JudikaturJustiz11Os143/19t

11Os143/19t – OGH Entscheidung

Entscheidung
10. Dezember 2019

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 10. Dezember 2019 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Jukic als Schriftführerin in der Strafsache gegen C***** wegen des Vergehens des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 2 Z 1 StGB (idF BGBl I 2006/56), AZ 15 Hv 121/12b des Landesgerichts für Strafsachen Graz, über die von der Generalprokuratur gegen die Urteile dieses Gerichts vom 25. September 2012 (ON 22) und des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 26. Februar 2013, AZ 10 Bs 464/12d (ON 29 der Hv Akten), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Eisenmenger, zu Recht erkannt:

Spruch

Die Urteile des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 25. September 2012, GZ 15 Hv 121/12b 22, und des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 26. Februar 2013, AZ 10 Bs 464/12d (ON 29), verletzen § 212 Abs 2 Z 1 StGB idF BGBl I 2006/56.

Es werden aufgehoben

1./ das Urteil des Oberlandesgerichts Graz zur Gänze,

2./ das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz, das im Freispruch unberührt bleibt, im Übrigen,

und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Graz Ost verwiesen.

Gründe:

Rechtliche Beurteilung

Mit – auch einen in Rechtskraft erwachsenen Freispruch und einen Zuspruch an die Privatbeteiligte enthaltendem – Urteil des Einzelrichters des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 25. September 2012, GZ 15 Hv 121/12b 22, wurde C***** des Vergehens des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 2 Z 1 StGB (idF BGBl I 2006/56) schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe von 240 Tagessätzen, für den Fall der Uneinbringlichkeit zu 120 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe, sowie zu einer nach §§ 43a Abs 2, 43 Abs 1 StGB unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.

Danach hat er am 22. Oktober 2011 in T***** als Angehöriger eines Gesundheits- und Krankenpflegeberufes, nämlich als nach dem MTD Gesetz zur Berufsausübung zugelassener Physiotherapeut, an R*****, sohin an einer von ihm berufsmäßig betreuten Person, unter Ausnützung seiner Stellung dieser Person gegenüber geschlechtliche Handlungen vorgenommen, indem er sie mit einer Hand an der nackten Scheide massierte, zumindest einen Finger in ihre Scheide einführte, mit der anderen Hand ihren Büstenhalter zur Seite schob und ihre Brustwarze massierte, in der Folge mit ihrer Hand seinen Penis masturbierte und schließlich seinen Penis in ihren Mund steckte und in ihrem Mund ejakulierte.

Der Berufung des Angeklagten, zuletzt eingeschränkt (vgl Ratz , WK StPO § 467 Rz 4) wegen Nichtigkeit und Schuld sowie gegen den Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche, wurde mit Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 26. Februar 2013, AZ 10 Bs 464/12d (ON 29), nicht Folge gegeben.

Mit rechtskräftigem Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 1. März 2016 wurde der bedingt nachgesehene Strafteil endgültig nachgesehen (ON 40).

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, stehen die erwähnten Urteile mit dem Gesetz nicht in Einklang.

Nach dem im allgemeinen Umfang seit 1. Jänner 1975 (BGBl 1974/60) unverändert in Geltung stehenden § 212 StGB ist unter anderem zu bestrafen, wer als Angehöriger einer der von § 212 Abs 2 Z 1 StGB bezeichneten, in der Folge durch Gesetzesnovellen erweiterten und präzisierten Berufsgruppen mit einer berufsmäßig betreuten Person unter Ausnützung seiner Stellung dieser Person gegenüber – soweit hier von Interesse – eine geschlechtliche Handlung vornimmt.

Durch das Strafrechtsänderungsgesetz 2004, BGBl I 2004/15, wurde der Berufsgruppenkatalog des § 212 Abs 2 Z 1 StGB dahingehend neu gefasst, dass als Subjekte von Taten „mit einer berufsmäßig betreuten Person“ Ärzte, klinische Psychologen, Gesundheitspsychologen oder Psychotherapeuten oder sonstige Angehörige eines Gesundheits- oder Krankenpflegeberufes in Betracht kamen.

Das Strafrechtsänderungsgesetz 2006, BGBl I 2006/56 , ersetzte die Wortfolge „Angehöriger eines Gesundheits- oder Krankenpflegeberufes“ durch „Angehöriger eines Gesundheits- und Krankenpflegeberufes“. Diese sprachliche Änderung diente (ausdrücklich nur) der Anpassung an § 1 Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG), der die „Gesundheits- und Krankenpflegeberufe“ definiert; demnach wurde klargestellt, dass nur Gesundheits- und Krankenpflegeberufe im Sinn des GuKG der Strafbarkeit nach § 212 Abs 2 Z 1 StGB unterstehen sollen (ErläutRV 1325 BlgNR XXII. GP 6; Hinterhofer SbgK § 212 Rz 33).

Erst durch die gegenständlich – weil weder zum Tat- noch zum Urteilszeitpunkt in Geltung stehende (vgl §§ 1 Abs 2, 61 StGB) – nicht anzuwendende Strafgesetznovelle 2017, BGBl I 2017/117, wurde der Kreis der nach § 212 Abs 2 Z 1 StGB als Täter in Betracht kommenden Personen auf (alle) „Angehörigen eines gesetzlich geregelten Gesundheitsberufes“ ausgedehnt.

Nach den wesentlichen Urteilsannahmen war der Verurteilte zum Tatzeitpunkt ein gemäß § 6b des Bundesgesetzes über die Regelung der gehobenen medizinisch-technischen Dienste (MTD-Gesetz) zur Berufsausübung zugelassener Physiotherapeut (US 1 ff, 7). Die – vom Berufungsgericht nicht beanstandete – rechtliche Beurteilung des Erstgerichts, dem Angeklagten würde daher als Angehörigem eines Gesundheits- und Krankenpflegeberufes Subjektqualität im Sinn des § 212 Abs 2 Z 1 StGB (idF BGBl I 2006/56) zukommen (US 7 letzter Absatz), ist unrichtig, weil dieser gerade nicht als Angehöriger eines Gesundheits- und Krankenpflegeberufes im Sinn des § 1 GuKG praktizierte (siehe 11 Os 111/19m, 11 Os 112/19h, womit ua das vom Erstgericht zitierte [US 7] Berufungsurteil AZ 8 Bs 172/12y des Oberlandesgerichts Graz aufgehoben wurde).

Mangels Subjekteigenschaft wurde das Tatbild des § 212 Abs 2 Z 1 StGB (idF BGBl I 2016/56) somit in objektiver Hinsicht nicht erfüllt.

Das Oberlandesgericht Graz als Berufungsgericht wäre verpflichtet gewesen, den – mit Berufung nicht geltend gemachten – Rechtsirrtum des Erstgerichts gemäß § 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO iVm §§ 471, 489 Abs 1 StPO von Amts wegen wahrzunehmen.

Da sich die Gesetzesverletzung für C***** nachteilig ausgewirkt hat, war der Feststellung des Gesetzesverstoßes wie aus dem Spruch ersichtlich konkrete Wirkung zuzuerkennen (§ 292 letzter Satz StPO).

Die inkriminierte Tat wäre nach dem bisherigen Tatsachensubstrat unter dem Aspekt eines Vergehens der sexuellen Belästigung und öffentlicher geschlechtlicher Handlungen nach § 218 Abs 1 Z 1 StGB zu prüfen. Auf Grund des Rechtsirrtums des Erstgerichts unterblieb (bislang) eine Klärung des Sachverhalts in diese Richtung (insbesondere zur Frage eines allfälligen Belästigungsvorsatzes), sodass eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in der Sache nicht in Betracht kommt (§ 288 Abs 2 Z 3 zweiter Satz iVm § 292 erster Satz StPO).

Mit Blick auf § 218 Abs 1 Z 1 StGB wird zudem angemerkt, dass die Erklärung des Tatopfers (ON 17), als Privatbeteiligte am Verfahren mitzuwirken (§ 67 StPO), gemäß § 92 Abs 2 letzter Satz StPO als Ermächtigung zur Strafverfolgung nach § 218 Abs 3 StGB gilt (vgl im Übrigen zur Verjährungsfrage 11 Os 111/19m, 11 Os 112/19h [RIS Justiz RS0091834; Marek in WK² StGB § 58 Rz 26; Schallmoser SbgK § 58 Rz 70 f] sowie zum Verschlechterungsverbot des § 290 Abs 2 StPO: Ratz , WK StPO § 293 Rz 22 und § 290 Rz 43 ff, 55).

Klarstellend wird darauf hingewiesen, dass – weil das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz bereits in Rechtskraft erwachsen und damit die Probezeit in Gang gesetzt worden war – der Beginn einer (gegebenenfalls im weiteren Rechtsgang ausgesprochenen) Probezeit mit jenem Zeitpunkt festzuhalten sein wird (RIS Justiz RS0092039).

In Ansehung des Privatbeteiligtenzuspruchs steht der Zulässigkeit der Durchbrechung der Rechtskraft die im Sinn des Art 1 des 1. ZPMRK geschützte Position der Privatbeteiligten nicht entgegen, weil bei – wie hier – untrennbar mit dem Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) verbundenen Zusprüchen (§§ 366 Abs 2, 369 Abs 1 StPO) im Strafverfahren stets der Schutz des Angeklagten prävaliert (RIS Justiz RS0124740).

Von den aufgehobenen Urteilen rechtslogisch abhängige Entscheidungen und Verfügungen bedürfen keiner formellen Aufhebung (RIS Justiz RS0100444).

Rechtssätze
3
  • RS0124740OGH Rechtssatz

    11. März 2024·3 Entscheidungen

    Die Erneuerungsmöglichkeit (auch ohne vorangegangene EGMR-Entscheidung) bedeutet keine unzulässige Beschränkung des aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art 6 Abs 1 MRK) iVm der Präambel der Konvention abgeleiteten Anspruchs auf Rechtssicherheit, maW auf Respektierung der - nach Maßgabe nur des innerstaatlichen Rechtsschutzsystems zu beurteilenden - Rechtskraft von Entscheidungen durch den Staat selbst. In Strafsachen ist die Aufhebung eines grundrechtswidrigen Schuldspruchs des untergeordneten Strafgerichts zum Vorteil des Angeklagten stets möglich. Wurde hingegen über zivilrechtliche Ansprüche im Strafverfahren entschieden, ist die Zulässigkeit einer Durchbrechung der Rechtskraft grundsätzlich auch unter dem Aspekt einer iSd Art 1 des 1. ZPMRK geschützten Position zu prüfen: Bei untrennbar mit einem Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) verbundenen Zusprüchen (§ 366 Abs 2 StPO) prävaliert im Strafverfahren der Schutz des Angeklagten; für den Privatbeteiligten allenfalls nachteilige Wirkungen einer Aufhebungsentscheidung wären als Schadenersatzansprüche im Amtshaftungsverfahren geltend zu machen. Wird hingegen ausnahmsweise im Strafverfahren über - vertragsautonom iSd Art 6 MRK betrachtet - zivilrechtliche, nicht akzessorische Ansprüche entschieden (§§ 6 ff, 9 f MedienG), ist die Entscheidung in der Sache, also auch die Aufhebung der Entscheidung des untergeordneten Strafgerichts jedenfalls dann möglich, wenn der Antragsgegner (als zuvor am Verfahren Beteiligter) einen Erneuerungsantrag unter den oben dargestellten strikten Voraussetzungen gestellt hat, gleichviel, ob die Aufhebung in Stattgebung dieses Antrags oder einer aus dessen Anlass erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes erfolgt. Lediglich bei einer nicht von einem Antrag nach § 363a StPO begleiteten Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes (oder einem Antrag gemäß § 362 Abs 1 Z 2 StPO) kann von dem Ermessen iSd § 292 letzter Satz StPO nicht Gebrauch gemacht werden, während die Feststellung der zum Nachteil eines Verfahrensbeteiligten sich auswirkenden Gesetzes-(Konventions-)verletzung stets (auch zugunsten des Privatanklägers bzw Antragstellers im vorangegangenen Verfahren) möglich ist, weil durch sie die geschützte Rechtsposition eines anderen Verfahrensbeteiligten - iS etwa eines Verstoßes gegen das Verbot der reformatio in peius - nicht tangiert wird. Diese höchstgerichtliche Feststellung einer Gesetzesverletzung hat im Übrigen Bindungswirkung in einem allfälligen Amtshaftungsverfahren und ist solcherart geeignet, die Opfereigenschaft iSd Art 34 MRK zu beseitigen.