Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und die Hofrätinnen Dr. Wiesinger und Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Wagner, über die Revision des J L, vertreten durch Dr. Stella Spitzer Härting, Rechtsanwältin in Wien, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. Dezember 2022, G313 2186751 1/61E, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein 1981 geborener tschechischer Staatsangehöriger, reiste gemeinsam mit seinen Eltern im Jahr 1989 nach Österreich ein, wo er sich seither großteils aufhält. Er leidet an mehreren psychischen und inneren Erkrankungen, darunter an paranoider Schizophrenie, einer Verhaltens und Persönlichkeitsstörung, HIV, einer Hepatitis C Infektion und Suchterkrankungen (Alkoholmissbrauch sowie multipler Substanzmittelmissbrauch). Für den Revisionswerber wurde ein Erwachsenenvertreter, zuletzt auch zur „Vertretung in aufenthaltsrechtlichen Angelegenheiten, insbesondere auch vor Gerichten und Behörden“ sowie zur Wahrnehmung von „Einsichts und Auskunftsrechten in Zusammenhang mit der Klärung der aufenthaltsrechtlichen Angelegenheit, insbesondere Einsicht in medizinische Krankengeschichten, Dokumentation und Einsicht in Strafverfahren“ bestellt.
2Am 13. Oktober 2017 beantragte der Revisionswerber bei der Niederlassungsbehörde die Ausstellung einer Bescheinigung zur Dokumentation seines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nach § 53a NAG, die ihm mangels Erwerbstätigkeit bzw. ausreichender Existenzmittel und umfassenden Krankenversicherungsschutzes nicht erteilt wurde.
3Der in Österreich mehrfach vorbestrafte Revisionswerber wurde zuletzt mit dem rechtskräftigen Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 25. März 2021 wegen versuchter schwerer Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB, versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 StGB und gefährlicher Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB gemäß § 21 Abs. 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Dieser Entscheidung lag zugrunde, dass er im Oktober 2020 unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes (§ 11 StGB), der auf einer geistigen und seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht habe, nämlich insbesondere einer Kombination aus Drogensucht, einer Psychose in Form einer Schizophrenie und einer schweren dissozialen Persönlichkeitsstörung, im Rahmen von zwei Tathandlungen durch die Äußerungen, er werde sein Opfer „abstechen“, wobei er dabei ein kleines Küchenmesser in der Hand gehalten habe, und durch die weitere sinngemäße Äußerung, er werde sich eine Waffe besorgen, ein weiteres Opfer mit dem Tod gefährlich bedroht habe. Darüber hinaus habe er Beamte an der Sachverhaltsaufklärung und seiner Durchsuchung nach dem SPG zu hindern versucht, indem er sie mit dem linken Ellenbogen und der linken Hand zu schlagen versucht habe. Dadurch habe der Revisionswerber Taten begangen, die ihm, wäre er zur Tatzeit zurechnungsfähig gewesen, als Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB, des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 StGB und der schweren Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB zuzurechnen wären, wobei nach seiner Person, nach seinem Zustand und nach der Art der Taten zu befürchten sei, dass er in Zukunft unter dem Einfluss seiner geistigen Abartigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen werde.
4 Die Anstaltsunterbringung des Revisionswerbers ist in Vollzug.
5Wegen der vom Revisionswerber begangenen Straftaten hatte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 8. Jänner 2017 gegen ihn gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein zehnjähriges Aufenthaltsverbot erlassen und ihm gemäß § 70 Abs. 3 FPG einen Durchsetzungsaufschub von einem Monat ab Durchsetzbarkeit der Entscheidung gewährt.
6Im Übrigen wird zur Vorgeschichte auf das Vorerkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes, VwGH 3.7.2018, Ra 2018/21/0081, verwiesen, mit dem das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 28. März 2018 betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbots wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben wurde.
7 Mit dem im fortgesetzten Verfahren ergangenen Erkenntnis bestätigte das BVwG neuerlich nach Durchführung einer mündlichen Verhandlungdas gegen den Revisionswerber gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG verhängte, auf zehn Jahre befristete Aufenthaltsverbot. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurdein einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen hat:
9 Die Revision erweist sich wie in der Begründung zur Zulässigkeit der Revision aufgezeigt wird als zulässig und berechtigt, weil das BVwG ohne Einräumung von Parteiengehör davon ausging, es bestünden ausreichende Therapiemöglichkeiten zur Behandlung des Revisionswerbers in Tschechien.
10Der Verwaltungsgerichtshof hat im Vorerkenntnis, VwGH 3.7.2018, Ra 2018/21/0081, ausgeführt, das BVwG habe im Rahmen der Interessenabwägung die Therapierbarkeit der zu einem erheblichen Teil dem psychiatrischen Formenkreis zuzuordnenden Erkrankungen des Revisionswerbers in Tschechien nicht ausreichend geprüft. Es wären so der Verwaltungsgerichtshof weiter präzise Feststellungen geboten, aus denen die Betreuungssituation in Tschechien (etwa in einer konkreten Einrichtung) angesichts der Vielzahl der nebeneinander zu therapierenden Erkrankungen des Revisionswerbers konkret gefolgert werden kann. Dabei wäre auch auf die Vertretung bei der Beantragung von Sozialleistungen einzugehen gewesen.
11 Das BVwG traf im nunmehr angefochtenen Erkenntnis in der Revision bestrittene Feststellungen zur Therapierbarkeit der Erkrankungen des Revisionswerbers in Tschechien, es stützte sich dabei allerdings auf erst nach Durchführung der mündlichen Verhandlung eingeholte Ermittlungsergebnisse, zu denen es dem Revisionswerber sogar entgegen dem ausdrücklichen Ersuchen seiner Vertreterin vom 31. August 2020 kein Parteiengehör eingeräumt hat. Damit hat das BVwG tragende Grundsätze des Verfahrensrechts verletzt.
12Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist es nämlich mit den ein rechtsstaatliches Verwaltungsverfahren tragenden Grundsätzen des Parteiengehörs und der freien Beweiswürdigung unvereinbar, einen Bescheid auf Beweismittel zu stützen, welche der Partei nicht zugänglich gemacht worden sind; das gilt auch für Erkenntnisse des BVwG. Dem Parteiengehör unterliegt nicht nur eine von der Behörde getroffene Auswahl jener Ergebnisse des Beweisverfahrens, welche die Behörde zur Untermauerung der von ihr getroffenen Tatsachenfeststellungen für erforderlich hält, sondern der gesamte Inhalt der Ergebnisse der Beweisaufnahme (vgl. VwGH 25.9.2019, Ra 2019/19/0380 und 0381, Rn. 13, mwN).
13 Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Bundesverwaltungsgericht bei Vermeidung der aufgezeigten Unterlassungen wie die Revision zutreffend darlegtzu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
14 Lediglich der Vollständigkeit halber sei noch angemerkt, dass die ehemaligen (durch das FrÄG 2018 aufgehobenen) Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 Z 1 und 2 BFA VG idF BGBl. I Nr. 70/2015 zwar ungeachtet des nur auf aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Drittstaatsangehörige abstellenden Wortlautszur Vermeidung von Wertungswidersprüchen auch auf Unionsbürger anzuwenden waren. Voraussetzung war jedoch ein auf Grund eines Aufenthaltstitels (bzw. des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts) rechtmäßiger Aufenthalt (vgl. VwGH 15.12.2020, Ra 2020/21/0484, Rn. 17, mwN). Auf einen rechtmäßigen Aufenthalt konnte sich der Revisionswerber aber zuletzt mangels Erfüllung der Voraussetzungen des § 51 NAG nicht mehr berufen. Die Rechtsprechung, nach der die Wertungen der ehemaligen Verfestigungstatbestände weiterhin maßgeblich sind, war im vorliegenden Fall daher schon aus diesem Grund unbeachtlich.
15Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 22. Oktober 2025
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