Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed und den Hofrat Mag. Tolar als Richter sowie die Hofrätinnen Dr. in Gröger, Dr. in Sabetzer und Dr. Kronegger als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Hahn, LL.M., über die Revision der H F, vertreten durch MMag. Christina Toth, Rechtsanwältin in Wien, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Jänner 2025, W275 2282706 1/9E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die Revisionswerberin, eine somalische Staatsangehörige, stellte am 3. Juli 2023 einen Antrag auf internationalen Schutz, den sie im Lauf des Verfahrens im Wesentlichen damit begründete, im Jahr 2016 gegen ihren Willen einer Genitalverstümmelung unterzogen worden zu sein. Mittlerweile habe ihr eine Frauenärztin in Österreich erklärt, dass sie wieder „offen“ und nicht mehr „zugenäht“ sei, weshalb sie befürchte, bei Rückkehr einer Reinfibulation unterworfen zu werden. Außerdem drohe ihr Vater in Somalia, sie mit einem älteren Mann zwangszuverheiraten.
2 Mit Bescheid vom 7. November 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, erkannte der Revisionswerberin den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihre eine befristete Aufenthaltsberechtigung.
3 Die gegen die Nichtzuerkennung von Asyl erhobene Beschwerde der Revisionswerberin wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
4 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, die behauptete drohende Zwangsverheiratung sei aus näher dargestellten Gründen nicht glaubhaft. Die Revisionswerberin sei im Übrigen im Kindesalter Opfer einer Genitalverstümmelung geworden. Ihr drohe aber keine weitere Genitalverstümmelung gegen ihren Willen, weil die bei ihr durchgeführte Form der Genitalverstümmelung zu den nunmehr üblichsten Formen der weiblichen Verstümmelung im Herkunftsstaat zähle, wobei die Quote an Infibulationen im ganzen Land als rückläufig erachtet werde.
5 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst vorbringt, das Vorbringen der Revisionswerberin zur drohenden Reinfibulation sei vom BVwG nicht ausreichend geprüft worden. Entgegen der Ansicht des BVwG sei der Umstand, dass die Revisionswerberin bereits qualvoll beschnitten worden sei, kein hinreichender Hinweis darauf, dass sie in der somalischen Gesellschaft keiner weiteren (derartigen) Verfolgung ausgesetzt wäre. In diesem Zusammenhang verweist die Revision insbesondere auf einen näher bezeichneten Länderreport des deutschen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Stand August 2023, demzufolge es Fälle gebe, in denen eine erneute Infibulation durchgeführt werde, um eine umfassendere weibliche Genitalverstümmelung (FGM) als die ursprüngliche zu erreichen. Dies werde vorgenommen, wenn die bestehende FGM nicht für angemessen oder ausreichend erachtet werde.
6 Das BFA hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
7 Die Revision ist zulässig und begründet.
8 Weibliche Genitalverstümmelung bzw. beschneidung Female Genital Mutilation/Cutting (FGM/C) bezeichnet die teilweise oder vollständige Entfernung der äußeren weiblichen Geschlechtsorgane oder andere Verletzungen derselben, die aus nichtmedizinischen Gründen vorgenommen werden (Definition der WHO; vgl. zur Terminologie und den Formen von FGM/C etwa Jirovsky Platter/Maukner/Mohamed/El Jelede/Wolf , Female Genital Mutilation/Cutting [FGM/C] in Österreich, Medizinische Universität Wien [2024] 14 f).
9Der Verwaltungsgerichtshof folgt in seiner Rechtsprechung (vgl. etwa VwGH 27.6.2016, Ra 2016/18/0045; 12.12.2018, Ra 2018/19/0293, jeweils mwN) der international weithin anerkannten Sichtweise (vgl. dazu etwa UNHCR Guidance Note on Refugee Claims relating to Female Genital Mutilation, Mai 2009, Rn. 7 f), dass die in manchen Herkunftsstaaten an Asylwerberinnen noch immer praktizierten Formen weiblicher Genitalverstümmelung bzw. -beschneidung (FGM/C) eine asylrelevante Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention darstellen können (vgl. auch Eiber/Ornetsmüller/Reiterlechner/Rosanelli , FGM/C als Asylgrund: Ausgewählte Aspekte einer Analyse der Rechtsprechung des BVwG, https://www.blogasyl.at).
10 Aus den Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses lässt sich entnehmen, dass FGM/C im Herkunftsstaat der Revisionswerberin (Somalia) weiterhin weit verbreitet ist, die große Mehrheit der Frauen einer Form der weiblichen Genitalverstümmelung unterworfen wird und dies ungeachtet einer Rückläufigkeit die Norm bleibe. In den letzten Jahren werde von einem Trend weg von der (klassischen) Infibulation und hin zur „Sunna“ berichtet, die eine alternative Form eines Eingriffs darstellt, der „von einem kleinen Schnitt bis hin zur fast vollständigen pharaonischen Beschneidung“ verschiedene Formen der Verstümmelung umfassen kann (Erkenntnis Seiten 21 ff).
11 Im gegenständlichen Fall wurde die Revisionswerberin im Kindesalter in Somalia unstrittig Opfer einer nicht näher präzisierten Form der FGM/C, die sie in der mündlichen Verhandlung als eine Form der Sunna bezeichnete und als eine Beschneidung mit einer Klinge samt anschließendem Zunähen schilderte. Das BVwG geht in der weiteren Begründung der angefochtenen Entscheidung davon aus, dass der Revisionswerberin bei Rückkehr „keine weitere Genitalverstümmelung gegen ihren Willen“ drohen würde. Es begründet diese Einschätzung nur damit, dass die bei der Revisionswerberin durchgeführte Form der Genitalverstümmelung nach den Länderberichten „die nunmehr üblichste Form der Verstümmelung“ sei; „der Trend gehe in Richtung Sunna, wobei die Quote an Infibulationen im ganzen Land als rückläufig erachtet“ werde (Erkenntnis Seite 32).
12 Diese Begründung und die vom BVwG angestellten Ermittlungen reichen aber nicht aus, um eine asylrelevante Rückkehrgefährdung der Revisionswerberin zu verneinen:
13 Der Verfassungsgerichtshof hat bereits erkannt, dass auch die Gefahr einer Reinfibulation Asyl rechtfertigen kann (vgl. jüngst VfGH 25.2.2025, E 3443/2024, mwN). Wörtlich führte er dazu unter Bezugnahme auf einschlägige Rechtsprechung des BVwG zu Somalia und die zitierten Richtlinien des UNHCR aus:
„Der Verfassungsgerichtshof hat bereits in mehreren Entscheidungen festgehalten, dass es Rechtsprechung des [BVwG] gibt, nach der eine drohende Reinfibulation in Somalia nach dortigen Geburten als ein berücksichtigungswürdiger Umstand in einer Gesamtbetrachtung der individuellen Situation einer Asylsuchenden anerkannt wird, wenn auch das [BVwG] zugleich betont, dass es sich dabei um eine Zusatzbegründung für eine Asylzuerkennung handelt; in dieser Rechtsprechung wird auch angemerkt, dass Reinfibulationen in Somalia insbesondere für alleinstehende Frauen asylrelevant sein können auf Grund der Notwendigkeit der Beschneidung, um in Somalia einen Ehemann finden zu können (vgl jeweils mwN zur Rechtsprechung des [BVwG] VfGH 9.6.2017, E 2687/2016; 24.9.2018, E 2684/2017; 23.9.2019, E 1948/2018). Wie der Verfassungsgerichtshof in diesen Entscheidungen ebenso festgehalten hat, kann nach Einschätzung des UNHCR (vgl Guidance Note on Refugee Claims relating to Female Genital Mutilation, Mai 2009, 8 f.) auch eine bereits vorgenommene weibliche Genitalverstümmelung eine asylrelevante Verfolgung begründen, sei es wegen schweren, oft lebenslang schädigenden Konsequenzen physischer und psychischer Art des ursprünglichen Eingriffes oder der Gefahr einer Vornahme weiterer Genitalverstümmelungen (anderer Form), etwa anlässlich einer Eheschließung oder Geburt eines Kindes. Eine bereits vorgenommene Genitalverstümmelung rechtfertigt daher keinesfalls ohne weitere Ermittlungen die Annahme, dass die individuelle Situation der Beschwerdeführerin von vornherein nicht asylrechtlich relevant wäre und keine Beschneidung drohe ...“
14Dieser abschließenden rechtlichen Beurteilung schließt sich der Verwaltungsgerichtshof an und verweist darauf, dass eine erlittene „Vorverfolgung“ als ernsthafter Hinweis für die Begründetheit der Furcht vor Verfolgung im Sinn des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) und damit als Indiz für eine mögliche (neuerliche) Verfolgung anzusehen ist (vgl. etwa VwGH 20.3.2025, Ra 2024/18/0595, mwN). Unter Beachtung des Art. 4 Abs. 4 Statusrichtlinie hätte das BVwG daher stichhaltige Gründe darlegen müssen, weshalb es ungeachtet der zugestandenen Vorverfolgung von keiner Verfolgungsgefahr bei Rückkehr mehr ausgeht; solche stichhaltigen Gründe enthält das angefochtene Erkenntnis aber nicht.
15 Gegenständlich beschränkte sich das BVwG bei seiner Beurteilung, der Revisionswerberin drohe keine nochmalige Verstümmelung ihrer weiblichen Genitalien in der einen oder anderen Form, auf die Feststellung, dass in Somalia ein Trend zu den weniger invasiven Eingriffsformen zu beobachten und die Zahl der Infibulationen rückläufig sei. Das allein vermag aber nicht nachvollziehbar darzulegen, warum die Revisionswerberin keiner geschlechtsspezifischen Verfolgung mehr unterliegen sollte.
16 Nach den Länderfeststellungen im angefochtenen Erkenntnis bleibt FGM/C in Somalia weiterhin die Norm, auch wenn ein Trend weg von den extremeren Formen der FGM/C zu etwas weniger invasiven Formen feststellbar ist. Abgesehen davon, dass es dazu nach den getroffenen Länderfeststellungen „nur wenige aktuelle Daten“ gibt (Erkenntnis Seite 23), sieht sich der Verwaltungsgerichtshof insoweit zur Klarstellung veranlasst, dass auch weniger invasive Formen der weiblichen Genitalverstümmelung einen schwerwiegenden Eingriff in grundlegende Menschenrechte der Frau begründen, findet doch eine Verletzung der äußeren weiblichen Geschlechtsorgane aus nicht-medizinischen Gründen ohne (wirksame) Einwilligung bzw. gegen den Willen der Betroffenen statt.
17Im gegenständlichen Fall hat die Revisionswerberin in der mündlichen Verhandlung die Befürchtung einer neuerlichen Verstümmelung ihrer weiblichen Genitalien bei Rückkehr nach Somalia näher begründet. Sie hat ausgeführt, dass sie mittlerweile wieder „offen“ sei und Angst habe, „wieder zugenäht [zu werden]“, weil ein Mann, den sie heiraten werde, fragen könne, warum sie nicht (mehr) „zugenäht“ sei. Das BVwG hat sich in der Begründung seiner Entscheidung mit diesem Vorbringen der Revisionswerberin nicht beschäftigt. Es hat weder ermittelt, ob das Vorbringen der Revisionswerberin zutrifft, noch, ob die Befürchtung der Revisionswerberin eines neuerlichen Eingriffs in ihre körperliche Integrität in einschlägigen Länderberichten, die vom BVwG amtswegig zu berücksichtigten sind (vgl. zu den amtswegigen Ermittlungspflichten etwa VwGH 10.12.2014, Ra 2014/18/0078, mwN), Deckung findet. Die Revision verweist in diesem Zusammenhang auf Länderberichte, die auf die Gefahr hinweisen, neuerlich einer Form von FGM/C unterworfen zu werden („Reinfibulation“, auch „Re Exzision“), wenn die bestehende nicht für angemessen oder ausreichend erachtet wird. Dies könne etwa vor einer Heirat geschehen. Sie legt damit die Relevanz des Ermittlungs und Begründungsmangels dar.
18 Aus diesen Gründen ist das angefochtene Erkenntnis mit relevanten Ermittlungs und Begründungsmängeln behaftet und kann keinen Bestand haben.
19Es war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
20Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
21Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 9. September 2025