JudikaturVwGH

Ra 2024/18/0452 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
20. März 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed, den Hofrat Mag. Tolar sowie die Hofrätinnen Dr. in Gröger, Dr. in Sabetzer und Dr. Kronegger als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Hahn, LL.M., über die Revision der N R, vertreten durch Mag. Ralf Niederhammer, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Garnisongasse 7/2/19, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. September 2023, W284 2271533 1/13E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Die minderjährige Revisionswerberin, eine syrische Staatsangehörige und Angehörige der kurdischen Volksgruppe sunnitischen Glaubens, gelangte im Alter von zwölf Jahren unbegleitet nach Österreich und beantragte am 12. September 2022 internationalen Schutz. Sie hatte Syrien im frühen Kleinkindalter verlassen und vor der Einreise nach Österreich mit ihren Eltern und Geschwistern im Libanon gelebt. Begründend brachte sie im Wesentlichen vor, Syrien aufgrund des Krieges und der fehlenden Sicherheit verlassen zu haben. Im Lauf des Verfahrens machte sie - durch ihre Vertretung - geltend, ihre Zwillingsschwester sei nach einer Vergewaltigung schwanger geworden. Der Vater habe die Mutter verlassen und die Schwester mit dem Tod bedroht, um die Ehre der Familie wiederherzustellen. Vom Vater und seiner Familie gehe nun eine massive Gefahr für die Mutter und die Kinder aus.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 5. April 2023 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte der Revisionswerberin den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

4 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, die Revisionswerberin sei weder von sexueller oder häuslicher Gewalt, einer Zwangs- bzw. Kinderehe oder von einem Ehrendelikt betroffen gewesen, noch bestehe ein reales Risiko, dass sie im Fall einer Rückkehr davon betroffen sein werde. Die Eltern und Geschwister der Revisionswerberin befänden sich im Libanon. In der syrischen Heimatregion der Revisionswerberin würden mehrere Onkel (mütter- und väterlicherseits) leben und die Revisionswerberin stehe mit diesen in Kontakt. Sie sei im Fall ihrer Rückkehr nach Syrien daher nicht schutzlos und nicht ohne familiäre Unterstützung. Der Revisionswerberin drohe weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in die körperliche Integrität durch die Familie ihres Vaters. Das Vorbringen zur behaupteten Vergewaltigung der Zwillingsschwester und die daraus resultierende Bedrohung durch den eigenen Vater sei nur konstruiert. Dass der Revisionswerberin selbst, wie von der Vertretung behauptet, dieses Vorbringen nicht einmal bekannt war, spreche massiv gegen dessen Glaubhaftigkeit.

5 Gegen dieses Erkenntnis erhob die Revisionswerberin zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 10. Juni 2024, E 3326/2023 9, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof über nachträglichen Antrag mit Beschluss vom 28. Juni 2024, E 3326/2023 11, zur Entscheidung abtrat.

6 In der Folge wurde die vorliegende außerordentliche Revision eingebracht, die zu ihrer Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend macht, dem BVwG seien im Hinblick auf die Frage, ob die Revisionswerberin im Fall einer Rückkehr tatsächlich Schutz im Familienverband vor geschlechtsspezifischer Verfolgung als Angehörige der sozialen Gruppe der alleinstehenden Mädchen und Frauen vorfände, relevante Ermittlungs- und Begründungsmängel unterlaufen. Ausgehend von den getroffenen Feststellungen zur Person der Revisionswerberin, insbesondere ihrem Alter und der Tatsache, dass sie als unverheiratetes Mädchen getrennt von ihren Eltern zurückkehren würde, sowie den Feststellungen zur Lage in Syrien, wonach Mädchen, die bei Verwandten und nicht bei ihren Eltern leben, von sexueller Gewalt und Zwangsverheiratung bedroht seien und es davor keinen Schutz durch staatliche Akteure gebe, bedeute die alleinige Existenz selbst eines familiären Netzwerks nicht, dass die Revisionswerberin vor geschlechtsspezifischen Verfolgungshandlungen geschützt wäre. Es könne daher gerade nicht ausgeschlossen werden, dass der Revisionswerberin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Mädchen und Frauen drohe. Eine nähere Abklärung, bei wem die Revisionswerberin im Falle einer Rückkehr unterkommen würde, wäre nicht zuletzt aufgrund des traditionellen und patriarchalen Gesellschafts- und Familienbildes der Familie väterlicherseits notwendig gewesen.

7 Weiters rügt die Revisionswerberin eine grob mangelhafte Beweiswürdigung und Ermittlungsmängel im Hinblick auf die Feststellung, dass ihr keine Verfolgung im Zusammenhang mit ihrem Vater und der Familie ihres Vaters drohe. Die gesetzliche Vertretung der Revisionswerberin habe im Rahmen der mündlichen Verhandlung ein ärztliches Attest zum Beweis für die Schwangerschaft der Zwillingsschwester vorgelegt und betont, die Mutter wolle nicht, dass die Revisionswerberin von der Vergewaltigung ihrer Schwester erfahre. Die Kommunikation sei stets zwischen der gesetzlichen Vertretung und der Mutter erfolgt. Ohne sich damit auseinanderzusetzen und ohne nähere Begründung gehe das BVwG davon aus, dass es massiv gegen die Glaubhaftigkeit des Vergewaltigungsvorbringens spreche, wenn die Revisionswerberin davon und von den Drohungen des Vaters nichts wisse. Dies sei nicht nachvollziehbar.

8 Das BFA erstattete im vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

9 Die Revision ist zulässig und begründet.

10Vorauszuschicken ist, dass die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG vom Verwaltungsgerichtshof gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zu prüfen ist (vgl. etwa VwGH 29.1.2025, Ra 2024/18/0550, mwN). Dementsprechend entziehen sich Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren.

11Der Verwaltungsgerichtshof hat in Zusammenhang mit den sowohl die Behörde als auch das Verwaltungsgericht treffenden Ermittlungspflichten festgehalten, dass auch im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG gilt. Für das Asylverfahren stellt § 18 AsylG 2005 eine Konkretisierung der aus § 37 AVG iVm § 39 Abs. 2 AVG hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde und des Verwaltungsgerichtes dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt (auch) von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen.

12Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Aufnahme aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. zum Ganzen VwGH 7.7.2023, Ra 2022/18/0218, mwN).

13 Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht.

14 Zutreffend macht die Revision geltend, dass die Einschätzung des BVwG, bei der Revisionswerberin handle es sich nicht um ein alleinstehendes Mädchen, nur mangelhaft begründet wurde.

15 Das BVwG stützt die Annahme, dass die Revisionswerberin noch zahlreiche (auch männliche) Familienangehörige in der Heimatregion in Syrien habe und sie daher nicht schutzlos und ohne familiäre Unterstützung wäre, darauf, dass die Revisionswerberin im Rahmen der mündlichen Verhandlung „zugegeben“ habe, Verwandte in Syrien zu haben, mit denen sie in Kontakt stehe oder diesen wieder intensivieren könne. Daraus schließt das BVwG, dass die Revisionswerberin in Syrien nach wie vor einen Familienverband habe, weshalb sie - entgegen dem Beschwerdevorbringen - nicht zu der besonders gefährdeten Gruppe der alleinstehenden Frauen zähle.

16 Diese Begründung des BVwG greift zu kurz und steht in einem unaufgeklärten Spannungsverhältnis zu den durch das BVwG selbst getroffenen Länderfeststellungen, wonach etwa ein junges Alter ohne elterliche Aufsicht Frauen und Mädchen in eine Position geringerer Macht bringe und das Risiko der sexuellen Ausbeutung erhöhe. Mädchen, Witwen und Geschiedene würden „als besonders gefährdet eingestuft“ und Mädchen, die „bei Verwandten und nicht bei ihren Eltern“ lebten, seien „Berichten zufolge von sexueller Gewalt bedroht“. Zudem gelte die Verheiratung von Minderjährigen „als die häufigste Form von Gewalt gegen heranwachsende Mädchen“.

17Auch die im Entscheidungszeitpunkt des BVwG aktuellen Länderrichtlinien der EUAA (Country Guidance), denen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - wie jenen des UNHCR - besondere Beachtung zu schenken ist („Indizwirkung“) und die gemäß Art. 11 Abs. 3 der Verordnung (EU) 2021/2303 bei der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz von den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen sind (vgl. VwGH 25.6.2024, Ra 2024/18/0151, mwN), konstatieren, dass Zwangs- und Kinderehen schädliche traditionelle Praktiken seien, die in Kultur und Tradition verwoben und mit der Überzeugung verbunden seien, dass Frauen Schutz durch Männer benötigen. Demnach seien Jugendliche bzw. heranwachsende Mädchen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren überdurchschnittlich häufig von Zwangs- und Kinderehen betroffen (vgl. Country Guidance Syria, Februar 2023, 109 f).

18 Ausgehend davon ist es nicht nachvollziehbar, weshalb sich das BVwG im gegenständlichen Fall nicht näher damit auseinandergesetzt hat, in welchen Familienverband die Revisionswerberin im Fall ihrer Rückkehr konkret aufgenommen werden könnte, und ob dieser ihr unter Beachtung der Umstände des Einzelfalls Schutz vor den im Verfahren geltend gemachten und sie betreffenden geschlechtsspezifischen Verfolgungshandlungen (etwa Zwangsverheiratung) bieten würde.

19 Hinzu kommt, dass die Schutzfähigkeit des Familienverbandes väterlicherseits wegen der Vergewaltigung der Schwester in Frage gestellt bzw. verneint wurde, und die Revision diesbezüglich eine unvertretbare Beweiswürdigung des angefochtenen Erkenntnisses aufzeigt.

20Nach der höchstgerichtlichen Judikatur verlangt eine schlüssige Beweiswürdigung, dass das Verwaltungsgericht dabei alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat (vgl. VwGH 10.8.2022, Ra 2022/18/0012, mwN; vgl. zum Ganzen jüngst VwGH 5.9.2024, Ra 2023/18/0463, mwN).

21 Von der Vertretung der Revisionswerberin wurde ein ärztliches Attest zum Beweis für die Schwangerschaft der Zwillingsschwester vorgelegt und ausgeführt, dass die Revisionswerberin selbst von dieser und der ihr vorangegangenen Vergewaltigung nichts wisse, weil die Mutter sie schützen habe wollen. Ohne auf das ärztliche Attest oder auf das Vorbringen, die Revisionswerberin sei bewusst noch nicht von der Schwangerschaft der Schwester informiert worden (was geradezu gegen ein konstruiertes Vorbringen spricht), einzugehen, spricht das BVwG dem Vergewaltigungsvorbringen und der damit in Zusammenhang stehenden Bedrohung durch den Vater und dessen Familie die Glaubhaftigkeit allein damit ab, dass der Revisionswerberin die Vergewaltigung der Schwester samt familiärer Bedrohung nicht einmal bekannt gewesen sei.

22 Dadurch ist das BVwG auf relevantes und unter Vorlage von Beweismitteln erstattetes Vorbringen nicht eingegangen und hat sich entgegen der oben dargestellten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht mit allen in Betracht kommenden Umständen auseinandergesetzt.

23Da nicht auszuschließen ist, dass das BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Verfahrensmängel zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte gelangen können, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

24Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 20. März 2025