JudikaturJustiz10ObS5/24v

10ObS5/24v – OGH Entscheidung

Entscheidung
16. Januar 2024

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl als weitere Richter (Senat gemäß § 11a Abs 3 ASGG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei F*, vertreten durch Dr. Hans Peter Kandler, Rechtsanwalt in Wiener Neustadt, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist Straße 1, 1020 Wien, wegen 20.000 EUR sA und Feststellung, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. Dezember 2023, GZ 9 Rs 84/23y 21, womit der Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 19. Juli 2023, GZ 3 Cgs 49/23t 16, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

[1] Die – zu diesem Zeitpunkt noch nicht anwaltlich vertretene – Klägerin brachte am 3. Februar 2023 beim Erstgericht (ohne Beifügung des Zusatzes „als Arbeits- und Sozialgericht“) die gegenständliche Klage vom 31. Jänner 2023 gegen die beklagte Pensionsversicherungsanstalt ein. Im Rubrum gab sie als Streitwert „ca. Euro 20.000,--/resultierend aus Falschberechnung meiner Pension und Nichtberücksichtigung der Wertanpassung sowie Fehler in der Vorausberechnung durch Nichtbeachtung von Gesetzen sowie durch diverse Buchungsfehler“ an. Sie brachte vor, bestimmte Fehler bzw Missstände in ihrer Pensionsberechnung per 1. April 1995 aufzeigen zu wollen.

[2] Infolge eines Verbesserungsauftrags formulierte die – nunmehr rechtsanwaltlich vertretene – Klägerin erstmals ein bestimmtes Klagebegehren und präzisierte sie die Klagserzählung. Sie führte unter anderem aus, dass sich aus einer unrichtigen Berechnung ein Differenzschaden ergebe , der monatlich zumindest 52 EUR betrage. Hochgerechnet würden sich insgesamt 388 Monate von Pensionsantritt bis zum Zeitpunkt der Klage ergeben, in Summe somit 20.176 EUR. Vorbehaltlich einer allfälligen Ausdehnung werde ein abgerundeter Betrag von 20.000 EUR geltend gemacht. Weiters sei zu berücksichtigen, dass monatlich ein weiterer Schaden entstehe. Die Klägerin begehre daher die Zahlung von 20.000 EUR zuzüglich 4 % Zinsen „seit Klagstag“ und die Feststellung, dass die Beklagte für sämtliche zukünftige Schäden aus der unrichtigen Berechnung der Pension zum 1. April 1995 hafte.

[3] Mit Beschluss vom 2. Mai 2023 (ON 12) sprach das Erstgericht (ohne Zusatz „als Arbeits- und Sozialgericht“) aus, dass das Verfahren in der für die Gerichtsbarkeit in Arbeits- und Sozialrechtssachen geltenden Besetzung zu verhandeln und entscheiden sei und die Sache dem Erstgericht als Arbeits- und Sozialgericht überwiesen werde. Es führte aus, dass in der Klage eine zu gering ausgezahlte Pension geltend gemacht werde, was eine Sozialrechtssache nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG darstelle. Dieser Beschluss wurde beiden Parteien zugestellt, aber nicht angefochten.

[4] Das Erstgericht (nunmehr als Arbeits- und Sozialgericht und gemäß § 11a Abs 1 Z 3 ASGG durch die Vorsitzende) wies mit Beschluss vom 19. Juli 2023 die (verbesserte) Klage zurück. Mangels bekämpfbaren Bescheids fehle es gemäß § 67 ASGG an der Prozessvoraussetzung der Zulässigkeit des Rechtswegs.

[5] Das Rekursgericht (als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen und im Dreiersenat gemäß § 11a Abs 2 Z 2 ASGG) gab dem Rekurs der Klägerin gegen den zuletzt genannten Beschluss nicht Folge. Insofern sich der Rekurs auch gegen den Beschluss vom 2. Mai 2023 (ON 12) wende, sei er verspätet. Im Übrigen lägen kein bekämpfbarer Bescheid und keine Säumnis vor. Hinsichtlich des von der Klägerin behaupteten Schadenersatzanspruchs bestehe möglicherweise ein Amtshaftungsanspruch, der jedoch nicht Gegenstand eines gegen den Versicherungsträger eingeleiteten Rechtsstreits sein könne; dabei handle es sich nicht um eine in § 65 Abs 1 ASGG genannte Streitigkeit. Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ das Berufungsgericht nicht zu.

[6] Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Klägerin, mit dem sie die meritorische Entscheidung über die in der Klage geltend gemachten Amtshaftungsansprüche anstrebt .

Rechtliche Beurteilung

[7] Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.

[8] 1.1. Rechtssachen, die – wie hier – von den Vorinstanzen formell – nach der Zusammensetzung der Senate (§ 11 ASGG) und nach der Bezeichnung (§ 36 ASGG) – als Sozialrechtssachen behandelt wurden, sind vom 10. Senat (als dem für alle nicht dem 8. Senat zugewiesenen Sozialrechtssachen iSd § 65 ASGG zuständigen Fachsenat) des Obersten Gerichtshofs zu entscheiden, gleichgültig, ob nach dem Inhalt des Begehrens und den Klagebehauptungen tatsächlich eine Sozialrechtssache im Sinn des § 65 ASGG vorliegt (10 ObS 252/94).

[9] 1.2. Nach dem Beschluss vom 2. Mai 2023 (ON 12) ist das Verfahren in der für die Gerichtsbarkeit in Arbeits- und Sozialrechtssachen geltenden Besetzung zu verhandeln und zu entscheiden. Dieser Beschluss wurde vor Streitanhängigkeit gefasst; er bindet somit zwar die Beklagte nicht und kann von dieser auch nicht angefochten werden (RS0118656; vgl 9 Ob 6/04d mwN aus der abweichenden älteren Rechtsprechung). Ungeachtet dessen bindet er im aktuellen Verfahrensstadium jedoch – unabhängig von seiner Richtigkeit – die Klägerin, die dagegen kein Rechtsmittel erhob, und das „Adressatgericht“ (vgl RS0046315 zur Überweisung nach § 38 Abs 2 ASGG oder § 44 JN).

[10] Der Ausspruch über die Gerichtsbesetzung wirkt für ein allfälliges Rechtsmittelverfahren und er bestimmt auch die anzuwendenden Rechtsmittelzulassungsvorschriften (RS0085567). Daraus folgt für den vorliegenden Fall, dass die Entscheidung im Dreiersenat gemäß § 11a Abs 3 ASGG zu entscheiden ist. Der außerordentliche Revisionsrekurs ist auch nicht nach § 528 Abs 2 Z 1a ZPO jedenfalls unzulässig; der Wert des rekursgerichtlichen Entscheidungsgegenstands ist für die Zulässigkeit des Rechtsmittels somit ohne Bedeutung (§ 502 Abs 5 Z 4 iVm § 528 Abs 3, § 505 Abs 4 ZPO; vgl auch Musger in Fasching/Konecny 3 § 528 ZPO Rz 35).

[11] 1.3. Die Klage wurde der Beklagten bislang nicht zugestellt. Das (Revisions-)Rekursverfahren gegen eine a limine-Zurückweisung der Klage ist einseitig (§ 521a Abs 1 iVm Abs 2 ZPO; 7 Ob 4/19t).

[12] 2. Die Klägerin macht im außerordentlichen Revisionsrekurs geltend, dass sich aus der Klage eindeutig ergebe, dass das Klagebegehren auf Schadenersatz gestützt werde, wofür der Rechtsweg zulässig sei.

Dazu wurde erwogen:

[13] 2.1. Bei der Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtswegs ist in erster Linie der Wortlaut des Klagebegehrens und darüber hinaus der Klagssachverhalt (die Klagsbehauptungen) maßgebend. Maßgeblich ist die Natur, das Wesen des geltend gemachten Anspruchs, wofür wiederum der geltend gemachte Rechtsgrund von ausschlaggebender Bedeutung ist. Es kommt nur darauf an, ob nach dem Inhalt der Klage ein privatrechtlicher Anspruch erhoben wird, über den die ordentlichen Gerichte zu entscheiden haben (RS0045584; RS0045539; RS0005896; RS0045718). Die inhaltliche Berechtigung des vom Kläger behaupteten Anspruchs ist bei der Frage der Rechtswegzulässigkeit unerheblich, hierüber ist erst in der Sachentscheidung abzusprechen (RS0045491).

[14] 2.2. Der Klägerin ist darin zuzustimmen, dass sie in der (verbesserten) Klage Schadenersatzansprüche gegen die Beklagte geltend machte, behauptete sie doch einen (Differenz-)Schaden aufgrund einer unrichtigen (Voraus-)Berechnung ihres Pensionsanspruchs durch die Beklagte. Ob ein Amtshaftungs- oder ein sonstiger Schadenersatzanspruch daraus schlüssig abgeleitet werden kann oder dieser sonst inhaltlich berechtigt ist, ist bei der Frage der Rechtswegzulässigkeit irrelevant.

[15] Auch wenn der geltend gemachte Schadenersatzanspruch (noch) nicht ausdrücklich als Amtshaftungsanspruch bezeichnet wurde, kann er nur als solcher qualifiziert werden. Für die Geltendmachung von Amtshaftungsansprüchen ist der Rechtsweg aber zulässig (§ 9 AHG), und zwar unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 67 ASGG.

[16] 2.3. Die vom Rekursgericht dazu geäußerte Rechtsansicht, ein Amtshaftungsanspruch könne nicht Gegenstand eines gegen den Versicherungsträger eingeleiteten Rechtsstreits sein, beruht auf einem Missverständnis.

[17] Nach der Rechtsprechung kann eine Verletzung von gegenüber den Versicherten bestehenden Verhaltenspflichten durch den Sozialversicherungsträger zwar nicht zu einem sozialversicherungsrechtlichen Leistungsanspruch führen (RS0111538). Schadenersatz- oder Amtshaftungsansprüche können daher in einem Verfahren über eine Leistungssache nicht geltend gemacht werden (10 ObS 40/12y; 10 ObS 164/11g).

[18] Davon zu unterscheiden ist aber die – dieser materiell rechtlichen Beurteilung vorgelagerte – Frage, was Gegenstand des Verfahrens ist. Aus der genannten Rechtsprechung ergibt sich nur, dass Schadenersatz- und Amtshaftungsansprüche nicht (erfolgreich) geltend gemacht werden können, wenn der Gegenstand des Verfahrens eine Leistungssache nach § 65 ASGG ist. Dass Schadenersatz- bzw Amtshaftungsansprüche (generell) nicht Gegenstand eines Verfahrens gegen den Sozialversicherungsträger sein können, lässt sich daraus hingegen nicht ableiten.

[19] 3.1. Daraus folgt, dass der gebrauchte Zurückweisungsgrund der Unzulässigkeit des Rechtswegs nicht vorliegt. Die Entscheidungen der Vorinstanzen waren daher ersatzlos zu beheben.

[20] 3.2. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

Rechtssätze
8
  • RS0111538OGH Rechtssatz

    16. Januar 2024·3 Entscheidungen

    In Rechtsprechung und Lehre sind allgemeine Verhaltenspflichten des Versicherungsträgers gegenüber den Versicherten anerkannt, wobei teils auf die allgemeine behördliche Betreuungspflicht, teils auf das Sozialstaatprinzip, auf den Gedanken sozialer Rechtsanwendung, auf den auch im öffentlichen Recht anerkannten Grundsatz von Treu und Glauben und schließlich auf die Lehren vom sozialversicherungsrechtlichen Schuldverhältnis hingewiesen wird. Vor allem aus diesem lassen sich eine Reihe von Auskunfts-, Aufklärungs-, Informations- und Beratungspflichten der Versicherungsträger gegenüber den Versicherten begründen, aber auch sonstige Sorgfalts- und Schutzpflichten ableiten. Es darf aber daraus nicht abgeleitet werden, dass die allfällige Verletzung solcher Nebenpflichten durch den Träger zu einem sozialversicherungsrechtlichen Leistungsanspruch des Versicherten führen kann: Wo kein eigenes Recht auf Erteilung von Auskunftsbescheiden festgelegt ist, sind die Versicherungsträger selbst an unrichtige Auskünfte an Versicherte nicht gebunden. Denn Auskünfte sind bloße Wissenserklärungen und wollen - anders als Bescheide - Rechte weder gestalten noch bindend feststellen. Verletzungen der Auskunftspflicht führen daher ebenso wie Verstöße gegen andere Nebenpflichten möglicherweise zu Amtshaftungsansprüchen, sofern dem Versicherten infolge schuldhafter Verletzung der den Träger treffenden Verpflichtungen ein Schaden entstanden ist.