JudikaturJustiz12Os4/20k

12Os4/20k – OGH Entscheidung

Entscheidung
29. Januar 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 29. Jänner 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oshidari und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Setz-Hummel in Gegenwart der Schriftführerin OKontr. Kolar in der Strafsache gegen Robert K***** wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 4 Z 3 SMG, AZ 22 HR 79/19t des Landesgerichts für Strafsachen Graz, über die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom 12. Dezember 2019, AZ 8 Bs 448/19x (ON 24 des Hv Akts), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Robert K***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.

Text

Gründe:

Das Landesgericht für Strafsachen Graz verhängte mit Beschluss vom 12. September 2019 (ON 7 S 7; ON 8) über den am 9. September 2019 festgenommenen (ON 5 S 1) Robert K***** die Untersuchungshaft aus den Haftgründen der Verdunkelungs- und Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 2 und 3 lit a und b StPO und setzte diese (jeweils nach Durchführung einer Haftverhandlung) mit Beschlüssen vom 25. September 2019 (ON 12) und vom 25. Oktober 2019 (ON 14) aus denselben Haftgründen fort.

Nachdem Robert K***** am 12. November 2019 seine Enthaftung beantragt hatte (ON 16), führte das Landesgericht für Strafsachen Graz am 25. November 2019 erneut eine Haftverhandlung durch (ON 17). In dieser hob es die Untersuchungshaft unter Anwendung der gelinderen Mittel des § 173 Abs 5 Z 4 und 7 StPO auf und ordnete die Enthaftung des Beschuldigten an (ON 17 S 2; ON 20).

Mit der angefochtenen Entscheidung gab das Oberlandesgericht Graz der Beschwerde der Staatsanwaltschaft Graz (ON 21) gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 25. November 2019 (ON 20) Folge, hob den bekämpften Beschluss auf, setzte die Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO fort und ordnete (in den Gründen [vgl ON 24 S 5]) „aufgrund der Beschwerdeentscheidung“ die neuerliche Festnahme des Robert K***** an.

Dementsprechend ersuchte die Staatsanwaltschaft Graz die zuständige Polizeiinspektion mittels einer Note um „Veranlassung der vom Oberlandesgericht angeordneten Festnahme des Robert K*****“ (ON 25). In der Folge wurde der sich seit 25. November 2019 auf freiem Fuß befindende Beschuldigte am 17. Dezember 2019 „aufgrund der Rechtsmittelentscheidung“ wieder festgenommen und nach Ausfolgung des Beschlusses des Oberlandesgerichts Graz, der auch seinem Verteidiger zugestellt worden war, in die Justizanstalt eingeliefert (ON 1, S 13; ON 27; ON 30). Im Anschluss daran stellte der Haft- und Rechtsschutzrichter der Justizanstalt, dem Verteidiger und dem Beschuldigten eine „Note“ des Inhalts „Haftfrist laut OLG: 17. Februar 2020“ zu (ON 1 S 13).

In seiner Beschwerdeentscheidung erachtete das Oberlandesgericht Graz Robert K***** als dringend verdächtig, in G***** und an anderen Orten im Zeitraum von 2015 bis 2019 vorschriftswidrig Suchtgift in einer das Fünfundzwanzigfache der Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge anderen überlassen zu haben, indem er zumindest 8.300 Gramm Cannabiskraut mit einer Reinsubstanz von 830 Gramm Delta 9-THC (durchschnittlicher vorläufiger Reinsubstanzgehalt von 10 %; 41 Grenzmengen) an Marcel S*****, Bianca Ü***** und weitere noch auszuforschende Abnehmer gewinnbringend verkaufte, wobei sein Vorsatz auf eine Tatbildverwirklichung in Teilmengen gerichtet gewesen sei und auch die kontinuierliche Tatbegehung über einen längeren Deliktszeitraum und den daran geknüpften Additionseffekt sowie die Überschreitung des Fünfundzwanzigfachen der Grenzmenge umfasst habe.

In rechtlicher Hinsicht beurteilte das Beschwerdegericht diese dringende Verdachtslage als Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 4 Z 3 SMG.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen erhobene Grundrechtsbeschwerde des Robert K*****, die sich inhaltlich nur gegen die Annahme des dringenden Tatverdachts zur Überlassung einer das Fünfundzwanzigfache der Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Suchtgiftmenge richtet, ist zulässig (vgl RIS Justiz RS0116263; Kier in WK 2 GRBG § 1 Rz 8), aber nicht berechtigt.

Im Grundrechtsbeschwerdeverfahren kann die Begründung des dringenden Tatverdachts in sinngemäßer Anwendung der Z 5 und 5a des § 281 Abs 1 StPO angefochten werden (RIS-Justiz RS0110146).

Die unter dem Aspekt offenbar unzureichender Begründung (Z 5 vierter Fall) vorgetragene Kritik, die Annahme des Beschwerdegerichts zu einem durchschnittlichen Reinsubstanzgehalt des tatverfangenen Suchtgifts von 10 % sei zur Gänze unbegründet geblieben, übergeht die dazu erfolgten Erwägungen, es sei „ausgehend von den Angaben des Marcel S*****, wonach das Marihuana des Beschuldigten von besonders guter Qualität war“, mit „höhergradiger Wahrscheinlichkeit“ davon auszugehen, dass das vom Beschuldigten überlassene Cannabis einen „vorläufigen durchschnittlichen Reinheitsgehalt von 10 % aufwies“ (BS 3). Dass diese Begründung gegen die Kriterien logischen Denkens oder grundlegende Erfahrungssätze verstoße (vgl RIS-Justiz RS0118317), zeigt die Grundrechtsbeschwerde nicht auf.

Mit der Argumentation, es sei gerichtsnotorisch von einem Reinsubstanzgehalt von 8 % Delta-9-THC auszugehen, spricht sie keine entscheidende Tatsache an. Denn auch unter dieser Annahme ergäbe sich ausgehend von der – nicht in Beschwerde gezogenen – Menge von 8.300 Gramm Cannabiskraut ein Überschreiten des Fünfundzwanzigfachen der Grenzmenge (§ 28b SMG) von Delta-9-THC (vgl RIS-Justiz RS0120681).

Indem die Grundrechtsbeschwerde den Tatsachenannahmen des Beschwerdegerichts bloß eigene Beweiswerterwägungen zum Reinheitsgehalt an Delta-9-THC („es kommt auf den Inhalt der tatsächlich vorhandenen Wirkstoffe zum konkreten Tatzeitpunkt an. Selbst unter Berücksichtigung der Umrechnung der sog. Wiener Formel ergäben sich bloß 25 Grenzmengen“) entgegenhält, orientiert sie sich nicht an den Kriterien der Z 5 und 5a (RIS-Justiz RS0110146 [T4, T6]).

Die keine Verletzung des verfassungsmäßig geschützten Rechts auf persönliche Freiheit aufzeigende Grundrechtsbeschwerde war daher ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.

Der Oberste Gerichtshof sieht sich bei der beschriebenen Sachlage jedoch zu folgender Klarstellung veranlasst:

1.) Gemäß § 89 Abs 2b erster Satz StPO hat das Rechtsmittelgericht bei Beschwerden gegen die Bewilligung der Festnahme und gegen die Verhängung oder Fortsetzung der Untersuchungshaft stets in der Sache zu entscheiden.

2.) Unter einer meritorischen Entscheidung des Oberlandesgerichts ist eine solche zu verstehen, die jene des Erstgerichts nicht bloß beurteilt, sondern ersetzt. Der Prozessgegenstand wird damit durch das Rechtsmittelgericht inhaltlich endgültig (bestätigend oder reformatorisch) erledigt (vgl RIS-Justiz RS0116421; 15 Os 25/14m; ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 92; Tipold , WK-StPO § 89 Rz 8; Fabrizy , StPO 13 § 89 Rz 3e und § 176 Rz 8a).

Im Gegensatz dazu lässt § 89 Abs 2b erster Satz StPO aber auch Raum für kassatorische Entscheidungen (vgl Kirchbacher/Rami , WK StPO § 174 Rz 32). Dies ergibt sich aus einem Umkehrschluss aus § 89 Abs 2b erster Satz StPO. Solcherart hat das Rechtsmittelgericht in Bezug auf andere als die dort angeführten Entscheidungen eben „nicht stets“ in der Sache zu entscheiden. Dem steht auch das rein auf Kassationen wegen bestimmter Formalfehler zugeschnittene Programm des § 89 Abs 2a StPO nicht entgegen. Denn würde diese Regelung alle Fälle kassatorischer Beschwerdeentscheidungen abschließend regeln, wäre § 89 Abs 2b erster Satz StPO schlicht überflüssig. Entsprechendes gilt für § 89 Abs 2b zweiter Satz StPO, würde man aus dieser Vorschrift eine Pflicht zur Entscheidung in merito ableiten wollen. Der erkennende Senat geht vielmehr davon aus, dass sich diese Vorschrift („Gleiches gilt“) allein auf die im vorstehenden Absatz angeordnete Neuerungserlaubnis bezieht (so auch Rebisant , Beschwerdegegenstand im Ermittlungsverfahren, Jahrbuch Wirtschaftsstrafrecht und Organverantwortlichkeit 2017, 31; vgl aber 11 Os 20/14x, allerdings unter Berufung auf den § 89 Abs 2 StPO idF vor BGBl 2010/111 betreffenden Rechtssatz RIS Justiz RS0123977; Nimmervoll , Haftrecht 3 288).

3.) Im Ermittlungsverfahren ist die Festnahme einer Person gemäß § 171 Abs 1 StPO in der Regel (vgl die nur für die Kriminalpolizei geltende Ausnahmevorschrift des Abs 2 leg cit) durch die Staatsanwaltschaft aufgrund einer gerichtlichen Bewilligung anzuordnen (vgl Hinterhofer/Oshidari , Strafverfahren 7.55, 7.84). Bewilligt das Gericht einen solchen Antrag der Staatsanwaltschaft, muss es für die Durchführung der Festnahme eine Frist setzen. Ist die Frist abgelaufen, ohne dass eine Festnahme des Beschuldigten erfolgt, tritt die Bewilligung außer Kraft (§ 105 Abs 1 StPO). Nach gerichtlicher Bewilligung hat die Staatsanwaltschaft über deren Durchführung zu entscheiden (§ 101 Abs 3 zweiter Satz). Somit hat sie entweder die Ausübung der Festnahme durch die Kriminalpolizei anzuordnen (§ 101 Abs 4, § 102, § 171 Abs 1 StPO) oder gemäß § 101 Abs 3 letzter Satz StPO von der Festnahme abzusehen ( Kirchbacher/Rami , WK-StPO § 171 Rz 1; Hinterhofer/Oshidari , Strafverfahren Rz 7.755 f).

4.) Für die Verhängung oder Fortsetzung der Untersuchungshaft ist stets ein Antrag der Staatsanwaltschaft erforderlich (§ 173 Abs 1 erster Satz StPO). In jedem Fall hat das Gericht längstens binnen 48 Stunden nach der Einlieferung zu entscheiden, ob der Beschuldigte, allenfalls unter Anwendung gelinderer Mittel iSd § 173 Abs 5 StPO, freigelassen oder ob die Untersuchungshaft verhängt wird (§ 174 Abs 1 StPO).

Aus alldem folgt:

Im Fall einer – hier vorliegenden – Stattgebung einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Enthaftung des Beschuldigten besteht für das Oberlandesgericht (anders als etwa bei Beschwerden gegen die Ablehnung der Bewilligung einer Festnahme) keine Grundlage für eine meritorische Entscheidung iSd § 89 Abs 2b erster Satz StPO in Bezug auf die Untersuchungshaft (vgl oben 1. und 2.). Denn eine aufgrund zwischenzeitiger Freilassung des Beschuldigten beendete Haft kann – ohne neuerliche Festnahme – schon faktisch nicht fortgesetzt werden. Zum anderen könnte ein Beschluss des Oberlandesgerichts auf Fortsetzung der Untersuchungshaft – anders als noch zur Rechtslage vor dem StPRG 2004 (vgl 14 Os 149/94, SSt 62/27) – mangels eigenständiger Kompetenz zur Erlassung einer Festnahmeanordnung (siehe oben 3.) oder zur Ergreifung von Fahndungsmaßnahmen (vgl § 169 Abs 1 StPO) von den Gerichten gar nicht effektuiert werden. Umgekehrt folgt aber schon aus dem Anklagegrundsatz (zum Begriff Hinterhofer/Oshidari , Strafverfahren Rz 2.46 ff), dass das Beschwerdegericht der Staatsanwaltschaft nicht die Erlassung einer (sodann zu bewilligenden) Festnahmeanordnung auftragen kann. Schließlich vermeidet der hier vertretene Ansatz auch die (konstruiert wirkende) Lösung, dass der Beschluss auf Fortsetzung der Untersuchungshaft nur bei unveränderter Sachlage seine Wirkung entfaltet und auch die bereits mit Beschwerdeentscheidung ausgelöste nächste Haftfrist (§ 174 Abs 4 zweiter Satz StPO) erst ab neuerlicher Festnahme zu laufen beginnt (so Nimmervoll , JSt 2018, 208; 14 Os 149/94, SSt 62/27).

Somit hat das Rechtsmittelgericht bei einer erfolgreichen Beschwerde der Staatsanwaltschaft den Beschluss des Erstgerichts (bloß) aufzuheben und die Sache zur neuerlichen Entscheidung über den offenen Haftfortsetzungsantrag an das Erstgericht zurückzuverweisen, wobei der Beschuldigte im Fall der Bewilligung einer neuerlichen Festnahmeanordnung der Staatsanwaltschaft festzunehmen und sodann im Sinne einer Haftfortsetzung gemäß §§ 173 ff StPO vorzugehen ist (zum Entfall einer Vernehmung vgl Kirchbacher/Rami , WK StPO § 174 Rz 26, 32, § 176 Rz 13).

Vorliegend hat das Oberlandesgericht anlässlich seiner (meritorischen) Beschlussfassung auf Fortsetzung der Untersuchungshaft verfehlt (in den Gründen und unbefristet [vgl BS 5]) die neuerliche Festnahme des Beschuldigten ohne ein darauf gerichtetes Begehren der Staatsanwaltschaft angeordnet. Eine darauf bezogene Grundrechtsverletzung hat der Beschwerdeführer allerdings nicht geltend gemacht. Amtswegiges Vorgehen ist dem Obersten Gerichtshof insoweit verwehrt (vgl Kier in WK 2 GRBG § 3 Rz 2; zur weiteren Vorgangsweise vgl § 7 Rz 9, 14 Os 158/08d; vgl im Übrigen §§ 177 Abs 3, 176 Abs 1 Z 3 StPO).

Rechtssätze
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