JudikaturVwGH

Ra 2024/18/0421 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
26. Juni 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed und den Hofrat Mag. Tolar als Richter sowie die Hofrätinnen Dr. in Gröger, Dr. in Sabetzer und Dr. Kronegger als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Hahn, LL.M., über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl gegen das am 19. April 2024 mündlich verkündete und am 25. Juni 2024 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, 1. L501 2269219 1/52E, 2. L501 2269212 1/32E, 3. L501 2269210 1/31E, 4. L501 2269208 1/32E, 5. L501 2269216 1/31E und 6. L501 2269214 1/31E, betreffend Asylangelegenheiten (mitbeteiligte Parteien: 1. W A, 2. N A, 3. M A, 4. A A, 5. Z A, und 6. W A, alle vertreten durch Mag. Ralf Niederhammer, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Garnisongasse 7/2/19), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird, soweit es die Erstmitbeteiligte betrifft, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, im Übrigen wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

1 Die Mitbeteiligten sind Staatsangehörige von Syrien, Angehörige der Volksgruppe der Araber und sunnitische Muslime. Die Zweit- bis Sechstmitbeteiligten sind die minderjährigen Kinder der Erstmitbeteiligten. Die Mitbeteiligten stellten am 18. Oktober 2021 gemeinsam Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Als Fluchtgründe führte die Erstmitbeteiligte an, sie habe Syrien 2012 aufgrund der damaligen Sicherheitslage verlassen und gemeinsam mit ihrem Ehemann bis 2021 in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) gelebt, von wo aus sie die Reise nach Österreich angetreten habe. Aufgrund der Sicherheitslage habe sie nicht (aus den VAE) nach Syrien zurückkehren können. Die Zweit- bis Sechstmitbeteiligten machten keine eigenen Fluchtgründe geltend.

2 Mit Bescheiden vom 21. Februar 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Mitbeteiligten jeweils hinsichtlich des Status der Asylberechtigten ab, erkannte ihnen jedoch jeweils den Status von subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihnen Aufenthaltsberechtigungen für die Dauer von einem Jahr.

3 Den gegen die Nichtzuerkennung von Asyl erhobenen Beschwerden gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) im ersten Rechtsgang nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung statt, erkannte den Mitbeteiligten den Status von Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihnen die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte das BVwG für zulässig.

4 Der Ehemann der Erstmitbeteiligten stellte in Folge Anträge auf Erteilung eines Einreisetitels gemäß § 35 AsylG 2005.

5 Nach Erhebung einer Amtsrevision wurden die Erkenntnisse des BVwG vom Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 12. Dezember 2023, Ro 2023/14/0005, wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben, weil es an den für die Beurteilung der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe - der „de facto alleinstehenden Frauen in Syrien“ - erforderlichen Feststellungen zu den Merkmalen bzw. zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe mangelte. Den angefochtenen Erkenntnissen seien zwar Benachteiligungen und Risiken für alleinstehende Frauen zu entnehmen, jedoch sei nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person als Verfolgung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) anzusehen, sondern nur solche Maßnahmen, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führten. Die Feststellungen zur Person und der familiären Situation der Erstmitbeteiligten ließen den rechtlichen Schluss einer asylrelevanten Verfolgung nicht zu. Gegen die vom Verwaltungsgericht angenommene Verfolgung der Erstmitbeteiligten spreche, dass diese nach den Feststellungen des BVwG nicht alleinstehend, sondern verheiratet sei, und dass sie ab dem Jahr 2017 drei bis vier Mal zur Ablegung von Prüfungen alleine nach Syrien gereist sei, um dort im Jahr 2018 ihr Studium abzuschließen.

6 Mit dem nun angefochtenen, im zweiten Rechtsgang ergangenen Erkenntnis gab das BVwG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung abermals den gegen die Nichtzuerkennung von Asyl erhobenen Beschwerden statt, erkannte den Mitbeteiligten den Status von Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihnen damit Kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Die Erhebung einer Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

7 Begründend führte das BVwG auf das Wesentliche zusammengefasst Folgendes aus:

8 Die Erstmitbeteiligte sei verheiratet und habe zwischen 2012 und 2021 mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen Kindern, den Zweit- bis Sechsmitbeteiligten, in den VAE gelebt.

9 Während ihres Aufenthalts in den VAE sei sie vier Mal aus Gründen ihres im Jahr 2018 an der Universität in Daraa abgeschlossenen Studiums per Flugzeug für einige Tage bis zu einem Monat nach Syrien gereist, wobei sie jeweils von einem oder mehreren ihrer Kinder begleitet worden sei. Vom Flughafen bis zum Haus ihres Ehegatten, in dem ihre Schwiegermutter gelebt habe und sie selbst während ihrer Aufenthalte in Syrien gewohnt habe, habe sie nie öffentliche Verkehrsmittel, sondern „Privattaxis“, die ihr Ehemann bzw. dessen in Syrien aufhältiger Bruder für sie organisiert hätten, benutzt. Den Weg von ihrem Herkunftsort zur Universität habe sie gemeinsam mit anderen Studenten im Bus zurückgelegt. 2018 habe sie ihren Heimatort „fluchtartig verlassen“, da es zu Kampfhandlungen gekommen sei und das syrische Regime den Ort eingenommen habe.

10 Bei ihrer letzten Reise nach Syrien im Dezember 2018 habe ein männliches Kontrollorgan im Rahmen einer Personenkontrolle am Eingang der Universität eine Leibesvisitation an der Erstmitbeteiligten durchgeführt, nachdem sie ihm gesagt habe, dass sie im Ausland lebe. Normalerweise würden derartige Durchsuchungen bei weiblichen Studenten in einem Nebenraum von einer Frau durchgeführt. Der Mann habe die Erstmitbeteiligte an den Brüsten berührt, woraufhin sie ihn weggestoßen und ihn sowie das syrische Regime beschimpft habe. Er habe sie daraufhin bedroht. Sie sei dann sofort mit einem Taxi nach Hause gefahren, wobei ihr Studentenausweis beim Checkpoint verblieben sei.

11 Mit der organisatorischen Hilfe ihres Vaters, ihres Onkels und ihres Ehemannes denen sie nichts von der sexuellen Belästigung erzählt habe sei die Erstmitbeteiligte daraufhin zurück in die VAE gereist, wo sie einige Monate in einer Schule unterrichtet habe, bevor ihr Ehemann seine Arbeit und somit die Aufenthaltsberechtigung verloren habe. Sie sei dann gemeinsam mit ihren Kindern und ihrer Schwester Richtung Europa aufgebrochen, da auch ihr Aufenthaltstitel einige Monate später abgelaufen wäre.

12 Der Ehemann der Erstmitbeteiligten habe die Absolvierung des syrischen Wehrdienstes aufgrund seines Studiums aufschieben können und habe Syrien verlassen, bevor er zum Militär eingezogen worden sei. Er sei nun weder gewillt, den Militärdienst abzuleisten, noch wolle er sich freikaufen. Er sei nicht bereit, nach Syrien zurückzukehren.

13 Bis auf zwei in Syrien verheiratete Schwestern der Erstmitbeteiligten würde ihre ganze Familie im Ausland leben. Ihre noch in Syrien aufhältigen männlichen Verwandten kenne die Erstmitbeteiligte kaum. Im Falle der Rückkehr nach Syrien wäre sie auf sich alleine gestellt, der Ehemann würde „nichts unternehmen“ bzw. könne sie vom Ausland aus nicht schützen. Sie müsste sowohl die Mutter- als auch die Vaterrolle sowie alle Aufgaben eines Haushaltsvorstandes, wie etwa Erledigungen außerhalb ihres Heimatdorfes in der Stadt Daraa, übernehmen, ohne männlichen Schutz zu haben, weil gemäß den geltenden gesellschaftlichen Normen im sozialen Umfeld der Erstmitbeteiligten eine verheiratete Frau nur von ihrem Ehemann, ihrem Vater und ihren Brüdern Schutz erhalten dürfe und außerdem die in Syrien verbliebenen Männer ihrer erweiterten Familie aus verschiedenen Gründen, u.a. aufgrund verwandtschaftlicher Konflikte, nicht bereit wären, sie zu unterstützen.

14 Als alleinstehender weiblicher Haushaltsvorstand ohne männlichen Rückhalt wäre die Erstmitbeteiligte in ihrer Herkunftsregion mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit dem realen Risiko geschlechtsbasierter Gewalt ausgesetzt, konkret dem Risiko, „Opfer von sexueller Gewalt, Ehrenmord, sexuelle[m] Missbrauch, Ausbeutung und Menschenhandel“ zu werden. Frauen, die in ihrer (erweiterten) Familie keine männliche Unterstützung erhielten, „einschließlich alleinstehende Frauen, (alleinstehende) weibliche Haushaltsvorstände ohne familiäre männliche Unterstützung, Witwen und geschiedene Frauen“, würden von der patriarchalischen Gesellschaft in der ländlich konservativen, von Stammes- und Religionsregeln bestimmten Herkunftsregion der Erstmitbeteiligten als andersartig und nicht der traditionellen bzw. moralischen Norm entsprechend wahrgenommen werden. Die gesellschaftliche Akzeptanz von Frauen in nicht traditionellen Rollen sei in einem solchen Gebiet noch viel geringer ausgeprägt als beispielsweise in Damaskus-Stadt. Der syrische Staat, unter dessen Kontrolle der Herkunftsort der Erstmitbeteiligten seit Sommer 2018 stehe, sei weder willens noch in der Lage, die Erstmitbeteiligte vor den drohenden Gefährdungen zu schützen.

15 Weiters stellte das BVwG umfassende Länderberichte zu Syrien fest, die u.a. Aussagen zur Situation alleinstehender weiblicher Haushaltsvorstände treffen.

16 Beweiswürdigend stützte sich das BVwG insbesondere auf die Aussagen der Erstmitbeteiligten vor dem BFA und in der Beschwerdeverhandlung, denen es vor dem Hintergrund der Informationen aus den Länderberichten großteils Glaubhaftigkeit attestierte.

17 Rechtlich ging das BVwG unter Bezugnahme auf Judikatur des Europäischen Gerichtshofes (Hinweis auf EuGH 16.1.2024, C-621/21, Rn 40) und des Verwaltungsgerichtshofes (Hinweis auf VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295, mwN) davon aus, dass die Erstmitbeteiligte im Falle der Rückkehr nach Syrien „in der Herkunftsregion der sozialen Gruppe der (alleinstehenden) weiblichen Haushaltsvorstände ohne familiären männlichen Rückhalt“ angehören würde, welche eine deutlich abgegrenzte Identität aufweise, da sie als nicht der traditionellen bzw. moralischen Norm entsprechend wahrgenommen werde.

18 Die Voraussetzungen, die bei der Auslegung des Asylgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK für das Vorliegen einer solchen Gruppe gefordert seien, seien im Revisionsfall erfüllt: Dass die Erstmitbeteiligte weiblichen Geschlechts sei, stelle ein angeborenes Merkmal im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie dar; schon damit sei die erste Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfüllt. Hinzu trete, dass sie mit anderen Frauen einen nicht veränderbaren gemeinsamen Hintergrund teile, nämlich ihre Stellung in der Herkunftsregion als alleinstehender weiblicher Haushaltsvorstand ohne familiären männlichen Rückhalt.

19 Zur zweiten Voraussetzung für das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“, der „deutlich abgegrenzten Identität“, sei auszuführen, dass alleinstehende weibliche Haushaltsvorstände ohne familiären männlichen Rückhalt laut Berichtslage in der Herkunftsregion der Erstmitbeteiligten von der patriarchalischen Gesellschaft als fremd, andersartig und nicht der traditionellen bzw. moralischen Norm entsprechend wahrgenommen werden würden und der Missbilligung der sie umgebenden Gesellschaft ausgesetzt seien. Auch die zweite Voraussetzung für das Vorliegen einer sozialen Gruppe, die „deutlich abgegrenzte Identität“, sei daher erfüllt.

20 Das Vorliegen einer Verfolgung der Erstmitbeteiligten aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe sei zu bejahen, weil die laut der Berichtslage gegen alleinstehende weibliche Haushaltsvorstände ohne familiären männlichen Rückhalt gerichtete physische, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt einschließlich Ausbeutung, Menschenhandel und Ehrenmorden, gegen die kein staatlicher Schutz bestehe, in deren Zugehörigkeit zu der beschriebenen Gruppe begründet sei. Die von den betroffenen Frauen zu gewärtigenden Maßnahmen würden in ihrer Gesamtheit zweifelsohne zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte führen und seien daher als „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK zu qualifizieren (Hinweis auf VwGH 22.3.2017, Ra 2016/19/0350, Rn 12; VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295, Rn 27, jeweils mwN).

21 Eine innerstaatliche Fluchtalternative komme aufgrund des bereits vom BFA gewährten subsidiären Schutzstatus nicht in Betracht, Endigungs- oder Asylausschlussgründe lägen nicht vor. Die asylrelevante Verfolgung der Erstmitbeteiligten würde im Familienverfahren auf die Zweit- bis Sechstmitbeteiligten „durchschlagen“.

22 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision, die zu ihrer Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst Folgendes geltend macht:

23 Wenn das BVwG davon ausgehe, dass die Erstmitbeteiligte der sozialen Gruppe der alleinstehenden weiblichen Haushaltsvorstände ohne familiären Rückhalt angehöre, so lasse es außer Acht, dass in den vom BVwG zitierten Länderberichten zu Syrien insbesondere geschiedene und verwitwete Frauen zur Gruppe der alleinstehenden Frauen, die besonderen Gefahren ausgesetzt seien, gezählt würden. Die Erstmitbeteiligte sei weder geschieden noch verwitwet, sondern verheiratet. Ihr Ehemann lebe in den VAE. Da er bereits kurz nach Zuerkennung des Status der Asylberechtigten an die Mitbeteiligten Anträge auf einen Einreisetitel nach § 35 AsylG 2005 gestellt habe, sei davon auszugehen, dass er das Zusammenleben bzw. das Führen eines Familienlebens anstrebe, sodass die Argumentation des BVwG, es würde der Erstmitbeteiligten jede Unterstützung durch den Ehemann fehlen, nicht nachvollziehbar sei.

24 Aus dem angefochtenen Erkenntnis gehe außerdem nicht hervor, warum gerade die Erstmitbeteiligte, die verheiratet sei und deren Ehemann im Ausland lebe, einer Verfolgung als alleinstehender weiblicher Haushaltsvorstand ohne familiären männlichen Rückhalt ausgesetzt sein solle. Es fehle an konkreten Feststellungen, die die Beurteilung ermöglichten, ob die vom BVwG für diese soziale Gruppe identifizierten Gefahren - geschlechtsbasierte und sexuelle Gewalt, Ehrenmord, Ausbeutung und Menschenhandel - auch Frauen in der speziellen Situation der Erstmitbeteiligten tatsächlich mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohen und jene erhebliche Intensität erreichen würden, bei der sie als Verfolgung zu qualifizieren wären. Der Vorfall der sexuellen Belästigung der Erstmitbeteiligten an einem Kontrollpunkt der Universität stehe in keinem Zusammenhang mit der vom BVwG identifizierten Gruppenzugehörigkeit.

Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem die Mitbeteiligten eine Revisionsbeantwortung erstatteten, erwogen:

25 Die Revision ist aus den in der Amtsrevision geltend gemachten Gründen zulässig und begründet.

26 Vorauszuschicken ist, dass die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG vom Verwaltungsgerichtshof gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zu prüfen ist (vgl. etwa VwGH 20.3.2025, Ra 2024/18/0595, mwN). Dementsprechend entziehen sich Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren.

27 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. etwa VwGH 3.3.2025, Ra 2024/18/0034, mwN).

28 Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das BVwG seine Begründungspflicht im gegenständlichen Fall verletzt:

29 Das BVwG gewährte der Erstmitbeteiligten, der vom BFA bereits subsidiärer Schutz zuerkannt worden war, den Asylstatus mit der Begründung, ihr drohe als alleinstehendem weiblichem Haushaltsvorstand ohne familiären männlichen Rückhalt in ihrer Herkunftsregion die Gefahr, Opfer geschlechtsbasierter Gewalt bis hin zum Ehrenmord zu werden, ohne Schutz von staatlicher Seite erwarten zu können.

30 Zur Begründung dieser Risikoprognose stützte sich das BVwG auf die Berichtslage, der entnommen werden könne, dass in der ländlich-konservativen Herkunftsregion der Erstmitbeteiligten Frauen, die in ihrer Familie keine männliche Unterstützung erhalten, besonders gefährdet seien, Opfer physischer, sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, einschließlich Ausbeutung, Menschenhandel und Ehrenmorden, zu werden. Gerade im öffentlichen Raum - an Kontrollpunkten, auf Märkten, auf Straßen und in Schulen -, wo sich die Erstmitbeteiligte als für das Haushaltseinkommen verantwortlicher alleinstehender Haushaltsvorstand mit fünf minderjährigen Kindern verstärkt ohne männliche Begleitung bewegen müsste, würden laut der Länderberichte sexuelle Erpressung, Belästigung, Entführungen und (Ehren )Morde von Frauen stattfinden. Dies decke sich mit den Angaben der Mitbeteiligten in der mündlichen Verhandlung, die glaubhaft und schlüssig ausgesagt habe, als verheiratete Frau nur auf die Unterstützung ihres (im Ausland aufhältigen) Vaters, ihrer (im Ausland aufhältigen) Brüder und ihres (in den VAE aufhältigen) Ehegatten zählen zu können und daher in ihrer Situation „eine leichte Beute“ für geschlechtsspezifische Gewalttäter zu sein sowie Gefahr zu laufen „ihren Ruf zu verlieren“, was einen Ehrenmord nach sich ziehen könne.

31 Diese Erwägungen erweisen sich aus mehreren Gründen als nicht nachvollziehbar.

32 Zum einen geht das BVwG davon aus, dass die Erstmitbeteiligte als alleinstehende Frau anzusehen sei, die in Syrien keine familiäre Unterstützung, insbesondere nicht durch männliche Familienangehörige, erhalten würde. Demgegenüber verweist die Amtsrevision zutreffend darauf, dass die Erstmitbeteiligte nicht alleinstehend, sondern verheiratet sei. Das BVwG argumentiert zwar, dass der Ehemann der Erstmitbeteiligten aufgrund der ihm in Syrien drohenden Wehrpflicht nicht bereit sei, nach Syrien zurückzukehren, weshalb sie dort „de facto-alleinstehend“ wäre, es bleibt aber eine nachvollziehbare Erklärung schuldig, weshalb es davon ausgeht, dass der im Ausland lebende Ehemann der Erstmitbeteiligten seine ablehnende Haltung im Fall der tatsächlichen Rückkehr seiner Familie nach Syrien nicht überdenken und ebenfalls zurückkehren würde (dazu bedürfte es einer genaueren Auseinandersetzung mit seinen eigenen Fluchtgründen). Außerdem scheint das BVwG anzunehmen, dass die Erstmitbeteiligte auch finanziell keinerlei Unterstützung erhalten würde und völlig auf sich allein gestellt wäre, während es unbegründet lässt, weshalb der Ehemann sie in dieser Hinsicht nicht unterstützen könnte.

33 Aber selbst unter der Annahme, dass die mitbeteiligten Parteien ohne den Ehemann/Vater nach Syrien zurückkehren würden, vermag die Begründung des BVwG, welche die Lage der verheirateten Erstmitbeteiligten mit jener von Witwen und geschiedenen Frauen oder Mädchen gleichsetzt und unterstellt, dass sie von der umgebenden Gesellschaft stigmatisiert würden, nicht zu überzeugen. So legen die getroffenen Länderfeststellungen zwar dar, dass in Syrien eine patriachalische Gesellschaft herrsche. Mehr als ein Jahrzehnt des gewalttätigen Konflikts hätte ein Klima geschaffen, das der Gewalt gegen Frauen und Mädchen zuträglich sei. Alleinstehende Frauen seien aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt, wobei aber das Ausmaß des Verfolgungsrisikos für Frauen vom sozialen Status und der Stellung der Frau oder ihrer Familie abhängig sei. Es ist daher eine individuelle Prüfung der Umstände des Einzelfalles erforderlich, um die Verfolgungsgefahr für die einzelne zurückkehrende Frau abschätzen zu können.

34 Nichts anderes ist dem vom BVwG festgestellten Auszug aus der EUAA Country Guidance Syria vom April 2024 zu entnehmen, die für (alleinstehende) Frauen Risikoprofile formulieren, eine individuelle Einzelfallprüfung aber nicht obsolet machen:

„Während des Konflikts in Syrien haben sich die Grundrechte der syrischen Frauen in fast allen Aspekten ihres Lebens, einschließlich ihrer Sicherheit sowie ihrer sozialen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Situation, stark verschlechtert... Familienstand, Armut und Vertreibung setzten Frauen und Mädchen auch dem Risiko sexueller Ausbeutung aus... Geschiedene und verwitwete Frauen waren Berichten zufolge stärker der Ausbeutung ausgesetzt... Witwen und geschiedene Frauen und Mädchen können als Unterkategorie der von Frauen geführten Haushalte unterschieden werden, die von der syrischen Gesellschaft stark stigmatisiert wird. Es wird berichtet, dass Witwen und geschiedene Frauen und Mädchen unter anderem besonders von sexueller Gewalt, emotionalem und verbalem Missbrauch, Zwangsheirat, Polygamie und seriellen Zeitehen, Bewegungseinschränkungen, finanzieller Ausbeutung und Erbentzug bedroht waren... Insbesondere weibliche Haushaltsvorstände sind einem erhöhten Risiko sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt sowie einem höheren Risiko von Obdachlosigkeit und Zwangsräumung ausgesetzt, da sie keinen männlichen Beschützer haben, und sind diesen erhöhten Risiken unabhängig vom geografischen Gebiet ausgesetzt...“

35 Ausgehend davon ist nicht ohne Weiteres nachzuvollziehen, dass eine Frau wie die Erstmitbeteiligte, die verheiratet ist, deren Ehemann sich aber (infolge des Bürgerkriegs) im Ausland befindet, von der umgebenden Gesellschaft tatsächlich als andersartig und gegen die kulturellen, religiösen und traditionellen Normen verstoßend wahrgenommen würde. Dazu hätte es einer Auseinandersetzung mit der Frage bedurft, in welchem Ausmaß auch andere Frauen in Syrien aufgrund des Bürgerkriegs in der Lage sind bzw. waren, vorübergehend ohne ihre Ehemänner leben zu müssen. Dass diese Frauen nach den Feststellungen besonders gefährdet sind, Opfer von Übergriffen zu werden, mag zwar zutreffen; dieser Gefahr wird jedoch bereits durch den subsidiären Schutz Rechnung getragen. Für die Bejahung des Konventionsgrundes bedürfte es hingegen der aufgezeigten Prüfung (vgl. dazu etwa EuGH 16.1.2024, C 621/21, WS), die nicht hinreichend stattgefunden hat.

36 In Bezug auf die Erstmitbeteiligte haften dem angefochtenen Erkenntnis somit die dargestellten Begründungsmängel an.

37 In Bezug auf die Zweit- bis Sechstmitbeteiligten hat das BVwG (ebenfalls) Asyl gewährt und in der Begründung des Erkenntnisses festgehalten, dass die asylrelevante Verfolgung der Erstmitbeteiligten auf die Zweit- bis Sechsmitbeteiligten „durchschlage“. Dies kann aus dem Gesamtzusammenhang des angefochtenen Erkenntnisses - eigene Fluchtgründe der minderjährigen Kinder der Erstmitbeteiligten wurden nicht geprüft - als Statuszuerkennung im Familienverfahren (§ 34 Abs. 2 und 4 AsylG 2005) an die Zweit- bis Sechstmitbeteiligten verstanden werden.

38 Dem angefochtenen Erkenntnis haften daher in Bezug auf die Asylgewährung an die Erstmitbeteiligte aus den genannten Gründen Begründungsmängel an, die zu dessen Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG führen müssen.

39 Dieser Umstand schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die übrigen Mitbeteiligten als Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidung (VwGH 3.3.2025, Ra 2024/18/0064, mwN). In Bezug auf die Zweit- bis Sechstmitbeteiligten war das Erkenntnis daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 26. Juni 2025

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