JudikaturJustiz13Os37/17s

13Os37/17s – OGH Entscheidung

Entscheidung
17. Mai 2017

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 17. Mai 2017 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Hofrat und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, Dr. Bachner-Foregger, Mag. Michel und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Adamowitsch als Schriftführerin in der Strafsache gegen Christian E***** wegen des Vergehens des Betrugs nach § 146 StGB, AZ 6 U 226/16v des Bezirksgerichts Bregenz, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil dieses Gerichts vom 5. Oktober 2016 (ON 15) sowie mehrere Vorgänge erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Gföller zu Recht erkannt:

Spruch

In der Strafsache AZ 6 U 226/16v des Bezirksgerichts Bregenz verletzen

1. der in der Hauptverhandlung am 5. Oktober 2016 (ON 14) erfolgte Vortrag von Aktenstücken § 252 Abs 2a StPO iVm § 447 StPO, in Bezug auf das Protokoll über die polizeiliche Vernehmung des Zeugen Robert L***** (ON 2 S 13 ff) auch § 252 Abs 1 StPO iVm § 447 StPO;

2. die in der Hauptverhandlung am 5. Oktober 2016 (ON 14) ergangene Entscheidung über die privatrechtlichen Ansprüche ohne zuvor erfolgte Vernehmung des Angeklagten hiezu und an ihn gerichtete Aufforderung zur Erklärung über ein allfälliges Anerkenntnis § 245 Abs 1a StPO iVm § 447 StPO.

Das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Bregenz vom 5. Oktober 2016 (ON 15) wird aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht verwiesen.

Text

Gründe:

Vor der für den 21. September 2016 anberaumten Hauptverhandlung entschuldigte sich der ordnungsgemäß geladene Angeklagte Christian E***** telefonisch (ON 11), woraufhin der Bezirksrichter – nach Aufruf der Sache – mit dem Angeklagten ebenfalls telefonisch den 5. Oktober 2016 ausdrücklich „unter Ladungsverzicht“ als „neuen Termin“ vereinbarte (ON 12 S 2).

Der fortgesetzten Verhandlung blieb Christian E***** – nach weiterer einfacher (rückscheinloser) Ladung (ON 13) – unentschuldigt fern. Das Bezirksgericht beschloss daraufhin die Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten (ON 14 S 2). Nach dem Inhalt des Hauptverhandlungsprotokolls wurden nach Verzicht der „Beteiligten des Verfahrens“ auf die „Vorlesung oder Vorführung (§ 252 Abs 1 und 2 StPO)“ und mit deren Zustimmung zu „einem Vortrag/Referat des erheblichen Inhalts der Aktenstücke durch den Richter iSd § 252 Abs 2a StPO“ folgende „den Beteiligten zugängliche Aktenstücke/Beweismittel: Abschlussbericht ON 2, Strafregisterauskunft ON 6, schweizerische Strafregister auskunft ON 7, PB-Anschluss ON 8 samt Beilagen sowie Urteile ON 9 und ON 10“ „referiert“ (ON 14 S 2).

Mit Abwesenheitsurteil vom 5. Oktober 2016 (ON 15) wurde Christian E***** anklagekonform des Vergehens des Betrugs nach § 146 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer Freiheitsstrafe sowie zur Zahlung von 250 Euro an den Privatbeteiligten Robert L***** verurteilt.

Den Entscheidungsgründen zufolge stützte das Bezirksgericht seine Feststellungen zur objektiven Tatseite auch auf die „glaubwürdigen Angaben des Opfers Robert L*****“ (US 3).

Die gegen das Urteil erhobene Berufung des Angeklagten wegen Nichtigkeit und Strafe (ON 19) wies das Landesgericht Feldkirch mit Beschluss vom 20. Dezember 2016 (ON 21) als verspätet zurück.

Rechtliche Beurteilung

Im bezeichneten Verfahren wurde – wie die Generalprokuratur in ihrer gemäß § 23 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt – das Gesetz in mehrfacher Hinsicht verletzt:

1. Gemäß § 252 Abs 1 StPO – der zufolge § 447 StPO auch für die Verhandlung vor dem Bezirksgericht gilt –dürfen Protokolle über die Vernehmung von Zeugen und andere amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten worden sind, in der Hauptverhandlung nur in den in § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO genannten Fällen verlesen werden. Aus dem Nichterscheinen des Angeklagten zur Hauptverhandlung am 5. Oktober 2016 aber konnte kein Einverständnis (im Sinn des § 252 Abs 1 Z 4 StPO) zur Verlesung der Angaben des Opfers Robert L***** (ON 2 S 13 ff) abgeleitet werden, die im Abschlussbericht der Polizeiinspektion Steyr Münichholz vom 7. Juli 2016 (ON 2) enthalten sind (RIS-Justiz RS0117012; vgl auch Kirchbacher , WK-StPO § 252 Rz 103 sowie Bauer/Jerabek , WK-StPO § 427 Rz 13). Da auch keiner der in § 252 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO genannten Fälle vorlag, widersprach diese Verlesung § 252 Abs 1 StPO iVm § 447 StPO.

2. Entsprechendes gilt für die Zulässigkeit der Abstandnahme von der Vorlesung oder Vorführung von Aktenstücken nach § 252 Abs 1, Abs 2 StPO zugunsten eines zusammenfassenden Vortrags ihres Inhalts. Auch die insoweit von § 252 Abs 2a StPO verlangte Zustimmung des Angeklagten kann nicht aus dessen Fernbleiben erschlossen werden (RIS Justiz RS0117012 [T2]).

3. Nach der gemäß § 447 StPO auch im bezirksgerichtlichen Strafverfahren geltenden Bestimmung des § 245 Abs 1a StPO ist der Angeklagte über die gegen ihn erhobenen privatrechtlichen Ansprüche zu vernehmen und zur Erklärung aufzufordern, ob und in welchem Umfang er diese anerkennt. Das bloße Zur Kenntnis Bringen der Erklärung des Geschädigten, sich dem Verfahren als Privatbeteiligter anzuschließen und Rückersatz für den erlittenen Schaden zu begehren, genügt diesen Vorgaben nicht. Bei der vom Gesetz verlangten Vernehmung handelt es sich um ein der Gewährleistung des beiderseitigen rechtlichen Gehörs dienendes Erfordernis, ohne dessen Beachtung ein Zuspruch an den Privatbeteiligten nicht erfolgen darf (RIS-Justiz RS0101178, RS0101197; Kirchbacher , WK-StPO § 245 Rz 23).

Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt haben, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).

In Ansehung des gesetzwidrig erfolgten Privatbeteiligtenzuspruchs steht der Zulässigkeit der Durchbrechung der Rechtskraft die im Sinn des Art 1 des 1. ZPMRK geschützte Position des Privatbeteiligten nicht entgegen, weil bei – wie hier – untrennbar mit dem Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) verbundenen Zusprüchen (§ 366 Abs 2 StPO) im Strafverfahren stets der Schutz des Angeklagten prävaliert (RIS-Justiz RS0124740).

Vom aufgehobenen Urteil rechtslogisch abhängige Entscheidungen und Verfügungen gelten damit gleichermaßen als beseitigt (RIS-Justiz RS0100444).

Rechtssätze
4
  • RS0124740OGH Rechtssatz

    11. März 2024·3 Entscheidungen

    Die Erneuerungsmöglichkeit (auch ohne vorangegangene EGMR-Entscheidung) bedeutet keine unzulässige Beschränkung des aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art 6 Abs 1 MRK) iVm der Präambel der Konvention abgeleiteten Anspruchs auf Rechtssicherheit, maW auf Respektierung der - nach Maßgabe nur des innerstaatlichen Rechtsschutzsystems zu beurteilenden - Rechtskraft von Entscheidungen durch den Staat selbst. In Strafsachen ist die Aufhebung eines grundrechtswidrigen Schuldspruchs des untergeordneten Strafgerichts zum Vorteil des Angeklagten stets möglich. Wurde hingegen über zivilrechtliche Ansprüche im Strafverfahren entschieden, ist die Zulässigkeit einer Durchbrechung der Rechtskraft grundsätzlich auch unter dem Aspekt einer iSd Art 1 des 1. ZPMRK geschützten Position zu prüfen: Bei untrennbar mit einem Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) verbundenen Zusprüchen (§ 366 Abs 2 StPO) prävaliert im Strafverfahren der Schutz des Angeklagten; für den Privatbeteiligten allenfalls nachteilige Wirkungen einer Aufhebungsentscheidung wären als Schadenersatzansprüche im Amtshaftungsverfahren geltend zu machen. Wird hingegen ausnahmsweise im Strafverfahren über - vertragsautonom iSd Art 6 MRK betrachtet - zivilrechtliche, nicht akzessorische Ansprüche entschieden (§§ 6 ff, 9 f MedienG), ist die Entscheidung in der Sache, also auch die Aufhebung der Entscheidung des untergeordneten Strafgerichts jedenfalls dann möglich, wenn der Antragsgegner (als zuvor am Verfahren Beteiligter) einen Erneuerungsantrag unter den oben dargestellten strikten Voraussetzungen gestellt hat, gleichviel, ob die Aufhebung in Stattgebung dieses Antrags oder einer aus dessen Anlass erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes erfolgt. Lediglich bei einer nicht von einem Antrag nach § 363a StPO begleiteten Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes (oder einem Antrag gemäß § 362 Abs 1 Z 2 StPO) kann von dem Ermessen iSd § 292 letzter Satz StPO nicht Gebrauch gemacht werden, während die Feststellung der zum Nachteil eines Verfahrensbeteiligten sich auswirkenden Gesetzes-(Konventions-)verletzung stets (auch zugunsten des Privatanklägers bzw Antragstellers im vorangegangenen Verfahren) möglich ist, weil durch sie die geschützte Rechtsposition eines anderen Verfahrensbeteiligten - iS etwa eines Verstoßes gegen das Verbot der reformatio in peius - nicht tangiert wird. Diese höchstgerichtliche Feststellung einer Gesetzesverletzung hat im Übrigen Bindungswirkung in einem allfälligen Amtshaftungsverfahren und ist solcherart geeignet, die Opfereigenschaft iSd Art 34 MRK zu beseitigen.