JudikaturJustiz11Os142/19w

11Os142/19w – OGH Entscheidung

Entscheidung
14. Januar 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. Jänner 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Schrott als Schriftführerin in der Auslieferungssache des Boris H*****, AZ 30 HR 211/18v des Landesgerichts Innsbruck (AZ 10 HSt 7/18g der Staatsanwaltschaft Innsbruck), über dessen Antrag 1./ auf Erneuerung des Verfahrens in Bezug auf den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 8. Oktober 2019, AZ 11 Bs 209/19a, sowie 2./ auf Hemmung des Auslieferungsverfahrens nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Anträge werden zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Mit Beschluss vom 9. Juli 2019, GZ 30 HR 211/18v-34, erklärte die Einzelrichterin des Landesgerichts Innsbruck die Auslieferung des moldauischen Staatsangehörigen Boris H***** „an die moldawischen Behörden zur Strafvollstreckung“ der vom Zentralen Bezirksgericht Chisinau am 16. Juli 2013 verhängten Freiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten (abzüglich der verbüßten Untersuchungshaft) aufgrund des Auslieferungsersuchens des Justizministeriums der Republik Moldau vom 16. Juli 2018, Nr 7/8401 (ON 12), für zulässig.

Der Beschwerde des Betroffenen (ON 40) gab das Oberlandesgericht Innsbruck mit Beschluss vom 8. Oktober 2019, AZ 11 Bs 209/19a, nicht Folge (ON 48).

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich der auf die Behauptung einer Verletzung der Art 3, 5, 6, 8 und 13 MRK gestützte (fristgerechte) Antrag des H***** auf Verfahrenserneuerung, verbunden mit einem „Antrag“ auf vorläufige Hemmung der Auslieferung.

Für einen – wie hier – nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrags (RIS-Justiz RS0122228), bei dem es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt, gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und Art 35 MRK sinngemäß (RIS-Justiz RS0122737, RS0128394). Dem Erfordernis der Ausschöpfung des Rechtswegs wird entsprochen, wenn von allen effektiven Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht wurde (vertikale Erschöpfung) und die geltend gemachte Konventionsverletzung zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften im Instanzenzug vorgebracht wurde (horizontale Erschöpfung; RIS-Justiz RS0122737 [T13]).

Demnach hat – weil die Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer substantiiert und schlüssig vorträgt, in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein ( Grabenwarter/Pabel , EMRK 6 § 13 Rz 16) – auch ein Erneuerungsantrag deutlich und bestimmt darzulegen, worin eine (vom Obersten Gerichtshof sodann selbst zu beurteilende) Grundrechtsverletzung im Sinn des § 363a Abs 1 StPO zu erblicken sei (RIS-Justiz RS0122737 [T17]). Dabei hat er sich mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung in allen relevanten Punkten auseinanderzusetzen (RIS-Justiz RS0124359, RS0128393) und – soweit er (auf Grundlage der Gesamtheit der Entscheidungsgründe) nicht Begründungsmängel aufzuzeigen oder erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit getroffener Feststellungen zu wecken vermag – seine Argumentation auf Basis der Tatsachenannahmen der bekämpften Entscheidung zu entwickeln (RIS-Justiz RS0125393 [T1]).

Den oben dargestellten Erfordernissen wird das gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck gerichtete Vorbringen nicht gerecht.

Zu Art 3 MRK:

Eine Auslieferung kann für den Aufenthaltsstaat eine Konventionsverletzung bedeuten, wenn ein konkretes Risiko besteht, dass die betroffene Person im Empfangsstaat einer Strafe oder Behandlung ausgesetzt wird, welche die Schwelle zur unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung erreicht und daher mit Art 3 MRK unvereinbar ist (RIS-Justiz RS0123229, RS0123201; Göth-Flemmich in WK² ARHG § 19 Rz 7 mwN).

Die betroffene Person hat die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, ernsthaften (gewichtigen) Gefahr einer Art 3 MRK nicht entsprechenden Behandlung schlüssig nachzuweisen, wobei der Nachweis hinreichend konkret sein muss. Die bloße Möglichkeit drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung reicht nicht aus. Vielmehr muss unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ein reales, anhand stichhaltiger Gründe belegbares Risiko bestehen, die betreffende Person würde im Empfangsstaat der tatsächlichen Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein (RIS Justiz RS0123229; Göth Flemmich in WK² ARHG § 19 Rz 8 mwN).

Der Nachweis konkreter Anhaltspunkte bzw stichhaltiger Gründe erscheint nur verzichtbar, wenn der ersuchende Staat eine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen aufweist (RIS Justiz RS0123229 [insbesondere T12]; Göth-Flemmich in WK² ARHG § 19 Rz 8 mwN).

Bei der Prüfung des die auszuliefernde Person konkret treffenden Risikos einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung ist insbesondere auch darauf abzustellen, ob es sich um einen reinen Kriminalfall ohne jeglichen politischen oder religiösen Kontext handelt oder ob der Betroffene einer besonders vulnerablen Gruppe angehört. Neben der persönlichen Situation der betroffenen Person ist weiters die allgemeine Lage im Zielland zu berücksichtigen, ferner die Schwere der drohenden Verletzung sowie das sonstige Verhalten des ersuchenden Staats im Hinblick auf die Verletzung fundamentaler Menschenrechte und seine Bereitschaft, einen konkret erhobenen Vorwurf einer Verletzung von Art 3 MRK lückenlos aufzuklären (vgl Göth Flemmich in WK² ARHG § 19 Rz 8 ff mwN).

Geht die behauptete Gefahr nicht von staatlicher Seite aus, muss neben der Unmittelbarkeit der Bedrohung auch nachgewiesen werden, dass die staatlichen Autoritäten nicht in der Lage sind, ausreichend vor dieser konkreten Gefahr zu schützen (vgl Göth-Flemmich in WK² ARHG § 19 Rz 9 mwN; RS0123229 [T1]).

Bei einer Auslieferung an einen Staat, der – wie hier – Vertragspartei der MRK ist, ist die Verantwortlichkeit des ausliefernden Staats zudem eingeschränkt, wenn der Betroffene im Zielstaat (rechtzeitig) Rechtsschutz gegen Konventionsverletzungen erlangen kann ( Göth-Flemmich in WK² ARHG § 19 Rz 10 mwN).

Das Oberlandesgericht erachtete das Vorbringen des H***** zu den Haftbedingungen in moldauischen Gefängnissen im Allgemeinen und im Besonderen – ihm von ehemals hochrangigen Geheimdienstmitarbeitern drohende Gefahr für seine körperliche Unversehrtheit – mit Blick auf Zusicherungen der Republik Moldau zu seiner Unterbringung und seinen persönlichen Verhältnissen nicht geeignet, die individuelle Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung in der Republik Moldau hinreichend konkret und schlüssig nachzuweisen (BS 39 f). Mit den Erwägungen des Beschwerdegerichts zu den vom Ministerium für Justiz der Republik Moldau übermittelten Zusicherungen zur Anhaltung der betroffenen Person in speziellen Justizanstalten (BS 35 ff) setzt sich der Erneuerungsantrag nur punktuell auseinander. Mit der Behauptung, dass der Zielstaat „noch immer mit Korruption auf allen Ebenen der Staatsverwaltung und Gerichtsbarkeit zu kämpfen“ habe, wird eine Situation systematischer Menschenrechtsverletzungen im Zielstaat, die diplomatische Zusicherungen generell wertlos erscheinen ließe (vgl 14 Os 53/17a mwN; Göth-Flemmich in WK² ARHG Vor §§ 10–25 Rz 7 f), nicht aufgezeigt. Die mit dem Hinweis auf Gefahren für den Betroffenen durch ein „informelles Häftlingshierarchiesystem“ angesprochene bloße Möglichkeit von Übergriffen, macht die Auslieferung nicht unzulässig (RIS-Justiz RS0118200). Indem H***** die Behauptung einer ihn konkret treffenden Gefahr schlicht aufrecht hält und den (vom Oberlandesgericht eingehend berücksichtigten) Bericht des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) vom 13. Dezember 2018 (vgl hiezu BS 27 ff) einer eigenständigen Würdigung unterzieht, weckt er gegen die Beurteilung des Oberlandesgerichts keine Bedenken. Mit Spekulationen zu „Rachegelüsten seiner Feinde“ vermag der Erneuerungswerber den Argumenten des Beschwerdegerichts, wonach er (ungeachtet von ihm behaupteter Drohungen) noch bis ins Jahr 2015 (mit Ausnahme eines allerdings nicht spezifisch zugeordneten tätlichen Angriffs auf ihn) unbehelligt in der Republik Moldau lebte und insgesamt eine politische Verfolgung nicht nachvollziehbar bescheinigt wurde (BS 39), kein beachtliches Substrat entgegenzusetzen.

Dass der Konventionsstaat Moldau keine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen aufweist (BS 40), gründete das Beschwerdegericht nachvollziehbar auf die Länderinformation der Staatendokumentation (ON 19).

Zu Art 5 MRK:

Der von einer (nach Ansicht des Betroffenen) gesetzwidrigen Umwandlung der zunächst bedingt nachgesehenen in eine unbedingte Freiheitsstrafe gezogene Schluss auf eine Verletzung von Art 5 MRK verkennt, dass dieses Grundrecht – zufolge Subsidiarität gegenüber der Grundrechtsbeschwerde – von vornherein nicht zum Gegenstand eines Erneuerungsantrags gemacht werden kann (vgl schon 13 Os 156/11g). Das Grundrechtsbeschwerdegesetz regelt die Befugnis zur Anfechtung wegen Verletzung des Grundrechts auf persönliche Freiheit nämlich abschließend (vgl RIS-Justiz RS0123350 [insbesondere T1]), sieht aber einen Grundrechtsschutz durch den Obersten Gerichtshof in Betreff eines im Ausland zu erwartenden Straf oder Maßnahmenvollzugs nicht vor (vgl § 1 Abs 2 GRBG).

Zu Art 6 MRK:

Zwar fällt das Auslieferungsverfahren selbst nicht in den Anwendungsbereich des Art 6 MRK, doch können dessen Verfahrensgarantien für die Entscheidung über die Zulässigkeit einer Auslieferung dann (ausnahmsweise) Relevanz erlangen, wenn die betroffene Person nachweist, dass sie im ersuchenden Staat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Prozesses erfahren musste oder eine solche droht. Das bezieht sich jedoch nur auf das gerichtliche Strafverfahren, in dem über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage entschieden wird (RIS-Justiz RS0123200 [insbesondere T2, T3]). Der Widerruf einer bereits rechtskräftig ausgesprochenen, zunächst bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe fällt hingegen nicht in den Schutzbereich des Art 6 MRK ( Göth-Flemmich in WK² ARHG § 19 Rz 17; RIS-Justiz RS0087109 [T1], RS0120049).

Das als Verletzung des rechtlichen Gehörs zu wertende Vorbringen wendet sich ausschließlich gegen die – dem unbekämpft in Rechtskraft erwachsenen Urteil vom 16. Juli 2013 nachfolgende und damit eben nicht unter den Schutzbereich des Art 6 MRK fallende – Entscheidung des Bezirksgerichts des Bezirks Riscani in Chisinau vom 17. Mai 2014, AZ 21 192/14 (ON 21), mit der die Vollstreckung der zunächst bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe beschlossen wurde.

Zu Art 8 MRK:

Die unter Hinweis auf Integrationsbemühungen im Inland und Spekulationen, dass im Falle der Auslieferung seine Angehörigen in der Republik Moldau „grundlos verfolgt“ würden, erstmals behauptete Verletzung des Art 8 MRK wurde in der Beschwerde (ON 40) nicht releviert und kann schon mangels horizontaler Erschöpfung des Rechtswegs (RIS-Justiz RS0122737 [T13]) dahingestellt bleiben.

Zu Art 13 MRK:

Die eine wirksame Beschwerdemöglichkeit vermissende Kritik des Antragstellers am Verfahren über den Widerruf der bedingten Strafnachsicht entbehrt gleichermaßen eines kongruenten Beschwerdevorbringens (ON 40 S 6).

Der Erneuerungsantrag war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bereits bei nichtöffentlicher Beratung zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).

Dies gilt auch für den – im Übrigen zwischenweilig gegenstandslosen (ON 71) – „Antrag“ (RIS Justiz RS0125705) auf vorläufige Hemmung der Auslieferung.

Rechtssätze
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  • RS0122737OGH Rechtssatz

    18. März 2024·3 Entscheidungen

    Bei einem nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag handelt es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf. Demgemäß gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK sinngemäß auch für derartige Anträge. So kann der Oberste Gerichtshof unter anderem erst nach Rechtswegausschöpfung angerufen werden. Hieraus folgt für die Fälle, in denen die verfassungskonforme Auslegung von Tatbeständen des materiellen Strafrechts in Rede steht, dass diese Problematik vor einem Erneuerungsantrag mit Rechts- oder Subsumtionsrüge (§ 281 Abs 1 Z 9 oder Z 10, § 468 Abs 1 Z 4, § 489 Abs 1 zweiter Satz StPO) geltend gemacht worden sein muss. Steht die Verfassungskonformität einer Norm als solche in Frage, hat der Angeklagte unter dem Aspekt der Rechtswegausschöpfung anlässlich der Urteilsanfechtung auf die Verfassungswidrigkeit des angewendeten Strafgesetzes hinzuweisen, um so das Rechtsmittelgericht zu einem Vorgehen nach Art 89 Abs 2 B-VG zu veranlassen. Wird der Rechtsweg im Sinn der dargelegten Kriterien ausgeschöpft, hat dies zur Folge, dass in Strafsachen, in denen der Oberste Gerichtshof in zweiter Instanz entschieden hat, dessen unmittelbarer (nicht auf eine Entscheidung des EGMR gegründeter) Anrufung mittels Erneuerungsantrags die Zulässigkeitsbeschränkung des Art 35 Abs 2 lit b erster Fall MRK entgegensteht, weil der Antrag solcherart „im wesentlichen" mit einer schon vorher vom Obersten Gerichtshof geprüften „Beschwerde" übereinstimmt.