Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Galli, LL.M., über die Revision des K F, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 12. Oktober 2020, W251 2217346 1/15E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger des Kosovo, reiste im Oktober 2006 im Alter von fünfzehn Jahren im Weg des Familiennachzuges nach Österreich ein. Ihm wurden wiederholt Aufenthaltstitel, zuletzt der unbefristete Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“, erteilt.
2 Mit rechtskräftigem Urteil vom 13. März 2019 verhängte das Landesgericht Linz über ihn wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG, teils begangen als Beitragstäter nach § 12 dritter Fall StGB, sowie wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall und Abs. 2 SMG eine Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten (davon zwölf Monate bedingt nachgesehen), aus der er am 26. März 2019 bedingt entlassen wurde. Dem Schuldspruch zufolge hatte er im ersten Halbjahr 2017 sowie zwischen Februar und November 2018 anderen Personen gewinnbringend (mit einem Gewinnaufschlag von 20 €/Gramm) Kokain in die Grenzmenge (§ 28b SMG) vielfach übersteigenden Mengen, in einem Fall als Beitragstäter, überlassen. In der Zeit von zumindest Ende 2017 bis zum 26. November 2018 hatte er wiederholt Kokain ausschließlich zum Eigenkonsum erworben und besessen.
3 Mit Bescheid vom 21. März 2019 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen ihn auf Grund dieses strafbaren Verhaltens gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Kosovo zulässig sei, und erließ gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot. Das BFA gewährte gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise und erkannte einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA VG die aufschiebende Wirkung ab.
4 Auf Grund dieses Bescheides wurde der Revisionswerber am 27. April 2019 in den Kosovo abgeschoben, wo er sich seither aufhält. Dort schloss er am 17. September 2019 die Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin. Am 26. Jänner 2020 wurde ihr gemeinsamer (österreichischer) Sohn geboren, der in Österreich bei seiner Mutter lebt.
5 Mit dem angefochtenen, nach mündlicher Verhandlung ergangenen Erkenntnis vom 12. Oktober 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) eine gegen den Bescheid vom 21. März 2019 erhobene Beschwerde mit der Maßgabe ab, dass die Rückkehrentscheidung auf § 52 Abs. 3 FPG (gemeint: § 52 Abs. 5 FPG) iVm § 9 BFA VG gestützt werde. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
6 In der Begründung bezog sich das BVwG auf das genannte, organisiert (unter Verwendung eines unter anderem Namen angelegten Facebook-Accounts zum Verkauf abgepackter Fünf Gramm Baggies) begangene, vom BVwG als schwerwiegend angesehene Verbrechen des Suchtgifthandels. Angesichts dieser Art der Tatbegehung sei von großer Wiederholungsgefahr auszugehen. Die daraus folgende massive Gefährdung der Gesundheit von Menschen durch das Überlassen und den Verkauf von Drogen begründe jedenfalls eine hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit iSd § 52 Abs. 5 FPG.
Der Suchtgift konsumierende Revisionswerber befinde sich noch in offener Probezeit und habe bislang keine Entwöhnungstherapie absolviert. Die nach Beendigung des Strafvollzuges verstrichene Zeitspanne erweise sich im Hinblick auf das Gesamtverhalten somit als zu kurz, um bereits von einem Wegfall der Gefährdung ausgehen zu können. Daran ändere auch die zwischenzeitige Geburt seines Sohnes nichts, zumal er zu diesem noch keinen persönlichen Kontakt gehabt habe. Dasselbe gelte für die familiären Bindungen zu seiner Ehefrau, mit der eine Eheschließung oder die Begründung eines gemeinsamen Wohnsitzes vor seiner Festnahme allerdings noch nicht konkret geplant gewesen sei, sowie zu Eltern und Brüdern, habe er doch den Suchtgifthandel unter Inkaufnahme des Risikos begangen, dadurch von seinen Angehörigen getrennt zu werden.
7 Im Rahmen seiner Interessenabwägung berücksichtigte das BVwG die erwähnten familiären Kontakte des Revisionswerbers in Österreich, die Erlangung von Deutschkenntnissen auf dem Niveau B1 und frühere, im Einzelnen näher dargestellte teils unselbständig, teils selbständig ausgeübte Erwerbstätigkeiten. Allerdings habe wie erwähnt eine Haushaltsgemeinschaft mit der (damaligen) Lebensgefährtin gefehlt. Bis zu seiner Festnahme am 26. November 2018 habe er vielmehr im gemeinsamen Haushalt mit seinen Eltern gelebt. Auch liege keine Einstellungszusage für den Fall einer Rückkehr des Revisionswerbers nach Österreich vor.
Im Kosovo habe er eine Erwerbstätigkeit aufgenommen und leiste finanzielle Beiträge zum Unterhalt seines Sohnes. Kontakte könnten im Weg elektronischer Medien und von Besuchen aufrechterhalten werden. Der Revisionswerber habe familiäre Anknüpfungspunkte zu seinen Schwestern und Cousins im Kosovo, bei denen er abwechselnd Unterkunft nehme.
Unter Berücksichtigung der geplanten und organisierten Vorgangsweise bei der Durchführung des Suchtgifthandels, des „überaus hohen“ Gewinnaufschlages sowie des langen Tatzeitraumes führe die Abwägung nach § 9 BFA VG iVm Art. 8 Abs. 2 EMRK zum Ergebnis, dass die gewichtigen öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung die familiären und privaten Interessen des Revisionswerbers überwiegen. Die dadurch bewirkte Trennung der Familienangehörigen sei im großen öffentlichen Interesse an der Verhinderung von Suchtgiftkriminalität in Kauf zu nehmen.
8 Unter Berücksichtigung der dargelegten Gesichtspunkte erweise sich die Verhängung eines Einreiseverbotes für die Dauer von fünf Jahren, womit erst die Hälfte des möglichen Rahmens von bis zu zehn Jahren ausgeschöpft sei, als angemessen, erforderlich und verhältnismäßig.
9 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit dem Beschluss VfGH 18.1.2021, E 4131/2020, ablehnte und die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
10 Über die in der Folge ausgeführte Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt, weil das BVwG bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG einschlägige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht berücksichtigt hat.
12 Das BVwG nahm nämlich im Rahmen seiner Interessenabwägung nach § 9 BFA VG nicht darauf Bedacht, dass sich der Revisionswerber vor Begehung der in Rede stehenden Straftaten iSd § 10 Abs. 1 Z 1 StbG mehr als zehn Jahre rechtmäßig und ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten hatte und davon zumindest fünf Jahre niedergelassen war, was den Schluss zulässt, dass der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA VG idF vor dem FrÄG 2018 erfüllt sein dürfte (vgl. dazu, dass die darin enthaltenen Wertungen im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG weiter beachtlich sind, etwa VwGH 16.7.2020, Ra 2019/21/0335, Rn. 13, mwN, und darauf Bezug nehmend VwGH 18.1.2021, Ra 2020/21/0306, Rn. 19).
13 § 9 Abs. 4 Z 1 BFA VG normierte bis zu seiner Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, von hier nicht vorliegenden Ausnahmefällen abgesehen, eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden darf, wenn ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 StbG verliehen hätte werden können. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen war im vorliegenden Fall auf Basis der Feststellungen des BVwG zumindest naheliegend, wobei es keiner ins Detail gehenden Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Anwendung des ehemaligen § 9 Abs. 4 BFA VG bedarf. Durch die Aufhebung dieser Bestimmung wollte der Gesetzgeber erkennbar nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen (vgl. dazu RV 189 BlgNR 26. GP 27, wo diesbezüglich von „gravierender Straffälligkeit“ bzw. „schwerer Straffälligkeit“ gesprochen wird) einen fallbezogenen Spielraum einräumen (vgl. dazu aus jüngerer Zeit etwa VwGH 27.5.2021, Ra 2021/21/0011, Rn. 8 und 9, mwN).
14 Um vor diesem Hintergrund auch unter Berücksichtigung der mit seinem langjährigen Aufenthalt verbundenen Integration und insbesondere des zuletzt durch die Eheschließung mit einer österreichischen Staatsbürgerin und die Geburt eines gemeinsamen (österreichischen) Kindes gekennzeichneten Familienlebens dennoch eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot rechtfertigen zu können, bedürfte es somit einer spezifischen, auf Grund besonders gravierender Straftaten vom Revisionswerber ausgehenden Gefahr (vgl. dazu des Näheren VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0238, Rn. 12 und 13, und die dort genannten Beispiele).
15 Das ist zwar bei Begehung des Verbrechens des Suchtgifthandels nicht auszuschließen, hätte aber einer eingehenderen Auseinandersetzung mit allen Umständen dieses Falles bedurft. Dabei wäre vom BVwG nicht nur auf die als erschwerend angesehenen Umstände (insbesondere die geplante und organisierte Vorgangsweise sowie die Tatwiederholung in Bezug auf eine die Grenzmenge insgesamt vielfache übersteigende Menge Kokain während eines langen Tatzeitraums) Bedacht zu nehmen gewesen, wobei im Übrigen nicht nachvollziehbar dargelegt wurde, weshalb das BVwG in diesem Zusammenhang überdies von einem „überaus hohen“ Gewinnaufschlag ausging. Außerdem wurde dem Revisionswerber vom Strafgericht keine Gewerbsmäßigkeit zur Last gelegt, sondern lediglich ein „Gewinnstreben“ als Erschwerungsgrund angenommen, sodass der Vorwurf des BVwG (Seite 20 Mitte), die Suchtgiftverkäufe seien darauf ausgerichtet gewesen, „sich eine (fortlaufende) Einnahmequelle zu verschaffen“, keine ausreichende Grundlage hat. Vor allem hätte das BVwG aber auch einbeziehen müssen, dass wie in der Revision zutreffend geltend gemacht wird bei bisheriger langjähriger Unbescholtenheit nur eine einzige Verurteilung vorliegt, die überdies nur zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe geführt hatte. Außerdem hätte das BVwG bei der Beurteilung der Schwere des Deliktes und der daraus ableitbaren Gefährdung das auch vom Strafgericht als mildernd angesehene Geständnis berücksichtigen und einbeziehen müssen, dass kein qualifizierter Suchtgifthandel iSd der Abs. 2, 4 oder 5 des § 28a SMG gegeben war und die Strafe bei einem Strafrahmen nach § 28a Abs. 1 SMG von bis zu fünf Jahren unbedingter Freiheitsstrafe im unteren Bereich ausgemessen wurde.
16 Das angefochtene Erkenntnis ist somit wegen dieses auf unrichtiger rechtlicher Beurteilung beruhenden Begründungsmangels mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war, wobei im fortzusetzenden Verfahren (auch vor dem Hintergrund des § 60 Abs. 2 FPG) überdies darauf Bedacht zu nehmen sein wird, dass gegen den Revisionswerber de facto bereits für die Dauer von mehr als zwei Jahren ein Einreiseverbot vollzogen wurde.
17 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 31. August 2021