Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofräte Dr. Pfiel und Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Eraslan, über die Revision des Z J, vertreten durch Mag. Philipp Urbas, Rechtsanwalt in 1190 Wien, Sickenberggasse 10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26. November 2019, G305 2225432 1/5E, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der 1999 in Österreich geborene Revisionswerber, ein rumänischer Staatsangehöriger, hält sich mit Ausnahme von Urlauben seit seiner Geburt in Österreich auf. Er verfügt über eine Anmeldebescheinigung als EWR Bürger.
2 Während seines Aufenthaltes im Bundesgebiet wurde der Revisionswerber mehrmals wegen als Jugendlicher und dann auch als junger Erwachsener begangener Straftaten rechtskräftig verurteilt. Zuletzt wurde er mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 13. Februar 2019 wegen des Verbrechens des (teils versuchten) schweren gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 128 Abs. 1 Z 5, 129 Abs. 1 Z 1 und 130 Abs. 2 zweiter Fall; 15 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von vierundzwanzig Monaten verurteilt.
3 Aufgrund dieser Verurteilungen erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 14. Oktober 2019 gegen den Revisionswerber gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Aufenthaltsverbot und erteilte ihm gemäß § 70 Abs. 3 FPG einen Durchsetzungsaufschub von einem Monat.
4 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 26. November 2019 als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
6 Die Revision erweist sich entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG aus den nachstehend angeführten Gründen unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.
7 Die Revision wendet sich unter anderem und insoweit zutreffend gegen die ohne Durchführung der in der Beschwerde beantragten mündlichen Verhandlung gemäß § 9 BFA VG vorgenommene Interessenabwägung und bringt diesbezüglich vor, dass der Revisionswerber seit seiner Geburt ununterbrochen in Österreich aufhältig sei. In Österreich lebe seine gesamte Familie; außerhalb von Österreich habe er keine familiären Anknüpfungspunkte. In Rumänien sei er noch nie gewesen.
8 Damit zeigt die Revision im Ergebnis zutreffend auf, dass das BVwG im Rahmen seiner Interessenabwägung nach § 9 BFA VG nicht darauf Bedacht nahm, dass der Revisionswerber von Geburt an im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist, was den Schluss zulässt, dass der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA VG erfüllt ist.
9 Die genannte Bestimmung normierte bis zu ihrer Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen bei Vorliegen der erwähnten Voraussetzungen eine Rückkehrentscheidung (überhaupt) nicht erlassen werden dürfe. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind die Wertungen der ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA-VG, die auch auf Unionsbürger anzuwenden waren, im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG insofern weiterhin beachtlich, als in diesen Fällen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen ein fallbezogener Spielraum für die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen besteht (vgl. VwGH 23.6.2022, Ro 2021/21/0014, Rn. 19, mwN).
10 Mit der demnach auch hier maßgeblichen Frage, ob durch den weiteren Aufenthalt des Revisionswerbers eine derart massive Gefährdung aufgrund besonders gravierender Straftaten vorliegt, die in der vorliegenden Konstellation eine Durchbrechung des in solchen Fällen typischerweise anzunehmenden Überwiegens der privaten und familiären Interessen erlaubt, hat sich das BVwG allerdings in Verkennung der dargestellten Rechtslage nicht auseinandergesetzt.
11 Zudem kommt nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zu, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Daraus ist zwar noch keine „absolute“ (generelle) Pflicht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Verfahren über aufenthaltsbeendende Maßnahmen abzuleiten. Allerdings kann nur in eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, eine beantragte Verhandlung unterbleiben (vgl. etwa VwGH 26.4.2018, Ra 2018/21/0052, Rn. 16, mwN).
12 Von einem solchen eindeutigen Fall durfte vorliegend schon im Hinblick auf die wie erwähnt auch in der Revision hervorgehobene durchgehende Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers seit seiner Geburt in Österreich und wegen seiner zahlreichen familiären Anknüpfungspunkten sowie seiner Besserungsbemühungen etwa die Absolvierung einer Suchttherapie nicht ausgegangen werden. Das BVwG hätte sich somit im Rahmen einer Verhandlung einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber verschaffen müssen, was in der Revision zutreffend gerügt wird.
13 Das angefochtene Erkenntnis war somit aus den genannten Gründen vorrangig wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
14 Von der Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.
15 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 17. November 2022