JudikaturVwGhRa 2023/18/0370

Ra 2023/18/0370 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
29. Februar 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed, die Hofräte Dr. Sutter und Mag. Tolar sowie die Hofrätinnen Dr. in Gröger und Dr. in Sabetzer als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des A A, vertreten durch Dr. Martin Eichinger als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Mag. Dr. Günter Harrich, Rechtsanwalt in 1130 Wien, Gloriettegasse 17 19/1/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. August 2023, W271 2268350 1/9E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Syriens und Angehöriger der arabischen Volksgruppe, stellte am 22. Oktober 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, dass in seinem Heimatland Krieg herrsche und das Leben nicht sicher sei. Er wolle nicht zum Heer und „auf seine eigenen Leute schießen“.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 9. Februar 2023 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab, erkannte dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

3 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

4 Begründend führte das BVwG soweit für das Revisionsverfahren von Relevanz aus, der Revisionswerber sei in der Stadt A im Gouvernement D geboren worden und habe dort bis zu seinem 12. Lebensjahr gelebt. Nachdem A, das nun unter dem Einfluss des syrischen Regimes stehe, bombardiert und zerstört worden sei, sei der Revisionswerber mit seiner Familie in die Stadt M, die sich unter kurdischer Kontrolle befinde, gezogen. Dort habe der Revisionswerber bis zu seiner Ausreise aus Syrien im Jahr 2018 gelebt und gearbeitet. Seine Verwandten würden weiterhin dort leben. Es könne daher unter Beachtung der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 25.5.2020, Ra 2019/19/0192) keinesfalls davon gesprochen werden, dass der Revisionswerber obwohl er durch den Krieg zur Ausreise aus seiner Geburtsstadt gezwungen worden sei „in der neuen Heimatstadt nicht hätte Fuß fassen können“. Die „Heimatregion“ des Revisionswerbers sei daher M.

5 Ausgehend davon erwog das BVwG, es habe auch wenn der Revisionswerber bis dato keinen Wehrdienst geleistet habe keinen Rekrutierungsversuch seitens des syrischen Regimes gegeben, weil die „Heimatregion“ des Revisionswerbers unter kurdischer Kontrolle stehe und der Revisionswerber deshalb für das syrische Regime nicht „greifbar“ sei. Eine solche Bedrohung sei auch nicht unmittelbar bevorgestanden, da der Revisionswerber zum Zeitpunkt seiner Ausreise noch minderjährig bzw. nicht im wehrfähigen Alter gewesen sei. Bei einer Rückkehr sei eine Einziehung ebenfalls nicht zu befürchten, weil das syrische Regime keinen Zugriff auf die „nunmehrige Heimatregion“ des Revisionswerbers habe und eine Einreise ohne Kontakt zum syrischen Regime möglich sei. Eine Verfolgung des Revisionswerbers durch das syrische Regime im Zusammenhang mit dem Militärdienst sei somit nicht hinreichend wahrscheinlich und nicht geeignet, um eine wohlbegründete asylrelevante Furcht auszulösen.

6 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst (ua.) geltend macht, das BVwG weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, indem es feststelle, der Revisionswerber habe eine enge Bindung zu seinem Wohnort in M entwickelt. Wie dem Bescheid des BFA zu entnehmen sei, hätten der Revisionswerber und seine Familie seit der Ankunft in M „in Zelten“ gelebt. Alleine die Tatsache, dass der Revisionswerber einige Jahre in M gearbeitet habe, sei für die Annahme einer engen Bindung nicht ausreichend. Ebenso wenig sei für diese Annahme die Tatsache ausreichend, dass die Familie des damals zwölfjährigen Revisionswerbers mit ihm nach M geflohen sei und bis zu seiner Ausreise „lediglich drei Jahre später“ im Alter von 15 Jahren mit ihm dort gelebt habe.

7 Das BFA hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

8 Die Revision ist schon im Hinblick auf die Prüfung der Frage der Heimatregion eines Asylwerbers (bei einem gezwungenen Wechsel des Aufenthaltsortes innerhalb des Herkunftsstaates) zulässig. Sie ist auch begründet.

9 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist in Fällen, in denen Asylwerber nicht aufgrund eines eigenen Entschlusses, sondern unter Zwang aufgrund einer Vertreibung ihren dauernden Aufenthaltsort innerhalb des Herkunftsstaates gewechselt hatten und an dem neuen Aufenthaltsort nicht Fuß fassen konnten (Zustand innerer Vertreibung), der ursprüngliche Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen (vgl. VwGH 30.4.2021, Ra 2021/19/0024, mit Hinweisen auf VwGH 25.5.2020, Ra 2019/19/0192, sowie VwGH 27.6.2016, Ra 2016/18/0055).

10 Zur Bestimmung der Heimatregion kommt der Frage maßgebliche Bedeutung zu, wie stark die Bindungen des Asylwerbers an ein bestimmtes Gebiet sind. Hat er vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsland nicht mehr in dem Gebiet gelebt, in dem er geboren wurde und aufgewachsen ist, ist der neue Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen, soweit der Asylwerber zu diesem Gebiet enge Bindungen entwickelt hat (vgl. wiederum VwGH 25.5.2020, Ra 2019/19/0192, mit Hinweis auf VwGH 27.6.2016, Ra 2016/18/0055).

11 Das BVwG legte seiner Entscheidung ausgehend von den oben angeführten Feststellungen die Annahme zugrunde, der Revisionswerber habe auch wenn er seine Geburtsstadt infolge des Krieges verlassen habe müssen an jenem Ort, an dem er sich die letzten drei Jahre vor seiner Ausreise aus Syrien aufgehalten habe, insoweit Fuß fassen können, als er als Jugendlicher gemeinsam mit seinen Verwandten dort gelebt und auch gearbeitet habe.

12 Damit setzte sich das BVwG mit der zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zunächst in zutreffender Weise auseinander, indem es festhielt, der Revisionswerber habe nicht aus eigenem Entschluss, sondern unter Zwang aufgrund einer Vertreibung seinen Geburtsort bzw. seinen (bis dahin) dauernden Aufenthaltsort innerhalb des Herkunftsstaates gewechselt. Ausgehend davon ließ das BVwG jedoch bei der Beurteilung der Frage, ob der Revisionswerber zu seinem neuen Aufenthaltsort enge Bindungen entwickelt hat, wesentliche Aspekte unberücksichtigt.

13 Wie festgestellt, verließ der Revisionswerber sein Heimatland im Alter von 15 Jahren, wovon er zwölf Jahre in seinem Geburtsort lebte, während er drei Jahre an seinem neuen Aufenthaltsort verbrachte. Angesichts dessen, dass der Revisionswerber den (bis zu seiner Ausreise) ganz überwiegenden Teil seines Lebens in seinem Geburtsort verbrachte, kann daher nicht ohne weiteres angenommen werden, dass er obwohl er an seinem neuen Aufenthaltsort arbeitete und gemeinsam mit seiner Familie lebte in der verhältnismäßig kurzen Zeit von drei Jahren so enge Bindungen zu seinem neuen Aufenthaltsort entwickelte, dass dieser als seine (neue) Heimatregion angesehen werden muss, zumal wiederum auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen zu berücksichtigen ist, dass die Familie des Revisionswerbers ebenfalls gezwungenermaßen aufgrund des Krieges ihren Aufenthaltsort wechseln musste.

14 In Anbetracht des jungen Alters des Revisionswerbers und der kurzen Zeit, die er im Verhältnis dazu an seinem neuen Aufenthaltsort verbrachte, sowie des Umstandes, dass der Revisionswerber im Rahmen der Einvernahme vor dem BFA angab (vgl. Seite 5 des Bescheides des BFA), vor seiner Ausreise aus Syrien gemeinsam mit seiner Familie „in Zelten“ gelebt und demgegenüber „die Schule bis zur sechsten Schulstufe“ in seinem Geburtsort besucht zu haben, hätte das BVwG diese Aspekte bei seinen Erwägungen zur Bestimmung der Heimatregion des Revisionswerbers nicht unberücksichtigt lassen dürfen. Dies gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Machtverhältnisse im ursprünglichen und im neuen Aufenthaltsort des Revisionswerbers nicht dieselben sind. Stattdessen steht wie oben ausgeführt der Geburtsort des Revisionswerbers unter der Kontrolle des syrischen Regimes, während sich der neue Aufenthaltsort unter kurdischer Kontrolle befindet.

15 Da das BVwG seine Prüfung der Bindungen des Revisionswerbers an den neuen Aufenthaltsort im Wesentlichen auf die Aspekte beschränkte, dass der Revisionswerber am neuen Aufenthaltsort gearbeitet und dort mit seiner (ebenfalls vertriebenen) Familie gelebt habe, während es wie die Revision im Ergebnis zu Recht aufzeigt eine Prüfung der Bindungen des Revisionswerbers an seinen Geburtsort gänzlich unterließ, hat es das angefochtene Erkenntnis mit wesentlichen Ermittlungs- und Begründungsmängeln belastet.

16 Ausgehend davon kann im fortgesetzten Verfahren das Vorbringen des Revisionswerbers zu seinen mangelnden engen Bindungen an den neuen Aufenthaltsort ebenso wenig außer Betracht bleiben, wie die (auf die Bestimmung der Heimatregion aufbauende) Frage, ob dem Revisionswerber an seinem Geburtsort so dieser als Heimatregion zu qualifizieren sei zum Entscheidungszeitpunkt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung drohe.

17 Das angefochtene Erkenntnis ist daher (relevant) mangelhaft begründet und war deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

18 Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

19 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 29. Februar 2024

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