***** zu diesem Zeitpunkt bekanntgemachten (ON 3) Verfahrens nicht als unverhältnismäßig lang im Sinne § 34 Abs 2 StGB zu werten.

Weder das nunmehr getrübte nachbarschaftliche Verhältnis in der vom Angeklagten und seiner Familie bewohnten Siedlung noch der hervorgehobene Umstand, dass der Neffe des Markus M***** „Spielgefährten verloren habe", sind als gewichtige tatsächliche Nachteile iSd § 34 Abs 1 Z 19 StGB zu beurteilen. Ein bereits eingetretener Verlust des Arbeitsplatzes wurde nicht behauptet, sodass der reklamierte Nichtigkeitsgrund schon deshalb nicht zum Tragen kommt.

Dagegen zeigt die Staatsanwaltschaft zutreffend auf, dass die Ausnützung des Vertrauens der Unmündigen zu dem - ihr als Nachbar und in medizinischen Belangen versiert bekannten - Angeklagten einen zusätzlichen Erschwerungsgrund darstellt.

Bei der Schuldabwägung im Sinn des § 32 StGB war überdies das - im Verhältnis zur Altersgrenze des § 206 StGB - geringe Alter des Mädchens zu berücksichtigen.

Damit ist aber fallbezogen von keinem - nicht auf die Zahl, sondern auf das Gewicht der Strafzumessungsgründe abzustellenden (Flora in WK² § 41 Rz 11) - beträchtlichen Überwiegen der Milderungs- über die Erschwerungsgründe auszugehen. Die vom Angeklagten angestrebte Anwendung des § 41 StGB kommt daher nicht in Frage. Ausgehend von den solcherart ergänzten Strafzumessungsgründen und obigen Erwägungen ist vielmehr eine Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten tatschuld- und täterpersönlichkeitsgerecht. Der schwere sexuelle Missbrauch eines neunjährigen Mädchens verbietet bei der gegebenen Fallgestaltung - dem akzentuierten gesellschaftlichen Störwert entsprechend - schon im Hinblick auf den mangelnden kritischen Zugang des Angeklagten zu seinem inkriminierten Verhalten und angesichts der in der Tathandlung manifest gewordenen Persönlichkeit des Täters, der in einem medizinischen Pflegeberuf tätig und damit zur besonderen Achtung und dem behutsamen Umgang mit der sexuellen Integrität anderer verhalten ist und demgegenüber aktuell nicht nur das Vertrauen des Kindes sondern auch sein aus seiner Beschäftigung resultierendes Ansehen als medizinisch geschulte Person ausgenützt hat, nicht nur die von ihm angestrebte Anwendung des § 43 Abs 1 StGB sondern - wie die Staatsanwaltschaft zutreffend aufzeigt - auch jene des § 43a Abs 2 StGB. Wenn auch unter Berücksichtigung des bisher ordentlichen Lebenswandels nicht der von der Anklagebehörde geforderte Vollzug der gesamten Freiheitsstrafe geboten ist, ist diese Berufungswerberin insoweit im Recht, als es aus den aufgezeigten spezial- und generalpräventiven Erwägungen des Vollzugs von sechs Monaten Freiheitsstrafe bedarf, um hinsichtlich des Restes der Sanktion die Voraussetzungen des § 43 StGB bejahen zu können. Demgemäß war - in teilweiser Stattgebung der Berufung der Staatsanwaltschaft - über den Angeklagten eine Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten zu verhängen, wovon gemäß § 43a Abs 3 StGB ein Strafteil von zwölf Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachzusehen war.

Der vorliegende Fall eignet sich nicht für die vom Angeklagten angestrebte Nachsicht der in § 55 oö L-VBG vorgesehenen Rechtsfolge. Die Kostenentscheidung gründet auf § 390a Abs 1 StPO.

Rechtssätze
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