JudikaturVwGH

Ra 2025/09/0043 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
04. September 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Doblinger sowie den Hofrat Mag. Feiel und die Hofrätin Dr. Koprivnikar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Hahn, LL.M., über die außerordentlichen Revisionen des Disziplinaranwalts beim Disziplinarrat der Österreichischen Ärztekammer in Wien, vertreten durch die Haslinger/Nagele Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichts Wien jeweils vom 21. März 2025, VGW 172/V/024/13552/20244 (protokolliert zu Ra 2025/09/0043), VGW 172/V/024/13888/2024 4 (protokolliert zu Ra 2025/09/0044), VGW 172/V/024/13887/2024 4 (protokolliert zu Ra 2025/09/0045), betreffend Disziplinarverfahren nach dem Ärztegesetz 1998 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Disziplinarrat der Österreichischen Ärztekammer Disziplinarkommission für Wien; weitere Partei: Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz; mitbeteiligte Partei: Dr. A B, vertreten durch die Zacherl Schallaböck Proksch Manak Kraft Rechtsanwälte GmbH in Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Den Revisionen wird Folge gegeben und die angefochtenen Erkenntnisse gemäß § 42 Abs. 4 VwGG dahingehend abgeändert, dass der Beschluss des Disziplinarrates der Österreichischen Ärztekammer Disziplinarkommission für Wien vom 1. Juli 2024, Dk 19/2020 W, Dk 50/2021 W, Dk 2/2021 W, ersatzlos behoben wird.

I. Ra 2025/09/0043:

1 Mit Beschluss vom 24. August 2020, Dk 19/2020W, leitete der entsprechend § 140 Abs. 3 Ärztegesetz 1998 (ÄrzteG 1998), BGBl. I Nr. 169/1998 in der Fassung BGBl. I Nr. 140/2023, zusammengesetzte Disziplinarrat der Österreichischen Ärztekammer Disziplinarkommission für Wien (vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde) gegen den Mitbeteiligten, einen Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtsmedizin, das Disziplinarverfahren ein und ordnete die mündliche Disziplinarverhandlung an (Einleitungsbeschluss§ 154 Abs. 2 ÄrzteG 1998).

2 Mit Disziplinarerkenntnis vom 12. Oktober 2020 sprach die belangte Behörde den Mitbeteiligten entsprechend der im Einleitungsbeschluss dargelegten Beschuldigungspunkte schuldig, er habe am 1. Juli 2020 am Ballhaus- bzw. Heldenplatz in Wien im Rahmen einer Kundgebung eine Rede gehalten, bei der er gesagt habe, dem Coronavirus SARS CoV2 brauche man nur freien Lauf lassen, dann werde es sich irgendwann totlaufen; das Virus sei relativ harmlos im Vergleich zu anderen Viren und Grippeviren; es gäbe daher real kein Problem mit unserer Gesundheit. Er habe dadurch das Ansehen der in Österreich tätigen Ärzteschaft beeinträchtigt und damit die Disziplinarvergehen nach § 136 Abs. 1 Z 1 und Z 2 ÄrzteG 1998 begangen. Über den Mitbeteiligten wurde hiefür gemäß § 139 Abs. 1 Z 2 ÄrzteG 1998 die Disziplinarstrafe der Geldstrafe in der Höhe von 5.000 Euro verhängt und er zum Ersatz der mit 1.000 Euro bestimmten Kosten des Disziplinarverfahrens verpflichtet.

II. Ra 2025/09/0045:

3 Mit Beschluss vom 22. Februar 2021, Dk 2/2021 W, leitete die belangte Behörde gegen den Mitbeteiligten ein weiteres Disziplinarverfahren ein und ordnete die mündliche Disziplinarverhandlung an.

4 Mit Disziplinarerkenntnis vom 3. Mai 2021 sprach die belangte Behörde den Mitbeteiligten entsprechend der in diesem Einleitungsbeschluss dargelegten Beschuldigungspunkte ferner schuldig, er habe im Jänner 2021 in Wien auf der Website des Vereins ICI Initiative für Evidenzbasierte Corona Information ein Dokument vom 2. Jänner 2021 mit dem Titel „10 Gründe gegen die Impfung“ mit der Aussage publiziert, dass es derzeit nicht sinnvoll sei, sich gegen COVID 19 zu impfen, insbesondere mit der unwahren Behauptung, die Sterblichkeit bei COVID 19 sei sehr gering und vergleichbar mit sonstigen grippalen Infekten; die neuartige mRNAImpfung könne unter Umständen das Erbgut verändern, wobei derartige Genmanipulationen nicht rückgängig zu machen und unter Umständen vererblich seien; die Impfung komme zu spät, weil die Mehrheit der Bevölkerung bereits mit dem Virus in Kontakt gekommen und daher gegen das Virus immun sei; die Haftung für Impfschäden sei fraglich, weil die Staaten mit den Pharmafirmen Geheimverträge abgeschlossen hätten. Er habe dadurch das Ansehen der in Österreich tätigen Ärzteschaft beeinträchtigt und damit das Disziplinarvergehen nach § 136 Abs. 1 Z 1 ÄrzteG 1998 begangen, weshalb über den Mitbeteiligten gemäß § 139 Abs. 1 Z 2 ÄrzteG 1998 eine weitere Disziplinarstrafe der Geldstrafe in der Höhe von 5.000 Euro verhängt und er zum Ersatz der mit 1.000 Euro bestimmten Kosten des Disziplinarverfahrens verpflichtet wurde.

III. Ra 2025/09/0044:

5 Mit Disziplinarerkenntnis vom 21. April 2022, Dk 50/2021 W, sprach die belangte Behörde den Mitbeteiligten schließlich, entsprechend der in dem weiteren Einleitungsbeschluss vom 17. März 2022 dargelegten Beschuldigungspunkte schuldig, er habe im September 2021 in Wien fälschlich und entgegen dem Stand der Wissenschaft in einem Beitrag auf der Website „Rechtsanwälte für Grundrechte“ mit der Überschrift: „‚Corona-Impfung‘ Die programmierte Selbstzerstörung des Körpers Wie die mRNA ‚Impfung‘ das Immunsystem dazu bringt, den eigenen Körper anzugreifen‘“ mit dem Resümee vorgebracht, dass mit der mRNA Coronaimpfung gezielt eine unvorstellbar große Anzahl an gesunden körpereigenen Zellen mit dem Spikeprotein als fremd markiert und so zur Zerstörung durch das eigene Immunsystem freigegeben werde; und überdies im Dezember 2021 in Wien in einem Prospekt des Vereins für basisgetragene, selbstbestimmte, pluralistische und unabhängige Medienvielfalt, der im Rahmen einer Postsendung an Haushalte verteilt worden sei, behauptet: „Die neuartige mRNA ‚Impfung‘ bringt das menschliche Immunsystem dazu, den eigenen Körper anzugreifen. Die Corona ‚Impfung‘ muss also als eine ‚programmierte SelbstZerstörung des Körpers‘ bezeichnet werden“, und damit das Ansehen der in Österreich tätigen Ärzteschaft beeinträchtigt sowie entgegen § 53 Abs. 1 ÄrzteG 1998 in Verbindung mit §§ 1, 2 Abs. 1 und 2 der Verordnung Arzt und Öffentlichkeit 2014 unsachliche und unwahre Informationen veröffentlicht. Er habe damit die Disziplinarvergehen des § 136 Abs. 1 Z 1 und Z 2 ÄrzteG 1998 begangen und es wurde über ihn hiefür gemäß § 139 Abs. 1 Z 2 ÄrzteG 1998 eine weitere Disziplinarstrafe der Geldstrafe in der Höhe von 10.000 Euro verhängt und er zum Ersatz der mit 1.000 Euro bestimmten Kosten des Disziplinarverfahrens verpflichtet.

6Gegen diese Disziplinarerkenntnisse erhob der Mitbeteiligte jeweils Beschwerde an das Verwaltungsgericht Wien, das in diesen Verfahren mit Beschluss vom 22. November 2022 beim Verfassungsgerichtshof den dort zu G 311/2022 protokollierten Antrag stellte, dieser möge näher bezeichnete Bestimmungen des Ärztegesetzes 1998, u.a. § 140 ÄrzteG 1998, als verfassungswidrig aufheben.

7 Mit Erkenntnis vom 6. März 2023, G 237/202220, u.a., hob der Verfassungsgerichtshof die Wortfolge „und auf Vorschlag des Vorstandes der Österreichischen Ärztekammer vom Bundesminister für Gesundheit und Frauen bestellt wird“ in § 140 Abs. 3 erster Satz, die Wortfolge „auf Vorschlag des Vorstandes der Österreichischen Ärztekammer vom Bundesminister für Gesundheit und Frauen“ in § 140 Abs. 3 zweiter Satz und den dritten Satz in § 140 Abs. 3 ÄrzteG 1998, BGBl. I Nr. 169, idF BGBl. I Nr. 140/2003, mit Ablauf des 30. September 2024 als verfassungswidrig auf, und sprach aus, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten. Dies wurde vom Bundeskanzler im Bundesgesetzblatt vom 21. März 2023, BGBl. I Nr. 19/2023, kundgemacht.

8 Das Verwaltungsgericht hob in der Folge mit Erkenntnissen vom 30. März 2023 die eingangs dargestellten Disziplinarerkenntnisse vom 12. Oktober 2020, 3. Mai 2021 und 21. April 2022 jeweils wegen Unzuständigkeit der belangten Behörde auf.

9 Mit Beschluss vom 1. Juli 2024 stellte die nach der mit 1. Jänner 2024 in Kraft getretenen Novelle des Ärztegesetzes 1998 mit BGBl. I Nr. 195/2023 neu zusammengesetzte belangte Behörde die Disziplinarverfahren zu Dk 19/2020 W, Dk 2/2021 W und Dk 50/2021W gegen den Mitbeteiligten mit der Begründung ein, mittlerweile sei gemäß § 137 Abs. 1 Z 1 ÄrzteG 1998 Verfolgungsverjährung eingetreten. Die nicht abgesondert anfechtbaren Einleitungsbeschlüsse (bzw. in einem Fall ein zuvor gefasster Beschluss auf Bestellung eines Sachverständigen) als erste Verfolgungshandlungen im Sinn dieser Bestimmung, so wurde zusammengefasst begründet, teilten das rechtliche Schicksal der verfahrensbeendenden Entscheidungen und seien daher von den Aufhebungen der Disziplinarerkenntnisse wegen Unzuständigkeit mitumfasst. Der Erlassung eines neuen Einleitungsbeschlusses oder der Setzung anderer Verfolgungshandlungen stehe die inzwischen nach § 137 Abs. 1 Z 1 ÄrzteG 1998 eingetretene Verfolgungsverjährung von einem Jahr ab Kenntnis des Disziplinaranwalts von dem dem Disziplinarvergehen zugrundeliegenden Sachverhalt entgegen.

10 Die gegen diesen Beschluss vom revisionswerbenden Disziplinaranwalt erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht Wien mit den angefochtenen Erkenntnissen vom 21. März 2025 ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte es jeweils für unzulässig.

11Rechtlich begründete das Verwaltungsgericht dies im Wesentlichen dahingehend, dass für den Begriff der Verfolgungshandlung des § 137 Abs. 1 Z 1 ÄrzteG 1998 zwar grundsätzlich auf § 32 Abs. 2 VStG zurückgegriffen werden könne und es sich bei einem Einleitungsbeschluss grundsätzlich um eine Verfolgungshandlung handle. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Hinweis auf VwGH 22.3.2023, Ra 2023/09/0001, Rn. 18) müsse die Verfolgungshandlung jedoch von der zuständigen Behörde gesetzt werden. Dies sei im Hinblick auf die verfassungswidrige Zusammensetzung der Disziplinarkommission nicht erfolgt, sodass die Verfolgungsverjährungsfrist des § 137 Abs. 1 Z 1 ÄrzteG 1998 verstrichen sei, ohne dass eine nach dem Ärztegesetz 1998 zuständige Behörde eine Verfolgungshandlung gesetzt habe.

12 Die Unzulässigkeit der Revision begründete das Verwaltungsgericht jeweils mit dem Fehlen einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung.

13 Gegen diese Erkenntnisse richten sich die außerordentlichen Revisionen des Disziplinaranwalts der Österreichischen Ärztekammer wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit. In den vom Verwaltungsgerichtshof durchgeführten Vorverfahren erstattete der Mitbeteiligte Revisionsbeantwortungen.

14Die revisionswerbende Partei sieht die zur Zulässigkeit ihrer außerordentlichen Revisionen führende Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung zusammengefasst darin gelegen, dass es an Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur verjährungsunterbrechenden Wirkung eines Einleitungsbeschlusses gemäß § 154 Abs. 2 ÄrzteG 1998 fehle, der von einer unrichtig zusammengesetzten Disziplinarkommission gefasst worden sei, wobei sich die unrichtige Zusammensetzung erst durch ein später ergangenes Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes ergeben habe. Mit dieser Rechtsfrage habe sich der Verwaltungsgerichtshof entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts auch nicht in dem von diesem zitierten Erkenntnis vom 22. März 2023, Ra 2023/09/0001, auseinandergesetzt. Vielmehr sei darin die Übertragbarkeit der Judikatur zu § 32 Abs. 2 VStG auf das Ärztegesetz 1998 betont worden. Nach jener (näher dargelegten) Rechtsprechung gehe die faktische Wirkung als Verfolgungshandlung jedoch auch durch eine Aufhebung der diese bewirkende Entscheidung im Rechtsmittelweg nicht verloren. Insofern sei das Verwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in den aufgrund ihres sachlichen und rechtlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Verfahren in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

15 Die Revisionen erweisen sich aus den von der revisionswerbenden Partei dargelegten Gründen als zulässig. Sie sind auch begründet.

16Die vorliegenden Revisionssachen gleichen im Hinblick auf die Entscheidungsbegründungen durch das Verwaltungsgericht und das in den Revisionen erstattete Vorbringen sowohl in tatsächlicher wie auch in rechtlicher Hinsicht in den entscheidungswesentlichen Umständen jenem Fall, der dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom heutigen Tag, Ra 2025/09/0020, zu Grunde lag und auf dessen Begründung daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird.

17 Auch die gegenständlichen Verfahren stellen in Bezug auf die mit dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 6. März 2023, G 237/202220, u.a., erfolgte Aufhebung von Teilen des § 140 Abs. 3 ÄrzteG 1998 in der Fassung BGBl. I Nr. 140/2003 einen Anlassfall im Sinn des Art. 140 Abs. 7 B VG dar. Die sich daraus ergebende Unzuständigkeit der belangten Behörde infolge gesetzwidriger Zusammensetzung auch betreffend den nicht abgesondert anfechtbaren Einleitungsbeschluss (oder einer anderen Verfolgungshandlung) führte jedoch nicht dazu, dass diesem die Wirkung als relevante Verfolgungshandlung genommen worden wäre.

18Die angefochtenen Erkenntnisse, die die Einstellung der Disziplinarverfahren wegen Eintritts der Verfolgungsverjährung nach § 137 Abs. 1 Z 1 ÄrzteG 1998 bestätigten, sind deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.

19Da auch in den vorliegenden Fällen die Strafbarkeitsverjährungsfrist des § 137 Abs. 1 Z 2 ÄrzteG 1998 offenkundig noch nicht abgelaufen ist, war auch hier vom Verwaltungsgerichtshof gemäß § 42 Abs. 4 VwGG in der Sache selbst zu entscheiden und die angefochtenen Erkenntnisse daher im Sinn der ersatzlosen Behebung des Einstellungsbeschlusses der belangten Behörde abzuändern.

20Entgegen dem Vorbringen in den Revisionsbeantwortungen ist auch der Bescheid einer Behörde, die infolge einer in einem Normenkontrollverfahren ergangenen aufhebenden Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes unrichtig zusammengesetzt und deshalb unzuständig war, nicht nichtig, sondern bloß vernichtbar (siehe VwGH 19.5.2014, 2013/09/0186, mwN, zur Aufhebung der Geschäftsverteilung einer Disziplinarkommission; vgl. auch VwGH 24.4.2025, Ra 2024/09/0079, Rn. 25, zur Weiteranwendung der hier in Rede stehenden und als verfassungswidrig erkannten Rechtslage in von der Anlassfallwirkung nicht betroffenen Fällen).

Wien, am 4. September 2025