Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed als Richter sowie die Hofrätinnen Dr. in Gröger und Dr. in Sabetzer als Richterinnen, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. August 2024, W121 2280438 1/8E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: A A), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Syriens und Angehöriger der arabischen Volksgruppe, stellte am 14. September 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz und brachte zusammengefasst vor, er habe Syrien schon im Jahr 2012 verlassen (und anschließend zehn Jahre in der Türkei gelebt), weil er ein friedfertiger Mensch sei und sich am syrischen Bürgerkrieg nicht habe beteiligen wollen. Er fürchte, bei Rückkehr wegen Wehrdienstverweigerung festgenommen bzw. von anderen Gruppierungen als „Verräter“ angesehen zu werden.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA, Amtsrevisionswerber) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 12. September 2023 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.
3 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) der gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten erhobenen Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des Asylberechtigten zu und stellte seine Flüchtlingseigenschaft fest. Eine Revision erklärte es für nicht zulässig.
4 Begründend führte das BVwG aus, der Mitbeteiligte stamme zwar aus dem Ort A im Gouvernement Idlib, habe aber von 2007 bis 2011 in Damaskus gelebt. Sein Herkunftsgebiet sei „in und um die Stadt Damaskus“, wohin er schon während seiner Schulzeit gezogen sei und mehrere Jahre gelebt habe. Dass er dort keine familiären oder sozialen Bezugspunkte mehr habe, sei nachvollziehbar, lebe er doch nun seit über zehn Jahren im Ausland. Auch in seiner Geburtsstadt habe er keine engen Verwandten mehr. Der Aufenthalt in der Stadt Idlib vor seiner Ausreise habe nur wenige Monate gedauert und sei durch seine Inhaftierung beeinflusst worden. Ausgehend von der unter Kontrolle des syrischen Regimes stehenden Heimatregion Damaskus drohe dem Mitbeteiligten dort bei Rückkehr eine näher umschriebene asylrelevante Verfolgung wegen Wehrdienstverweigerung, weshalb ihm Asyl zuzuerkennen sei. Eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative existiere schon deshalb nicht, weil die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Widerspruch zum gewährten subsidiären Schutz stehen würde.
5 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision, die zu ihrer Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend macht, das BVwG weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Ermittlungs- und Begründungspflicht ab, indem es die für die Bestimmung der Herkunftsregion nötigen Ermittlungen nicht vorgenommen und seine Entscheidung nicht nachvollziehbar begründet habe. Der Mitbeteiligte habe im gesamten Verfahren betont, dass A im Gouvernement Idlib seine Herkunftsregion sei; er habe dort einen wesentlichen Teil seines Lebens verbracht und sei zuletzt auch in Idlib aufhältig gewesen. Dennoch habe das BVwG Damaskus als seine Herkunftsregion festgestellt. Es gebe aber keine Anhaltspunkte dafür, dass der Mitbeteiligte eine wesentliche „enge Bindung“ im Sinn der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu Damaskus habe, möge er sich dort auch mehrere Jahre aufgehalten haben. Soweit das BVwG Damaskus als Herkunftsregion heranziehe, hätte es amtswegiger Ermittlungen zu den notwendigen „engen Bindungen“ dorthin bedurft, was nicht geschehen sei. Die vorliegenden Ermittlungs und Begründungsmängel seien relevant, weil sich dadurch die Feststellungen zur Gefahr der Zwangsrekrutierung als nicht tragfähig erweisen und das BVwG darauf aufbauend eine rechtlich unrichtige Beurteilung vornehme. Das BVwG hätte nämlich feststellen müssen, dass die Herkunftsregion des Mitbeteiligten, wie von ihm angegeben, im Gouvernement Idlib liege und nach einschlägigen Länderberichten unter der ausschließlichen Kontrolle der oppositionellen Miliz HTS stehe. Das syrische Regime habe dort keinen Zugriff auf den Mitbeteiligten und könne ihn daher auch nicht verfolgen.
6 Der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hatin einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die Revision ist im Hinblick auf die Prüfung der Frage der Heimatregion eines Asylwerbers zulässig. Sie ist auch begründet.
8Vorab wird darauf hingewiesen, dass die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG vom Verwaltungsgerichtshof gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sachund Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zu prüfen ist (vgl. etwa VwGH 1.6.2022, Ra 2021/18/0391, mwN). Dementsprechend entziehen sich Änderungen der Sach und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren.
9 Die Amtsrevision macht Ermittlungs und Begründungsmängel im Zusammenhang mit der Heimatregion des Mitbeteiligten geltend, die vom BVwG fälschlich in einem von den syrischen Machthabern kontrollierten Teil Syriens angenommen worden sei.
10Zur Bestimmung der Heimatregion kommt der Frage maßgebliche Bedeutung zu, wie stark die Bindungen des Asylwerbers an ein bestimmtes Gebiet sind. Hat er vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsland nicht mehr in dem Gebiet gelebt, in dem er geboren wurde und aufgewachsen ist, ist der neue Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen, soweit der Asylwerber zu diesem Gebiet enge Bindungen entwickelt hat (vgl. VwGH 29.2.2024, Ra 2023/18/0370, mit Hinweis auf VwGH 25.5.2020, Ra 2019/19/0192, und 27.6.2016, Ra 2016/18/0055; vgl. jüngst im Zusammenhang mit einem von der HTS kontrollierten Gebiet VwGH 14.10.2024, Ra 2024/20/0491).
11 Lediglich mit der oben näher dargestellten, knappen Begründung argumentierte das BVwG, dass als Heimatregion des Mitbeteiligten Damaskus anzusehen sei. Erkennbar war die Übersiedelung während seiner Schulzeit das dafür ausschlaggebende Kriterium. Dem stehen jedoch wie die Revision zutreffend aufzeigt vom Mitbeteiligten selbst im Zuge des Verfahrens getätigte Angaben entgegen. So brachte der Mitbeteiligte sowohl vor dem BFA als auch in der Beschwerde vor, dass er aus dem Gouvernement Idlib stamme; Damaskus findet dort keine Erwähnung. In der mündlichen Verhandlung führte er aus, mit seiner Mutter ca. zehn Jahre lang zwischen „dem Heimatort“ und Damaskus gependelt zu sein. Zu Damaskus habe er weder familiäre noch soziale Bezugspunkte. Er gab auch an, im Jahr 2012 das Heimatdorf verlassen zu haben; zu diesem Zeitpunkt seien viele mit Zwang zum Militärdienst eingezogen worden. Daraus lässt sich erkennen, dass der Mitbeteiligte auch vor seiner Ausreise aus Syrien in seiner Geburtsregion aufhältig war.
12 Bei dieser Ausgangslage lässt sich die Einschätzung des BVwG, entgegen den Angaben des Mitbeteiligten selbst sei nicht die Region um Idlib, sondern jene in und um Damaskus als rechtlich maßgebliche Heimatregion des Mitbeteiligten anzusehen, nicht ohne Weiteres aufrechterhalten. Dazu hätte es einer näheren Begründung (allenfalls auch nach weiteren Erhebungen etwa durch eine ergänzende Befragung des Mitbeteiligten) bedurft, welche „enge Bindungen“ seiner Person zur Region Damaskus (vor seiner Ausreise aus Syrien) bestanden haben, aufgrund derer diese Region abweichend von seinen Angaben als Heimatregion anzusehen sei.
13 Dass diese Begründungs und Ermittlungsmängel zur Heimatregion des Mitbeteiligten hinsichtlich der Frage, ob er asylrelevante Verfolgung durch das syrische Regime wegen Wehrdienstverweigerung zu erwarten hat, im Hinblick auf lokal unterschiedliche Machtverhältnisse in Syrien von Relevanz sein konnten, legt die Amtsrevision hinreichend dar.
14Das angefochtene Erkenntnis ist daher (relevant) mangelhaft begründet und war deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Wien, am 29. Jänner 2025