Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer, den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin Dr. in Gröger als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des A K, vertreten durch Mag. a Sarah Moschitz Kumar, Rechtsanwältin in 8010 Graz, Schießstattgasse 30/1, gegen das am 29. März 2022 mündlich verkündete und am 12. Juli 2022 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W112 2218270 1/53E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, stellte am 27. April 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet. Zu den Gründen für seine Flucht brachte er zusammengefasst vor, dass Verwandte und ein Freund Widerstandskämpfer unterstützt hätten und aufgrund dessen auch ihm Haft und Verfolgung drohe.
2 Nachdem der Revisionswerber erstmals am 18. April 2016 in Polen einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte, wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) seinen Antrag als unzulässig zurück und stellte fest, dass Polen für die Prüfung des Antrages zuständig sei.
3 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde. Dieser wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 22. November 2016 stattgegeben, der Bescheid vom 18. April 2016 wegen Ablauf der Überstellungsfrist behoben und das Verfahren für zulässig erklärt. Als Fluchtgründe machte der Revisionswerber weiterhin geltend, er sei wegen eines engen Freundes, der zum tschetschenischen Widerstand gegangen sei, und wegen seiner Onkel, die tschetschenische Kämpfer mit Nahrungsmitteln versorgt hätten, einer Verfolgungsgefahr bei Rückkehr in seine Heimat ausgesetzt.
4 Mit Bescheid vom 21. März 2019 wies das BFA den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
5 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber wiederum Beschwerde an das BVwG. Im Beschwerdeverfahren brachte er ergänzend vor, sich in Österreich exilpolitisch betätigt zu haben und öffentlich regimekritisch aufgetreten zu sein. Er sei aktives Mitglied des politisch oppositionellen „Kulturvereins Itschkeria“, habe an mehreren von diesem Verein organisierten Demonstrationen in Wien teilgenommen und sich gegen den tschetschenischen Machthaber Kadyrow und gegen den russischen Präsidenten Putin gewandt. Personen, die wie er im Ausland politisch in Erscheinung getreten seien, wären bei Rückkehr Verfolgung ausgesetzt.
6 Das BVwG führte mehrere Tagsatzungen zur mündlichen Verhandlung durch; in einer Stellungnahme im Rahmen der letzten Tagsatzung am 29. März 2022 beantragte der Revisionswerber im Hinblick auf den zwischenzeitig erfolgten militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine die Einholung aktueller Länderinformationen über die Repressionen des russischen Regimes gegen politisch oppositionelle Personen aus Tschetschenien sowie zur Gefahr der Mobilisierung tschetschenischer Männer für den Ukrainekrieg.
7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis, das am selben Tag mündlich verkündet und am 12. Juli 2022 schriftlich ausgefertigt wurde, wies das BVwG die Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
8 Begründend führte das BVwG soweit für die außerordentliche Revision relevant aus, es könne nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber aufgrund des Verhaltens eines Freundes oder Verwandter in seinem Heimatstaat asylrelevant verfolgt oder ein Strafverfahren gegen ihn geführt worden sei. Auch sei nicht feststellbar, dass der Revisionswerber aufgrund seiner Tätigkeit für den oppositionellen Verein „Itschkeria“ in Österreich ins Blickfeld russischer Behörden geraten sei und ihm daher eine asylrelevante Verfolgung drohe. Eine Einberufung in den russischen Militärdienst drohe dem Revisionswerber nicht. Er befinde sich nicht mehr im wehrpflichtigen Alter und es sei in der Russischen Föderation noch zu keiner „Generalmobilmachung“ gekommen.
9 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit geltend macht, das Erkenntnis sei unzureichend begründet. Das BVwG habe in entscheidungswesentlichen Punkten keine oder widersprüchliche Feststellungen getroffen. Es habe gegen seine Ermittlungs- und Begründungspflicht verstoßen, indem es keine näheren Ermittlungen zu den exilpolitischen Zielen des Vereins „Itschkeria“ angestellt und sich mit der Stellungnahme des Revisionswerbers vom 29. März 2022 inhaltlich nicht auseinandergesetzt habe. Entgegen dem darin gestellten Beweisantrag habe es keine aktuellen Länderinformationen über die Repressionen des russischen Regimes gegen politisch oppositionelle Personen aus Tschetschenien sowie zur Gefahr der Mobilisierung tschetschenischer Männer für den Ukrainekrieg eingeholt. Insbesondere hätte es zu dem Vorbringen, wonach auch vermehrt Personen, die kein „high profile“ aufweisen, in das Blickfeld der russischen Geheimdienste gelangen würden und der Revisionswerber auf den Demonstrationen eindeutig als aktiv oppositionspolitisch identifizierbar sei, weiterer Ermittlungen und Feststellungen bedurft. Zwar würden die herangezogenen Länderberichte vom 10. März 2022 stammen, diese würden jedoch keine aussagekräftigen Informationen zu der seit Beginn des Krieges in der Ukraine verschärften Situation enthalten.
10 Das BFA hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision ist zulässig und begründet.
12 Der Verwaltungsgerichtshof hat in Zusammenhang mit den sowohl die Behörde als auch das Verwaltungsgericht treffenden Ermittlungspflichten festgehalten, dass auch im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG gilt. Für das Asylverfahren stellt § 18 AsylG 2005 eine Konkretisierung der aus § 37 AVG iVm § 39 Abs. 2 AVG hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde und des Verwaltungsgerichtes dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt (auch) von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen (vgl. VwGH 18.11.2020, Ra 2020/18/0058, mwN).
13 Weiters ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach das BVwG bei seiner Entscheidung die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde legen muss, wobei zu beachten ist, dass bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben können (vgl. VwGH 18.11.2021, Ra 2021/18/0286, mwN).
14 Neben der Aufnahme aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise hat das Verwaltungsgericht auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. wiederum VwGH 18.11.2020, Ra 2020/18/0058, mwN).
15 Das angefochtene Erkenntnis datiert vom 29. März 2022, somit kurz nach dem Angriff der russischen Truppen auf die Ukraine. Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar das zum Entscheidungszeitpunkt aktuellste Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 10. März 2022, Version 6, inklusive der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 17. März 2022 herangezogen. Die Revision macht jedoch zutreffend geltend, dass dieses Länderinformationsblatt keine aussagekräftigen aktuellen Informationen zu der seit Beginn des Krieges in der Ukraine am 24. Februar 2022 verschärften Situation enthielt. Diese Änderung der Situation im Herkunftsstaat des Revisionswerbers wurde in seiner Stellungnahme vom 29. März 2022 auch thematisiert. So brachte der Revisionswerber darin vor, dass sich das Klima für politisch oppositionell tätige Personen in Russland verschärft habe. Der Revisionswerber sei im Verein „Itschkeria “ aktiv tätig, der eine klar politische Agenda in Hinblick auf die Ablehnung Tschetscheniens als Teil der Russischen Föderation habe. Der Verein und auch der Revisionswerber hätten sich seit Ausbruch des Ukrainekriegs öffentlich gegen Putin und den Krieg positioniert. Es sei davon auszugehen, dass der russische Geheimdienst aktuell seine Aktivitäten in der Überwachung politisch aktiver Personen im In- und Ausland verschärfe und nun vermehrt auch „nicht high profile“ Personen ins Blickfeld des Geheimdienstes gelangen würden. Der Revisionswerber beantragte im Rahmen der Stellungnahme auch die Einholung aktueller Länderinformationen über die Repressionen des russischen Regimes gegen politisch oppositionelle Personen aus Tschetschenien sowie zur Gefahr der Mobilisierung tschetschenischer Männer für den Ukrainekrieg.
16 Die Revision führt weiter zutreffend aus, der Kurzinformation vom 17. März 2022 sei zu entnehmen gewesen, dass mittlerweile ca. 15.000 Personen bei Protesten gegen den Krieg verhaftet worden seien. Sie macht geltend, das BVwG hätte aufgrund dessen Ermittlungen und Feststellungen sowohl zur Gefahr der Verfolgung von regimekritischen Aktivisten (auch) aus dem „low profile Bereich“ als auch zur Gefahr der zwangsweisen Rekrutierung des Revisionswerbers wegen einer oppositionellen Gesinnung durchführen müssen.
17 Bei dieser Ausgangslage war das BVwG nicht berechtigt, den Beweisantrag des Revisionswerbers vom 29. März 2022, aktuelle Länderinformationen zu den Auswirkungen der jüngsten Ereignisse auf die Rückkehrgefahr für politisch oppositionelle Personen aus Tschetschenien, außer Acht zu lassen und sich mit den vorhandenen Länderinformationen, die sich mit diesen jüngsten Ereignissen nicht mehr umfassend beschäftigten, zu begnügen. Es kann auch nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass derartige Ermittlungen zu keinem anderen Verfahrensergebnis geführt hätten.
18 Der Revision gelingt es somit, relevante Verfahrensmängel darzulegen, weshalb das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben war.
19 Im Übrigen ist auch die weitere Kritik der Revision an der schriftlichen Ausfertigung des angefochtenen Erkenntnisses nicht von der Hand zu weisen: Der gesamte Text des weitwendigen Erkenntnisses ist in der Mitvergangenheit gehalten; das durchgehende Präteritum erschwert das Erfassen des Inhaltes des Erkenntnisses beträchtlich und es fällt schwer einzuordnen, welche Tatsachen als gegenwärtig oder vergangen angenommen wurden, was teilweise bis zur Sinnentstellung führt. Auch Umfang und Aufbau des angefochtenen Erkenntnisses (248 Seiten, davon über 100 Seiten Wiedergabe des Vorbringens samt wörtlicher Kopie von Verhandlungsprotokollen) erschweren eine nachprüfende Kontrolle beträchtlich.
20 Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 7. Juli 2023