Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed, den Hofrat Mag. Tolar sowie die Hofrätinnen Dr.in Gröger, Dr.in Sabetzer und Dr. Kronegger als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Hahn, LL.M., über die Revision des S M, vertreten durch Mag. Ralf Niederhammer, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Garnisongasse 7/2/19, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. August 2024, W293 2288327 1/17E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der minderjährige Revisionswerber, ein syrischer Staatsangehöriger der kurdischen Volksgruppe, stellte am 29. November 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, als Minderjähriger Angst vor einer Zwangsrekrutierung zu haben. Soldaten seien in seine Schule gekommen; sie hätten den Schülern Waffen gezeigt und ihnen befohlen, Panzer und Autos mit Steinen zu bewerfen. Sein Vater habe deswegen Angst bekommen und er selbst habe danach auch Angst gehabt. Im Fall einer Rückkehr habe er Angst vor dem Krieg.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 5. Februar 2024 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ab, erkannte dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
4 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, der Revisionswerber habe keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft gemacht. Der zwölfjährige Revisionswerber befinde sich noch über mehrere Jahre nicht im wehrpflichtigen Alter. Ihm drohe derzeit nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die konkrete Einziehung in den Militärdienst der Regierung oder anderer Gruppierungen. Es bestehe auch keine hinreichende Gefahr, dass dem Revisionswerber als Minderjährigem eine Zwangsrekrutierung drohe. Der Herkunftsort des Revisionswerbers stehe unter kurdischer Kontrolle. Er sei im Fall einer Rückkehr in seine Heimatregion auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer realen Gefahr der Verfolgung durch die kurdischen Streitkräfte ausgesetzt; er befinde sich aktuell noch nicht in einem Alter, in dem er von diesen rekrutiert werden würde. Gesamt betrachtet könne man nicht von einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgehen, dass der Revisionswerber bei einer Rückkehr in seinen Familienverbund einer Zwangsrekrutierung unterliegen würde. Die Indoktrinierungsmaßnahmen in der Schule und der Zwang, Autos mit Steinen zu bewerfen, seien jedenfalls noch nicht als Zwangsrekrutierung zu werten und erreichten nicht das Ausmaß einer asylrelevanten Verfolgung. Dem Revisionswerber drohe in seiner Heimat auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit keine Verfolgung aufgrund einer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe.
5 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend macht, das BVwG weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht von Erkenntnissen ab. Eine Auseinandersetzung mit den im Erkenntnis getroffenen Feststellungen, wonach die Gefahr einer Zwangsrekrutierung im Zusammenhang mit dem Personalbedarf der kurdischen Streitkräfte stehe und die Zahl der Rekrutierungen von Kindern insbesondere in den umkämpften Gebieten steige, fehle. Im Herkunftsgebiet fänden Angriffe der türkischen Streitkräfte auf die (kurdisch dominierten) Syrian Democratic Forces (SDF) statt, weshalb von einem hohen Rekrutierungsdruck auszugehen sei. Das BVwG habe schließlich nicht nachvollziehbar begründet, wie sich der Revisionswerber im Fall der Rückkehr, unter Beachtung der bereits erfolgten Rekrutierungsversuche, neuerlichen Rekrutierungsversuchen entziehen solle. Die Begründung des BVwG, dass es eine „(erneute) Zwangsrekrutierung“ des Revisionswerbers für unwahrscheinlich erachte, sei daher nicht nachvollziehbar.
6 Das BFA erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
7 Die Revision ist zulässig und begründet.
8Vorauszuschicken ist, dass die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG vom Verwaltungsgerichtshof gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sachund Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zu prüfen ist (vgl. etwa VwGH 29.1.2025, Ra 2024/18/0550, mwN). Dementsprechend entziehen sich Änderungen der Sach und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren.
9Der Verwaltungsgerichtshof hat in Zusammenhang mit den sowohl die Behörde als auch das Verwaltungsgericht treffenden Ermittlungspflichten festgehalten, dass auch im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG gilt. Für das Asylverfahren stellt § 18 AsylG 2005 eine Konkretisierung der aus § 37 AVG iVm § 39 Abs. 2 AVG hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde und des Verwaltungsgerichtes dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt (auch) von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen.
10Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Aufnahme aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. zum Ganzen VwGH 7.7.2023, Ra 2022/18/0218, mwN).
11 Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht.
12 Zutreffend zeigt die Revision auf, dass die Einschätzung des BVwG, dem Revisionswerber drohe bei Rückkehr in den Herkunftsstaat keine asylrelevante Verfolgung, weil eine (erneute) Zwangsrekrutierung unwahrscheinlich sei, nur mangelhaft begründet wurde.
13 Aus dem angefochtenen Erkenntnis ergibt sich, dass dem Revisionswerber schon im kindlichen Alter von Soldaten vermutlich kurdischer Truppen in der Schule befohlen worden sei, vorbeifahrende Autos und Panzer mit Steinen zu bewerfen, um das Land zu verteidigen. Dem habe sich der Revisionswerber gefügt und daran tatsächlich mitgewirkt. Sein Vater, der dies abgelehnt habe, habe ihn nach Kenntnis davon außer Landes geschickt. Auch wenn das BVwG dazu keine Feststellungen getroffen hat, ergibt sich aus der Beweiswürdigung des angefochtenen Erkenntnisses, dass das Verwaltungsgericht diese Vorgänge nicht in Zweifel zieht.
14 Obwohl aus den Länderberichten zum Entscheidungszeitpunkt hervorgeht, dass die Zwangsrekrutierung von Kindern in den kurdischen Gebieten ein fortdauerndes Problem darstellte, verneint das BVwG eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende Zwangsrekrutierung des Revisionswerbers im Falle einer Rückkehr. Zutreffend weist die Revision darauf hin, dass das BVwG die Gefahr einer Zwangsrekrutierung sehr abstrakt beurteilt und aus den Länderberichten schließt, dass nicht systematisch eine große Zahl von Jugendlichen oder Kindern zwangsrekrutiert werden würde. Dabei hat sich das BVwG jedoch nur selektiv mit den einschlägigen Länderberichten beschäftigt. So führt es aus, dass eine Kombination von sozialen und psychologischen Faktoren (wie niedriges Bildungsniveau, soziale Probleme und ideologische Propaganda) dazu führe, dass junge Menschen sich den Truppen freiwillig anschließen würden. Probleme in der Familie oder Geldprobleme seien „gewisse Fallkonstellationen“, die eine diesbezügliche Gefahr begründen würden. Der Revisionswerber komme aus stabilen Familienverhältnissen und sein Vater lehne die Beteiligung des Revisionswerbers am Kampf ab. Daraus folgert das BVwG, dass dem Revisionswerber keine Gefährdung drohe.
15 Zu Recht macht die Revision geltend, dass das BVwG andere relevante Faktoren für die Gefahr einer Zwangsrekrutierung außer Acht gelassen habe. Der vom BVwG festgestellte Herkunftsort des Revisionswerbers liegt im Grenzgebiet zur Türkei. Den Länderfeststellungen des angefochtenen Erkenntnisses ist zu entnehmen, dass die Rekrutierung Minderjähriger zu einer „systematischen Policy der SDF“ gehöre, an der viele Unterorganisationen und sogar Schulen der AANES beteiligt seien. Zwar gebe es Bemühungen der SDF, der Praxis der Rekrutierung von Kindern ein Ende zu setzen. Allerdings sei die Praxis nach wie vor nicht eingestellt worden. Die Rekrutierungen von Minderjährigen steige insbesondere nach Angriffen auf die von der SDF kontrollierten Gebiete an, weil die SDF die verlorenen Kräfte kompensieren möchte. Davon ausgehend zeigt die Revision zutreffend auf, dass sich das BVwG unter Beachtung der eigenen Länderfeststellungen mit der Lage des Herkunftsortes und der dortigen Sicherheitslage, die sich auch nach den im Erkenntnis wiedergegebenen Länderinformationen der Staatendokumentation im Nordosten Syriens als äußerst volatil darstelle, näher auseinandersetzen hätte müssen, um die vom Revisionswerber vorgebrachten Verfolgungsgründe nachvollziehbar beurteilen zu können.
16 Auch die Länderrichtlinien der EUAA (Country Guidance), denen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wie jenen des UNHCRbesondere Beachtung zu schenken ist („Indizwirkung“) und die gemäß Art. 11 Abs. 3 der Verordnung (EU) 2021/2303 bei der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz von den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen sind (vgl. VwGH 25.6.2024, Ra 2024/18/0151, mwN), konstatieren eine Zunahme von Rekrutierungen Minderjähriger (vgl. Country Guidance Syria, April 2024, 97 f). Trotz der soeben dargestellten Auseinandersetzungspflicht mit den Länderrichtlinien zieht das BVwG sie nur zur Lage der Rückkehrer aus dem Ausland heran, nicht jedoch zur hier relevanten Rekrutierungsgefahr Minderjähriger.
17 Die Revision bringt schließlich vor, es sei nur der Intervention des Vaters zu verdanken, dass der Revisionswerber einer (vollendeten) Zwangsrekrutierung durch Entführung oder durch einen „freiwilligen“ Beitritt entgehen habe können. Dass die Rekrutierung nicht abgeschlossen werden habe können, indem er etwa in ein Trainingscamp der SDF verbracht worden sei, stehe der Furcht des Revisionswerbers, er würde im Fall seiner Rückkehr erneut rekrutiert werden, nicht entgegen.
18Unter Zugrundelegung der vom BVwG erkennbar nicht in Zweifel gezogenen Schilderungen des Revisionswerbers zu seinen Erlebnissen vor der Flucht ist tatsächlich von Rekrutierungshandlungen ihm gegenüber auszugehen. Eine „Vorverfolgung“ ist jedoch als ernsthafter Hinweis für die Begründetheit der Furcht vor Verfolgung im Sinn des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) und damit als Indiz für eine mögliche Verfolgung anzusehen (vgl. VwGH 18.7.2022, Ra 2021/18/0416, mwN).
19Unter Beachtung des Art. 4 Abs. 4 Statusrichtlinie hätte das BVwG daher darlegen müssen, weshalb es ungeachtet dessen nicht von einer Verfolgung bei Rückkehr ausgehe. Die Vorgänge in der Schule des Revisionswerbers sind als ernsthafte Hinweise darauf zu werten, dass dieser Gefahr läuft, bei Rückkehr Verfolgung zu erfahren. Dieses Indiz müsste durch stichhaltige Gründe (vgl. VwGH 3.5.2016, Ra 2015/18/0212) entkräftet werden, um eine Verfolgungsgefahr verneinen zu können. Dies gelingt dem BVwG mit seiner Begründung nicht, weil die angenommenen stabilen familiären Verhältnisse den Revisionswerber auch nicht in der Vergangenheit davor bewahrt haben, in der Schule unter Druck gesetzt und für Gewaltakte rekrutiert zu werden.
20Da nicht auszuschließen ist, dass das BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Begründungsmängel zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte gelangen können, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen näher eingegangen werden müsste.
21Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 20. März 2025