JudikaturJustiz14Os128/03

14Os128/03 – OGH Entscheidung

Entscheidung
19. September 2003

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. September 2003 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Mag. Strieder als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Ratz und Dr. Philipp als weitere Richter, in Gegenwart des Richters Mag. Engelmann als Schriftführer, in der beim Landesgericht Wiener Neustadt zum AZ 32 Ur 78/03z anhängigen Strafsache gegen Tomas V***** und andere Beschuldigte wegen des Verbrechens des schweren und gewerbsmäßigen Betruges nach §§ 146, 147 Abs 2, 148 erster Fall StGB und einer anderen strafbaren Handlung über die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten Tomas V***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien als Beschwerdegericht vom 19. August 2003, AZ 17 Bs 216/03, GZ 32 Ur 78/03z-59, nach Anhörung des Generalprokurators zu Recht erkannt:

Spruch

Tomas V***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

Dem Bund wird der Ersatz der mit 700 Euro bestimmten Beschwerdekosten an den Beschwerdeführer auferlegt.

Text

Gründe:

Mit Beschluss vom 19. August 2003, AZ 17 Bs 216/03, gab das Oberlandesgericht Wien einer weiteren Beschwerde des Tomas V***** gegen die vom Untersuchungsrichter beschlossene Fortsetzung der am 23. Mai 2003 verhängten Untersuchungshaft keine Folge und setzte diese aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO fort.

Rechtliche Beurteilung

Den nicht an § 182 Abs 4 zweiter Satz (§ 179 Abs 4 Z 2 StPO) ausgerichteten Sachverhaltsannahmen des Oberlandesgerichtes (dessen Fortsetzungsbeschluss jenen des Untersuchungsrichters nicht bloß zu beurteilen, vielmehr zu ersetzen hat und demnach eine neue - reformatorische - Entscheidung darstellt; 14 Os 47/02 = RIS-Justiz RS116421) zufolge ging dieses erkennbar von hoher Wahrscheinlichkeit aus, der Beschuldigte habe von Jänner 2003 bis Mitte Februar 2003 als Mittäter von Ion N***** und Nenad V***** einen durch Einkleben eines Ion N***** zeigenden Lichtbildes verfälschten, auf Franco M***** "lautenden" (nicht nach den Kriterien des § 224 StGB beschriebenen) Reisepass zum Beweis der Ausstellung des Papiers für Ion N***** bei der Eröffnung je eines Kontos bei vier nicht näher genannten Bankinstituten gebraucht;

mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz als Mittäter von Ion N***** und Nenad V***** in zahlreichen Fällen Angestellte der Firmen L*****, M*****, H***** und T***** zur Aushändigung nicht näher genannter Waren verleitet (Schaden allein der Firma H***** mehr als 11.515 Euro);

Ion N***** dazu bestimmt, "unter Vorlage eines gefälschten Reisepasses bei den Telekombetreibern T-mobile und mobilkom zumindest fünf Handys" (gemeint:) durch Täuschung über Fähigkeit oder Willen, die auflaufenden Telefonrechnungen zu bezahlen, herauszulocken (Gesamtschaden ca 11.500 Euro).

Eine "gesetzliche Bezeichnung" der dem dringenden Tatverdacht zugrundeliegenden Taten nahm das Oberlandesgericht nicht vor (vgl erneut § 182 Abs 4 zweiter Satz [§ 179 Abs 4 Z 2] StPO), sondern verwies lediglich auf die Einleitung der "Voruntersuchung wegen §§ 146, 147 Abs 2, 148 erster Fall, 223 Abs 2, 224 StGB". Dem gegenüber entbehren auch die Subsumtion der zu Pkt 2 genannten Taten nach § 148 erster Fall StGB und die rechtliche Beurteilung des zu Pkt 1 angeführten Reisepasses als besonders geschützte Urkunde (§ 224 StGB) einer tatsächlichen Basis in den Sachverhaltsannahmen des Fortsetzungsbeschlusses des Beschwerdegerichts. Dieser unterstellt dem Beschuldigten in tatsächlicher Hinsicht nämlich weder die Absicht, sich durch wiederkehrenden Betrug eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen (vgl Jerabek in WK2 § 70 Rz 2), noch enthält er Tatumstände, welche es ermöglichen würden, den auf Franco M***** "lautenden" Reisepass als besonders geschützte Urkunde im Sinn des § 224 StGB einzustufen (dagegen wurde die Qualifikation des § 147 Abs 1 Z 1 StGB [Pkt 2/b] nicht angenommen).

Daher war bei Erledigung der Grundrechtsbeschwerde (auf der Basis dringenden Tatverdachtes) nur von durch zahlreiche Einzeltaten - wenngleich nicht gewerbsmäßig - begangenem schweren Betrug nach §§ 146, 147 Abs 2 StGB mit einem Gesamtschaden von jedenfalls 23.015 Euro und von vierfacher Urkundenfälschung nach § 223 Abs 2 StGB auszugehen (§ 10 GRBG iVm § 290 Abs 1 zweiter Satz [§ 281 Abs 1 Z 10] StPO). Das über die Untersuchungshaft entscheidende Gericht ist, wie zur Klarstellung angemerkt sei, an die rechtliche Beurteilung, welche die Taten im Beschluss auf Einleitung der Voruntersuchung (§ 97 Abs 3 erster Satz StPO) erfahren hatten, nicht gebunden.

Die rechtliche Annahme der Gefahr, der Beschuldigte werde auf freiem Fuße ungeachtet des gegen ihn geführten Strafverfahrens eine strafbare Handlung mit nicht bloß leichten Folgen begehen, die gegen dasselbe Rechtsgut gerichtet ist wie die ihm angelastete strafbare Handlung, wird vom Obersten Gerichtshof im Rahmen des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens dahin überprüft, ob sie aus den angeführten bestimmten Tatsachen abgeleitet werden durfte, ohne dass die darin liegende Ermessensentscheidung als willkürlich angesehen werden müsste (14 Os 82/03 = RIS-Justiz RS 117806). Aus der Zusammenschau von Verweisen auf die Strafakten und von ergänzenden Anmerkungen zur jeweiligen Schadenshöhe (aus § 10 GRBG iVm § 281 Abs 1 Z 5 erster Fall StPO unbeanstandet [vgl Ratz, WK-StPO

§ 281 Rz 32]; der verwiesenen Strafregisterauskunft ist auch das Alter des Beschuldigten von 31 Jahren im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung zu entnehmen; vgl aber auch § 182 Abs 4 zweiter Satz iVm

§ 179 Abs 4 Z 1 StPO) ersichtlich, ist das Oberlandesgericht von mehreren einschlägigen Vorverurteilungen (konkret waren es drei, die aber alle zueinander im Verhältnis des § 31 StGB stehen [S 57], einmal davon mit einer Schadenssumme von 97.000 S, AZ 11 E Vr 10115/98 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien; Tatzeit: 1993) ausgegangen, sodass die notwendigen Bedingungen des herangezogenen Haftgrundes gegeben waren.

Darüber hinaus stellt die im Verhältnis zu dieser Delinquenz - der insoweit unschlüssigen Beschwerdeauffassung zuwider - durchaus gesteigerte kriminelle Energie eine bestimmte Tatsache dar, aus welcher die Befürchtung, also die rechtliche Wertung, einer hohen Wahrscheinlichkeit einer Straftat mit nicht bloß leichten Folgen rechtsfehlerfrei abgeleitet werden konnte. Der sachfremde Hinweis des Oberlandesgerichtes, wonach es "nicht zu Gunsten des Beschuldigten ausschlage", dass dieser sich dem zum AZ 11 E Vr 10115/98 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien geführten Verfahren "durch mehrere Jahre entzogen habe", ändert daran nichts. Im Übrigen kann die in der Begründung des Haftbeschlusses zum Ausdruck kommende sachverhaltsmäßige Bejahung oder Verneinung bloß einzelner von mehreren erheblichen Umständen (= bestimmten Tatsachen), welche erst in der Gesamtschau mit anderen die Prognoseentscheidung tragen, nach § 10 GRBG iVm § 281 Abs 1 Z 5 StPO nicht in Frage gestellt werden, es sei denn, eine solcherart angegriffene bestimmte Tatsache bildete erkennbar eine notwendige Bedingung der Prognose (vgl WK-StPO § 281 Rz 410).

Zutreffend kritisiert die Grundrechtsbeschwerde jedoch einen Verstoß des Beschwerdegerichtes gegen § 180 Abs 1 zweiter Satz (zweiter Fall) StPO. Die Weisung, einer geregelten Arbeit als Reinigungskraft (s die aus S 431 erhellende Zusicherung eines Arbeitsplatzes als Reinigungskraft zu einem monatlichen Bruttolohn von 1.170 Euro) nachzugehen, iVm der beantragten Anordnung der vorläufigen Bewährungshilfe (§ 180 Abs 5 Z 3 und 8 StPO) wäre nämlich nach Ansicht des Obersten Gerichtshofes zur Erreichung des Haftzweckes vorliegend durchaus geeignet gewesen. Vom vorstehend erwähnten, 10 Jahre zurückliegenden Versicherungsbetrug abgesehen, beruhen die einschlägigen Vorstrafen - wie auch das Oberlandesgericht einräumt - auf durchaus geringfügiger Delinquenz. Dazu kommt die nach Ansicht des Gerichtshofs II. Instanz fehlende Absicht des Beschuldigten, sich durch wiederkehrenden Betrug eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen.

In Übereinstimmung mit der Stellungnahme des Generalprokurators war demnach auszusprechen, dass durch den angefochtenen Beschluss eine Verletzung des Grundrechts auf persönliche Freiheit des Tomas V***** stattgefunden hat.

Die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung erschien dem Obersten Gerichtshof erforderlich. Demnach wird der Beschwerdeführer zu enthaften sein.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 8 f GRGB iVm BGBl II 2003/309.

Rechtssätze
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