L530 2276568-1/26E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias KOPF, LL.M. über die Beschwerde des XXXX , geb. am XXXX , Staatsangehörigkeit Syrien, vertreten durch Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, 1020 Wien, Leopold-Moses-Gasse 4, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.07.2023, Zl. 1324770910-222912453, in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Syriens, stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 16.09.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zur Begründung seines Begehrens verwies der Beschwerdeführer im Wesentlichen auf den anhaltenden bewaffneten Konflikt in Syrien. Er müsse in seinem Herkunftsstaat den Militärdienst absolvieren, lehne es jedoch ab eine Waffe zu tragen und im Krieg zu sterben.
2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 13.06.2023 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen. Zum Ausreisegrund befragt gab er an, dass er Syrien in erster Linie wegen der in seiner Region vorherrschenden bewaffneten Konflikte verlassen hätte. Er führte aus, dass eine Übersiedlung in das Gebiet des ehemaligen Assad-Regimes für ihn mit der Gefahr verbunden wäre, entweder getötet oder zur Mitwirkung an militärischen Handlungen gezwungen zu werden. Ferner könne man sich in seiner Herkunftsregion nicht frei bewegen. Schließlich erwarte er sich in Österreich eine adäquatere Behandlung seiner psychischen Erkrankung.
3. Der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz wurde in der Folge mit dem im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer indes der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Syrien zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt (Spruchpunkt III.).
Die belangte Behörde gelangte in ihrer Entscheidung zum Ergebnis, dass eine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat nicht festgestellt werden könne und er eine solche im Fall einer Rückkehr auch nicht zu befürchten habe.
4. Gegen den am 07.07.2023 zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
In dieser wird Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung, Verletzung von Verfahrensvorschriften, unrichtiger Tatsachenfeststellungen sowie mangelhafter Beweiswürdigung behauptet und begehrt, den angefochtenen Bescheid aufzuheben und dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen. Eventualiter wird ein Aufhebungsantrag gestellt und jedenfalls die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.
5. Mit der Ladung der für 29.01.2024 anberaumten mündlichen Verhandlung vom 06.12.2023 wurde der Vertretung des Beschwerdeführers das Länderinformationsblatt vom 17.07.2023 zur Wahrung des Parteiengehörs übermittelt und die Möglichkeit eingeräumt, hiezu bis zur mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen. Der Beschwerdeführer machte von diesem Äußerungsrecht keinen Gebrauch.
6. Am 29.01.2024 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht die beantragte mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung sowie eines gerichtlich beeideten Dolmetschers für die Sprache Arabisch durchgeführt.
7. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichts vom 28.04.2025 wurden dem Beschwerdeführer weitere Länderberichte zur Wahrung des Parteigehörs übermittelt und die Möglichkeit eingeräumt, sich bis zur fortgesetzten mündlichen Verhandlung schriftlich oder in der Verhandlung mündlich zu äußern. Der Beschwerdeführer nahm von einer Stellungnahme hiezu Abstand.
8. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.05.2025 wurde dem Beschwerdeführer die seitens der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl am 08.05.2025 veröffentlichte Gesamtaktualisierung des Länderinformationsblattes Syrien übermittelt und die Möglichkeit eingeräumt, sich bis zur fortgesetzten mündlichen Verhandlung schriftlich oder in der Verhandlung mündlich zu äußern. Der Beschwerdeführer machte von diesem Äußerungsrecht ebenso keinen Gebrauch.
9. Am 19.05.2025 wurde die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung sowie einer gerichtlich beeideten Dolmetscherin für die Sprache Arabisch fortgesetzt.
10. Mit Schriftsatz vom 26.05.2025 (OZ 14) wurden seitens der beschwerdeführenden Partei weitere Beweisanträge gestellt.
11. Sodann wurde die mündliche Verhandlung zwecks Einvernahme der beantragten Zeugen am 01.10.2025 vor dem Bundesverwaltungsgericht im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung sowie einer gerichtlich beeideten Dolmetscherin für die Sprache Arabisch fortgesetzt. Gleichzeitig wurden dem Beschwerdeführer in der Verhandlung zwei weitere rezente Länderberichte ausgefolgt und ihm hiezu ein Äußerungsrecht von zwei Wochen eingeräumt, wovon der Beschwerdeführer keinen Gebrauch machte.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen, er ist Staatsangehöriger der Arabischen Republik Syrien und Angehöriger der arabischen Volksgruppe. Der Beschwerdeführer bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam und beherrscht die Sprache Arabisch als Muttersprache in Wort und Schrift.
Der Beschwerdeführer ist am XXXX im Dorf XXXX , ca. 20 km südwestlich der Stadt XXXX , im Gouvernement Idlib geboren und aufgewachsen. Er besuchte in XXXX 12 Jahre lang die Grundschule und ein Jahr die Universität an der Fakultät für Bildungswissenschaften. Anschließend war er in der Landwirtschaft und in der Fleischhauerei seines Vaters erwerbstätig.
Der Beschwerdeführer ist eigenen Angaben zufolge mit der syrischen Staatsangehörigen XXXX , geb. XXXX , verheiratet und entstammt dieser Beziehung eine Tochter, XXXX , geb. XXXX . Der Vater und ein Bruder des Beschwerdeführers namens XXXX sind bei einem Bombenangriff im Zuge des bewaffneten Konflikts verstorben. Die Frau, die Tochter und die Mutter des Beschwerdeführers leben nach wie vor in der Provinz Idlib in XXXX . Ein weiterer Bruder namens XXXX lebt in der Türkei. Sein jüngerer Bruder XXXX wird in einem syrischen Gefängnis wegen des Verdachts des Suchtgiftkonsums angehalten.
Der Beschwerdeführer verließ Syrien am 10.08.2022 von seinem Herkunftsort ausgehend unter Umgehung der Grenzkontrollen und gelangte zunächst in die Türkei und von dort aus über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich, wo er am 16.09.2022 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Der Beschwerdeführer litt zurückliegend an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Aufgrund dieser Erkrankung befand er sich im Mai 2023 über mehrere Tage in stationärer Behandlung und wurde anschließend regelmäßig psychologisch betreut. Zudem wurden ihm Beruhigungsmittel verordnet, welche der Beschwerdeführer bei Bedarf einnimmt. Ein entsprechender Bedarf an der Einnahme solcher Medikamente liegt jedoch seit geraumer Zeit nicht mehr vor. Der derzeitige Gesundheitszustand des Beschwerdeführers ist als stabil zu beurteilen, sodass aktuell keine Einschränkungen oder Beschwerden vorliegen.
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.
1.2. Vor der militärischen Großoffensive der dschihadistischen Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) und dem Sturz des Assad-Regimes war in der Syrisch-Arabischen Armee für männliche syrische Staatsbürger im Alter von 18 bis 42 Jahren die Ableistung des Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend. Der Beschwerdeführer befand sich im Zeitpunkt seiner Ausreise hinsichtlich des gesetzlich vorgesehenen Wehrdienstes bei der Syrisch-Arabischen Armee im wehrpflichtigen Alter.
Das Dorf XXXX im Gouvernement Idlib stand zum Zeitpunkt der Ausreise des Beschwerdeführers unter der Kontrolle der militanten islamistischen Gruppe Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS).
Die syrischen Militärbehörden nahmen Rekrutierungen im Regelfall ausschließlich in den von der Regierung kontrollierten Gebieten vor. In Gebieten, die sich außerhalb der effektiven Kontrolle der syrischen Staatsorgane befanden, war eine Durchsetzung des Wehrpflichtgesetzes faktisch nicht möglich. Oppositionelle Milizen wie die SNA oder HTS legen Zivilisten in von ihr kontrollierten Gebieten generell keine Wehrdienstpflicht auf. Infolgedessen hat der Beschwerdeführer keinen Wehrdienst geleistet und sah sich auch keinen Versuchen einer zwangsweisen Einziehung durch die syrischen Militärbehörden oder Oppositionsgruppen ausgesetzt.
1.3. Seit der militärischen Großoffensive der dschihadistischen Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) und dem Sturz des Assad-Regimes befindet sich ein Großteil des syrischen Staatsgebiets, abgesehen vom Nordosten des Landes, unter der Kontrolle durch die neue syrische Übergangsregierung unter dem Übergangspräsidenten Ahmed ash-Shara, so auch das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers.
Im Falle der Rückkehr in seine Herkunftsregion im Gouvernement Idlib droht dem Beschwerdeführer nicht die Einberufung zum Wehrdienst oder Zwangsrekrutierung durch die Syrisch-Arabische Armee, durch Oppositionsgruppen oder durch die neue syrische Übergangsregierung unter dem Übergangspräsidenten Ahmed ash-Shara. Die Syrisch-Arabische Armee wurde noch vom vormaligen syrischen Staatspräsidenten Baschar al-Assad vor seiner Flucht am 08.12.2024 per Befehl aufgelöst. Die neue Übergangsregierung unter Ahmed ash-Shara kündigte an, sich für eine freiwillige Rekrutierung und gegen eine Wehrpflicht entschieden zu haben. Seither ereignen sich keine (Zwangs-)Rekrutierungen mehr.
1.4. Der Beschwerdeführer war vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsstaat auch keiner anderweitigen individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt durch staatliche Organe, oppositionelle Gruppierungen oder Privatpersonen ausgesetzt, insbesondere wurde er nicht von Kräften der al-Nusra-Front oder anderen Milizen festgenommen, inhaftiert oder körperlich misshandelt. Er verließ seine Herkunftsregion nicht aus Furcht vor Verfolgung oder ihm drohender (Zwangs-)Rekrutierung.
Der Beschwerdeführer gehörte in seinem Herkunftsstaat keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an. Er entfaltete kein politisches Engagement. Er hatte vor seiner Ausreise keine Nachteile aufgrund seiner Zugehörigkeit zur arabischen Volksgruppe zu gewärtigen.
Der Beschwerdeführer wird im Falle einer Rückkehr in seine Herkunftsregion, das Dorf XXXX im Gouvernement Idlib, auch keiner anderweitigen und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung, psychischen und/oder physischen Gewalt oder Strafverfolgung ausgesetzt sein. Er unterliegt auch keiner individuellen Gefährdung wegen seiner Familienangehörigkeit, seiner Herkunft aus XXXX , der unrechtmäßigen Ausreise aus Syrien sowie dem in Österreich durchlaufenen Asylverfahren.
1.5. Zur (allgemeinen) Lage im Herkunftsstaat werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:
1.5.1. Aktuelle Ereignisse:
Briefing Notes vom 20.10.2025: Medienberichten zufolge wurden durch die Explosion eines Sprengsatzes in einem Bus des syrischen Verteidigungsministeriums am 16.10.2025 vier Soldaten auf der Verbindungsstraße zwischen Deir ez-Zor (Stadt) und Mayadeen getötet und eine unbekannte Zahl weiterer verwundet. Angaben des Ministers für Öl zufolge seien die Getöteten auf dem Weg zu Ölfeldern im Nordosten des Landes gewesen, wo sie als Wachleute eingesetzt werden sollten. Andere Medienberichte gaben an, der Bus hätte sich auf dem Rückweg vom al-Taim-Ölfeld befunden. Die Täter blieben zunächst unbekannt. Mazloum Abdî, Generalkommandeur der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), gab am 11.10.2025 bekannt, dass es zu grundlegenden Einigungen mit der Übergangsregierung im Rahmen der Frage der Integration der SDF in den neuen syrischen Sicherheitsapparat gekommen sei. Demnach hätten sich die beiden Seiten bei hochrangigen Treffen zwischen Abdî und Vertretern der Übergangsregierung verbal auf einen Mechanismus zur Vereinigung der Truppen verständigt, die die Integration der SDF-Kämpfer in mehreren größeren militärischen Einheiten nach den Vorgaben des Verteidigungsministeriums in die Armee vorsehe. Die Integration solle demnach in drei Divisionen und mehreren Brigaden erfolgen. Auch die ebenfalls kurdisch-dominierten Polizeikräfte im Nordosten des Landes (Asayish) sollten demnach in Kräfte der Übergangsregierung überführt werden. Trotz der Meldungen steht eine Umsetzung der Fusionierung der Truppen sowie die Klärung zentraler Fragen weiterhin aus. Medienberichten zufolge kam es nahe den Ortschaften Wulgha und Rima Hazem, beide im Gouvernement Suweida, erneut zu gegenseitigem Beschuss zwischen lokalen Kämpfern drusischer bewaffneter Gruppierungen und den Sicherheitskräften der Übergangsregierung. Ein Journalist berichtete, lokale Kämpfer hätten die Truppen der Übergangsregierung angegriffen, während die sog. „Nationalgarde“, ein Zusammenschluss drusischer Milizen unter Führung des drusischen Sheikh Hikmat al-Hijri, angab, auf Aktivitäten „terroristischer Gruppen“ reagiert zu haben. Wenige Stunden nach Beginn des wechselseitigen Beschusses ließen die Kämpfe wieder nach. Am 20.10.2025 sollen einem Nachrichtenartikel zufolge weitere Beduinen aus Suweida das Gouvernement verlassen haben. Es hätte sich hierbei um die letzten Familien gehandelt, die sich bis dahin noch immer in mehrheitlich drusischen Ortschaften aufgehalten hätten.
Briefing Notes vom 13.10.2025: In einem am 07.10.2025 veröffentlichten Bericht veröffentlichte die Weltbank Prognosen, denen zufolge im Jahr 2025 ein BIP-Wachstum von 1,0 % für Syrien zu erwarten sei, verglichen mit einem Rückgang um 1,5 % im Vorjahr 2024. Dennoch geht die Weltbank davon aus, dass aufgrund des erhöhten Bevölkerungswachstums durch Rückkehrerinnen und Rückkehrer und der bereits schlechten Infrastruktur und wirtschaftlichen Lage das BIP pro Kopf zunächst einmal um 2,7 % fallen würde, während extreme Armut zunehmen wird. In Folge der indirekten Wahlen zur Besetzung des Parlaments für die Übergangszeit wurden die insgesamt 119 Sitze mehrheitlich mit sunnitischen Arabern besetzt. Lediglich zehn Angehörige von ethnischen und religiösen Minderheiten (darunter kurdische, christliche und zwei alawitische Personen) sowie sechs Frauen konnten sich in den Abstimmungen der Wahlgremien durchsetzen. In Baniyas bspw. gewann ein alawitischer Kandidat den Parlamentssitz, während in Afrin eine Kurdin und drei Kurden ihren Einzug ins Parlament sichern konnten. Für das Parlament sind keine Quoten vorgesehen und der Anteil der Frauen liegt mit ca. 5 % weit unterhalb des Anteils der in den Wahlgremien vorgegebenen 20 %. Auch unter der Assad-Regierung lag der Frauenanteil im Parlament lediglich zwischen 6 und 13 %. Während viele Syrerinnen und Syrer mit alltäglichen Herausforderungen angesichts der schlechten wirtschaftlichen Situation beschäftigt waren und wenig bis kein Wissen über die Wahlen und Kandidatinnen und Kandidaten hatten, erfahren politische und aktivistische Kreise eine Wiederbelebung politischer Debatten im Zusammenhang mit den Wahlen. Im nächsten Schritt sollen die Parlamentsmitglieder im Rahmen eines Dekrets durch den Präsidenten offiziell ernannt werden. In diesem Dekret werden voraussichtlich auch die 70 Mitglieder, die durch den Präsidenten direkt benannt werden, enthalten sein. Innerhalb einer Woche nach Veröffentlichung des Dekrets solle das Parlament zu 11 einer ersten Sitzung zusammenkommen. Den Vorsitz habe zunächst das älteste Parlamentsmitglied mit Unterstützung des jüngsten Mitglieds. Im Rahmen der ersten Sitzung solle der Sprecher oder die Sprecherin, zwei Stellvertretungen und ein Sekretär gewählt werden. Am 06.10.2025 soll im Rahmen von schweren Kämpfen zwischen Truppen der Übergangsregierung und den kurdisch-dominierten Demokratischen Kräften Syriens (SDF) in Aleppo-Stadt mind. ein Kämpfer der Übergangsregierung sowie eine Zivilperson getötet worden sein. Der Auslöser der Kämpfe in den beiden mehrheitlich kurdischen Nachbarschaften Ashrafiyyeh und Sheikh Maqsoud war zunächst unklar. Dort haben noch immer in großen Teilen die SDF die Sicherheitskontrolle inne. Angaben der Übergangsregierung zufolge sollen SDF-Kämpfer Stellungen der Kräfte der Internen Sicherheit angegriffen haben. Die SDF wiesen diese Vorwürfe jedoch zurück, gaben an, keine Truppen mehr in den Nachbarschaften zu haben, und warfen der Übergangsregierung vor, die Kämpfe durch wiederholte Angriffe auf Zivilpersonen begonnen zu haben. Über Nacht kam es zur Aushandlung eines Waffenstillstandes zwischen den beiden Parteien. Wenig später reiste der Oberkommandeur der SDF, Mazloum Abdî, zu einem Treffen mit der Übergangsregierung nach Damaskus. In einer gemeinsamen Stellungnahme verkündeten Abdî und der Verteidigungsminister einen umfassenden Waffenstillstand entlang aller Frontverläufe im Norden und Nordosten Syriens. Spannungen hatten in den vergangenen Wochen zugenommen und sich immer wieder in bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den beiden Seiten geäußert, wie bspw. am Vortrag der Kämpfe in Aleppo in der Ortschaft Deir Hafar. Beide Parteien werfen sich gegenseitig vor, die Kämpfe auszulösen. Darüber hinaus nahmen SDF-Razzien in mehrheitlich arabischen Ortschaften unter ihrer Kontrolle sowie Rekrutierungskampagnen zu. Dies führte zu Diskriminierungsanschuldigungen gegen die SDF durch arabische tribale Verbünde. Die SDF weisen diese Anschuldigungen zurück. Medienberichten zufolge blieben in den Tagen, die auf die Kämpfe in Aleppo-Stadt folgten, einzelne Zugänge zu den beiden Nachbarschaften geschlossen, doch die Lage grundsätzlich ruhig. Medienberichten zufolge soll es jedoch nahe dem Tishrin-Staudamm im Osten des Gouvernements Aleppo erneut zu bewaffneten Zwischenfällen gekommen sein. Dem Verteidigungsministerium zufolge sollen SDF-Kämpfer ein Mitglied der Truppen der Übergangsregierung getötet und ein weiteres verletzt haben. Darüber hinaus hätten die SDF zu mehr als zehn Gelegenheiten innerhalb von zwei Tagen das Waffenstillstandsabkommen im östlichen Gouvernement Aleppo verletzt. Die SDF wiesen die Vorwürfe zurück und gaben an, sie hätten eine eindringende Gruppe von Kämpfern, die mit der Übergangsregierung affiliiert seien, zurückgedrängt. Im Gouvernement Suweida kamen erneute mehrtägige Kämpfe zwischen drusischen Milizen und Kämpfern der Übergangsregierung am 09.10.2025 langsam zum Erliegen. Die Kämpfe konzentrierten sich auf die Walgha-Straßenachse im Westen des Gouvernements und begannen nachdem die Übergangsregierung den drusischen Kämpfern Verletzungen des instabilen Waffenstillstands vorgeworfen haben. Lokale Quellen würden jedoch der Übergangsregierung regelmäßige Brüche der Waffenstillstandsvereinbarung vorwerfen. Ein Kämpfer der sog. Nationalgarde, eines drusischen Milizenbündnisses unter Führung des drusischen Sheikh Hikmat al-Hijri, soll durch einen Drohnenangriff getötet worden sein. Die Walgha-Straßenachse ist zentral für die Einfuhr humanitärer Hilfen und war bereits häufiger Ort von Kämpfen und Zusammenstößen. Kämpfer des syrischen Innenministeriums verhängten am 10.10.2025 temporäre Ausgangssperren in Teilen des Gouvernements Dar’a, nachdem es in der Stadt Izra zu Kämpfen zwischen zwei Familien gekommen war, die mehrere Tote und Verletzte verursachten. In einem Nachrichtenartikel wird ein lokaler Aktivist zitiert, demzufolge ein Mann und sein Sohn als Vergeltung in einem älteren Konflikt getötet wurden. Darüber hinaus sei ein weiterer junger Syrer getötet worden. Diese Tötungen hätten die Kämpfe zwischen den beiden Familien ausgelöst. Die Sicherheitskräfte der Übergangregierung hätten daraufhin ihre Präsenz in der Ortschaft und der Umgebung erhöht und die Ausgangssperren verhängt. In einem separaten Vorfall soll demnach ein Mann in der Ortschaft Nimr, im Norden des Gouvernements, getötet worden sein. Die hohe Verfügbarkeit von Waffen führe immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen in der Region.
Briefing Notes vom 06.10.2025: Am 05.10.2025 wurden in Syrien die ersten Parlamentswahlen seit dem Sturz der Assad-Regierung abgehalten und erste Ergebnisse über soziale Medien geteilt. Die etwa 7.000 Mitglieder der Wahlgremien in den 60 Distrikten sollten ihre Stimmen auf die 1.570 durch die Übergangsregierung genehmigten Kandidatinnen und Kandidaten verteilen, die zur Besetzung von 140 der insgesamt 210 Parlamentssitze zur Wahl standen. Von der Wahl ausgeschlossen waren das Gouvernement Suweida sowie die Gebiete unter Kontrolle der Demokratischen Autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES). Ihr Anteil an den 140 Parlamentssitzen soll zunächst vakant bleiben, bis die Wahlen dort nachgeholt werden können. Dieses Vorgehen, das durch die Übergangsregierung mit Sicherheitsbedenken begründet wurde, stand stark in der Kritik und führte dazu, dass in etwa 50 Wahlbezirken nur 120 Sitze besetzt werden sollten. Die Kandidatinnen und Kandidaten hatten nur wenige Tage Zeit, um ihre Inhalte vorzustellen. Es fanden kaum sichtbare Wahlkampagnen statt. In Abwesenheit eines Parteiengesetzes und entsprechender politischer Parteien traten alle Kandidatinnen und Kandidaten unabhängig an. In einigen Fällen kam es zu ungeklärten kurzfristigen Änderungen in den Wahllisten. Der Leiter der Wahlbehörde begründete diese Fälle damit, dass es sich dabei um Personen mit Verbindung zur Assad-Regierung gehandelt habe, sowie zur Sicherstellung der angemessenen Repräsentation von Frauen und Minderheiten. Es sind keine Quoten für Frauen, religiöse oder ethnische Minderheiten bei der Besetzung des Parlaments bekannt. Als mutmaßlich unabhängige Beobachtende sollten Mitglieder der Syrischen Anwaltskammer die Wahlen verfolgen. Angebote internationaler und zivilgesellschaftlicher Organisationen, diese Rolle zu übernehmen, wurden durch die Übergangsregierung abgelehnt. Das Parlament soll zunächst eine 30-monatige Amtszeit innehaben, im Rahmen derer die Grundlagen für eine direkte Wahl durch die Bevölkerung geschaffen werden sollen. Dazu zählt die Herstellung eines aktuellen Wahlregisters und die Ausstellung von Identitätsdokumenten für Wählerinnen und Wähler. 70 Sitze des Parlaments sollen durch den Übergangspräsidenten direkt vergeben werden. Offiziell wird dies mit der Sicherstellung einer gerechten Repräsentation der Bevölkerung begründet. Die Vorschrift böte ihm jedoch auch die Möglichkeit, die Sitze mit ihm loyalen Persönlichkeiten zu besetzen, und Gesetze ohne großen Widerstand zu erlassen. Die Benennung dieser 70 Parlamentarierinnen und Parlamentarier steht noch aus. Medienberichten zufolge wurden im Rahmen von Rekrutierungsmaßnahmen in den Gouvernements Raqqa und Hasaka hunderte junge Männer festgenommen, nachdem eine Zunahme von Checkpoints in einigen Gebieten unter Kontrolle der kurdisch geführten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) beobachtet worden war. In Raqqa-Stadt sollen einem Aktivisten zufolge etwa 500 junge Männer festgenommen worden sein. Jene, die Gründe zum Aufschub des Selbstverteidigungsdienstes vorweisen konnten, sollen wieder freigelassen worden sein. Die SDF wiesen die Vorwürfe von Zwangsrekrutierungen zurück und gaben an, es handele sich um reguläre Sicherheitsmaßnahmen zur Identitätsüberprüfung der Betroffenen. Zuletzt waren im Juni 2025 Rekrutierungsmaßnahmen in Hasaka durchgeführt worden, die alle zwischen 1998 und dem 30.06.2006 geborenen Männer zur Ableistung der „Selbstverteidigungspflicht“ einberiefen. Die Festnahmen riefen bei von den Maßnahmen potentiell Betroffenen Sorge vor einer Zwangsrekrutierung und Entsendung an den Frontverlauf im Gouvernement Aleppo aus, wo es weiterhin zu unregelmäßigen wechselseitigen Angriffen zwischen den SDF und den Truppen der Übergangsregierung kommt. In der Ortschaft Annaz im mehrheitlich christlich bewohnten Wadi al-Nasara im Gouvernement Homs wurden am 01.10.25 drei Christen von bewaffneten Personen auf einem Motorrad erschossen. Weitere Personen wurden verwundet. Die genauen Hintergründe blieben zunächst unklar, obgleich Gerüchte kursierten, die Angreifer kämen aus einer nahegelegenen, mehrheitlich sunnitischen Ortschaft. Die dortige Bevölkerung veröffentlichte eine Stellungnahme, mit der sie die Angriffe verurteilte. Bewohnerinnen und Bewohner von Annaz errichteten daraufhin Straßenblockaden und forderten, die Angriffe zu ahnden. Ein Parlamentswahlkandidat aus Wadi al-Nasara verkündete seinen Rückzug aus dem Wahlprozess. Generell kommt es weiterhin zu Tötungen von und Angriffen auf Einzelpersonen. Erst wenige Tage zuvor war im Gouvernement Tartus ein Kandidat für die Parlamentswahlen getötet worden, sowie drei Brüder in dem Gebiet um al-Ghab.
1.5.2. Politische Lage:
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba’ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Im Großen und Ganzen hat sich der syrische Bürgerkrieg zu einem internationalisierten Konflikt entwickelt, in dem fünf ausländische Streitkräfte - Russland, Iran, die Türkei, Israel und die Vereinigten Staaten - im syrischen Kampfgebiet tätig sind und Überreste des Islamischen Staates (IS) regelmäßig Angriffe durchführen (USIP 14.03.2023). Mehr als eine halbe Million Menschen wurden getötet, sechs Millionen weitere wurden zu Flüchtlingen (BBC 08.12.2024a).
Ab März 2020 schien der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.05.2022). Das Assad-Regime kontrollierte rund 70% des syrischen Territoriums (USIP 14.03.2023). Der Machtanspruch des syrischen Regimes wurde in einigen Gebieten unter seiner Kontrolle angefochten. Dem Regime gelang es dort nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen (AA 02.02.2024).
Am 08.12.2024 erklärten die Oppositionskräfte in Syrien die 24-jährige Herrschaft von Präsident Bashar al-Assad für beendet (AJ 08.12.2024). Die Offensive gegen al-Assad wurde von der Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) angeführt (BBC 09.12.2024). Die HTS wurde ursprünglich 2012 unter dem Namen Jabhat an-Nusra (an-Nusra Front) gegründet, änderte ihren Namen aber 2016 nach dem Abbruch der Verbindungen zur al-Qaida in Hay'at Tahrir ash-Sham. Sie festigte ihre Macht in den Provinzen Idlib und Aleppo, wo sie ihre Rivalen, darunter Zellen von al-Qaida und des Islamischen Staates (IS), zerschlug. Sie setzte die sogenannte Syrische Heilsregierung (Syrian Salvation Government - SSG) ein, um das Gebiet nach islamischem Recht zu verwalten (BBC 09.12.2024). Die HTS wurde durch die von der Türkei unterstützte Syrische Nationale Armee (Syrian National Army - SNA), lokale Kämpfer im Süden und andere Gruppierungen unterstützt (Al-Monitor 08.12.2024). Auch andere Rebellengruppierungen erhoben sich (BBC 08.12.2024b), etwa solche im Norden, Kurdenmilizen im Nordosten, sowie Zellen der Terrormiliz IS (Tagesschau 08.12.2024). Im Süden trugen verschiedene bewaffnete Gruppierungen dazu bei, die Regierungstruppen aus dem Gebiet zu vertreiben. Lokale Milizen nahmen den größten Teil der Provinz Dara'a sowie die überwiegend drusische Provinz Suweida ein (Al-Monitor 08.12.2024). Die Abteilung für Militärische Operationen (Department for Military Operations - DMO) dem auch die HTS angehört, kontrollierte mit Stand 11.12.2024 70 % des syrischen Territoriums (Arabiya 11.12.2024).
Die Karte zeigt die Aufteilung Syriens unter den bewaffneten Gruppierungen (Quelle: https://syria.liveuamap.com/, abgerufen am 27.10.2025):
Zum 01.01.2023 stellten sich die Kontrollverhältnisse wie folgt dar:
Der HTS-Anführer Mohammed al-Joulani, der mittlerweile anstelle seines Kampfnamens seinen bürgerlichen Namen Ahmad ash-Shara' verwendet (Nashra 08.12.2024), traf sich am 09.12.2024 mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten und Vizepräsidenten von al-Assad, um die Modalitäten für eine Machtübergabe zu besprechen (DW 10.12.2024). Bis zu ihrer Übergabe blieben die staatlichen Einrichtungen Syriens unter seiner Aufsicht (REU 08.12.2024). Die Macht des Assad-Regimes wurde auf ein Übergangsgremium übertragen, das vom Premierminister der SSG, Mohammed al-Bashir, geleitet wurde (MEI 09.12.2024). Al-Bashir kündigte am ersten Tag seiner Ernennung an, dass die Prioritäten seiner Regierung folgende seien: Gewährleistung von Sicherheit, Bereitstellung von Dienstleistungen und Aufrechterhaltung der staatlichen Institutionen (AJ 27.01.2025a). Am 29.01.2025 wurde de-facto-Herrscher Ahmed ash-Shara' zum Übergangspräsidenten ernannt (Standard 29.01.2025).
Die Amtszeit der Übergangsregierung wurde bis März 2025 festgesetzt (ISW 16.12.2024). Am 29.03.2025 ernannte der Präsident die neue syrische Regierung. Diese besteht aus Technokraten, ethnischen Minderheiten und mehreren engen Vertrauten ash-Shara's (FT 30.03.2025).
Die Kurden im Nordosten Syriens stellen sich gegen die neu vorgestellte syrische Regierung. Das Kabinett spiegele nicht die Vielfalt des Landes wider, teilte die Demokratische Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES) mit. Man sehe sich daher nicht an die Entscheidungen der neuen Regierung gebunden (Zeit Online 30.03.2025; vgl. Standard 30.03.2025; K24 30.03.2025). Obwohl der neuen Regierung mit Bildungsminister Mohammad Turko ein Kurde angehört, sind keine Vertreter der DAANES ins neue Kabinett berufen worden (MEE 30.03.2025). Einige Kritiker weisen auf die Diskrepanz zwischen ash-Shara's Rhetorik bei Treffen mit internationalen Vertretern und dem vermeintlichen Fehlen eines integrativen Diskurses mit einheimischen Akteuren hin (Etana 10.01.2025).
Die Übergangsregierung kündigte an, dass eine umfassende nationale Dialogkonferenz, eine vorläufige Verfassungserklärung abgeben, einen Ausschuss zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung bilden und eine Übergangsregierung bestätigen wird, die die Macht von al-Bashirs Regierung übernehmen wird (AJ 27.01.2025a). Am 12.02.2025 bestätigten Quellen gegenüber Al Jazeera, dass die syrische Präsidentschaft das Vorbereitungskomitee für die Nationale Konferenz gebildet hat bestehend aus fünf Männern und zwei Frauen (AJ 12.02.2025; vgl. Sky News 12.02.2025). Die Kurdische Autonomieverwaltung (Demokratische Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien - DAANES) und ihr militärischer Arm, die SDF, haben keine Einladung zur Teilnahme an der Konferenz erhalten. Die Organisatoren hatten zuvor mitgeteilt, dass keine militärischen Einheiten oder Formationen, die noch ihre Waffen behalten, eingeladen wurden (AlHurra 25.02.2025).
Am 13.03.2025 unterzeichnete ash-Shara' die angekündigte Verfassungserklärung (NYT 14.03.2025). Das vorläufige Dokument besteht aus vier Kapiteln und 53 Artikeln (AlHurra 14.03.2025). Es sieht eine fünfjährige Übergangsphase vor (BBC 14.03.2025). Nach dieser Übergangsphase soll eine dauerhafte Verfassung verabschiedet und Wahlen für den Präsidenten abgehalten werden (NYT 14.03.2025). Die Erklärung legt fest, dass der syrische Präsident Muslim sein muss, wie es schon in der vorherigen Verfassung geschrieben stand. Anders als in der Verfassung von 2012, schreibt diese Verfassungserklärung die islamische Rechtslegung als wichtigste Quelle der Gesetzgebung fest. Daneben werden die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz verankert sowie die Rechte der Frauen garantiert (BBC 14.03.2025). Der Präsident ist jedoch allein für die Ernennung der Richter des neuen Verfassungsgerichts Syriens verantwortlich. Die Richter müssen unparteiisch sein (NYT 14.03.2025). Für die Rechenschaftspflicht des Präsidenten wird in der Verfassung keine Möglichkeit eingeräumt. Der Erklärung zufolge wird ash-Shara' neben dem Präsidenten der Republik die folgenden Ämter bekleiden: Premierminister, Oberbefehlshaber der Armee und der Streitkräfte und Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates. In Artikel 41 räumt die Verfassungserklärung dem Präsidenten die Möglichkeit ein, mit Zustimmung des Nationalen Sicherheitsrates, dessen Mitglieder er selbst auswählt, den Ausnahmezustand auszurufen (AlHurra 14.03.2025). Die Erklärung garantiert Meinungs-, Ausdrucks-, Informations-, Veröffentlichungs- und Pressefreiheit. Allerdings können alle Rechte, einschließlich der Religionsfreiheit, eingeschränkt werden, wenn sie unter anderem als Verstoß gegen die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung angesehen werden. Die Verpflichtung zur Gewährleistung der Meinungs-, Ausdrucks-, Informations-, Veröffentlichungs- und Pressefreiheit ist mit einigen Ausnahmen verbunden, darunter die Verherrlichung des Assad-Regimes (NYT 14.03.2025). Auch die Symbole des Assad-Regimes sind unter Strafe gestellt sowie seine Verbrechen zu leugnen, zu loben, zu rechtfertigen oder zu verharmlosen (AlHurra 14.03.2025). Die Verfassungserklärung garantiert Frauen das Recht auf Bildung und Arbeit und fügt hinzu, dass sie volle soziale, wirtschaftliche und politische Rechte haben werden (NYT 14.03.2025). Diese temporäre Verfassung konzentriert viel Macht in den Händen des Präsidenten. So werden dem Präsidenten die Exekutivgewalt und die Befugnis, den Ausnahmezustand zu erklären, gewährt (NYT 14.03.2025). Das Parlament ist nicht befugt, den Präsidenten anzuklagen, Minister zu ernennen oder zu entlassen oder die Exekutive zu kontrollieren (HRW 25.03.2025). Immerhin spricht die Verfassungserklärung dem Präsidenten die Befugnis ab, allgemeine Amnestiegesetze zu erlassen, die al-Assad zuvor für sich monopolisiert hatte (AlHurra 14.03.2025). In der Verfassung ist Syrien als „arabische“ Republik definiert mit Arabisch als einziger Amtssprache (LSE 28.03.2025). Sie löste innerhalb Syriens viele Diskussionen aus. Umstritten sind insbesondere jene Passagen, die dem Präsidenten ein Machtmonopol einräumen (AlHurra 14.03.2025). Der Syrische Demokratische Rat, der politische Arm der kurdisch geführten Kräfte, die den Nordosten Syriens kontrollieren, erklärte, das neue Dokument sei „eine neue Form des Autoritarismus“ und kritisierte die seiner Meinung nach unkontrollierten Exekutivbefugnisse (NYT 14.03.2025).
Als Reaktion auf die neue Verfassung gründeten 34 verschiedene syrische Parteien und Organisationen am 22.03.2025 eine Allianz, die Allianz für gleiche Staatsbürgerschaft in Syrien (Syrian Equal Citizenship Alliance bzw. Tamasuk). Zu den Organisationen der Allianz gehört der Syrische Demokratische Rat (ISW 24.03.2025), die Partei des Volkswillens, die Demokratische Ba'ath-Partei und die Kommunistische Arbeiterpartei (TNA 23.03.2025) sowie andere kurdische, christliche und drusische Gruppierungen (ISW 24.03.2025). Das Bündnis bezeichnet sich selbst nicht als Opposition und verlangt eine dezentrale Machtverteilung (TNA 23.03.2025).
Während ash-Shara' ein gewisses Maß an Pragmatismus gezeigt hat, insbesondere im Umgang mit lokalen Gemeinschaften, sind die Strukturen der Übergangsregierung nach wie vor zentralisiert und hierarchisch, wobei die Macht in einem kleinen Führungskreis konzentriert ist. Dies schränkt die Möglichkeiten für eine integrative Entscheidungsfindung ein und verstärkt die Wahrnehmung der Ausgrenzung von Minderheiten und Frauen (AC 20.12.2024). HTS hat in Idlib einerseits bemerkenswerte Zugeständnisse an die lokale Bevölkerung gemacht. So erlaubte sie beispielsweise Christen, Gottesdienste abzuhalten und Frauen, Universitäten zu besuchen und Autos zu fahren – Maßnahmen, die angesichts der radikalen dschihadistischen Vergangenheit der Gruppe bemerkenswert sind. Darüber hinaus hat HTS Zivilisten in seine Regierungsverwaltung integriert und einen technokratischen Regierungsstil eingeführt, selbst in sensiblen ideologischen Bereichen wie Bildung und Religion, in denen die Gruppe ursprünglich ausschließlich eigenes Personal ernennen wollte. Andererseits ist die mangelnde Bereitschaft, politische Opposition zuzulassen, nach wie vor besorgniserregend. In Idlib hat HTS nach und nach die Macht monopolisiert und agierte praktisch als Einparteienstaat. Politische Opposition und zivilgesellschaftlicher Aktivismus wurden unterdrückt (DIIS 16.12.2024). Etwa 70 % der syrischen Bevölkerung sind sunnitische Muslime, darunter auch Kurden, die etwa 10 % der Bevölkerung ausmachen. Die arabischen Sunniten sind sich jedoch in ihren Zielen nicht einig, und viele wünschen sich für die Zukunft Syriens keinen islamischen Staat (SWI 13.02.2025).
Ash-Shara's Regierung kontrolliert begrenzte Teile Syriens, darunter die meisten westlichen Städte und Teile des ländlichen Raums (TWI 28.02.2025). Nordostsyrien wird von einer Kombination aus den kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräften (Syrian Democratic Focres - SDF) und arabischen Stammeskräften regiert (MEI 19.12.2024). Die SDF führen Gespräche mit ash-Shara', bleiben aber vorsichtig, was seine Absichten angeht (TWI 28.02.2025). Nord-Aleppo wird von der von der Türkei unterstützten Syrischen Übergangsregierung kontrolliert (MEI 19.12.2024). Die von der Türkei unterstützten Rebellengruppierungen innerhalb der SNA kontrollieren Teile Nordsyriens nahe der türkischen Grenze, darunter 'Afrin, Suluk und Ra's al-'Ain. Diese Gebiete hat die SNA 2018 und 2019 von den kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräften (Syrian Democratic Forces - SDF) erobert (Al-Monitor 08.12.2024). Am 29.01.2025 zwang die Türkei den Anführer dieser Gruppe, Sayf Abu Bakr, nach Damaskus zu reisen und dem neuen Präsidenten persönlich zu gratulieren, aber dies ist das einzige Zugeständnis, das er ash-Shara' bisher gemacht hat. Die beiden Anführer haben eine lange Geschichte gegenseitiger Feindseligkeit, insbesondere da viele Kämpfer der Syrischen Nationalarmee Veteranen des blutigen Krieges sind, den HTS 2017–2020 um die Kontrolle über die Provinz Idlib führte (TWI 28.02.2025). Südsyrien wird von einer halbunabhängigen Struktur in Suweida zusammen mit ehemaligen Oppositionsgruppen in Dara'a kontrolliert (MEI 19.12.2024).
Als Teil des Übergangs von der Revolution zum Staatsaufbau arbeitet die neue syrische Regierung daran, diesen Aufbau zu stärken und zu konsolidieren, indem sie eine nationale Armee aufbaut, die alle militärischen Formationen und Gruppierungen umfasst, die sich aufgrund bestimmter Umstände und Fakten während der syrischen Revolution gebildet haben (AJ 29.01.2025).
1.5.3. Sicherheitslage:
Trotz des Sturzes der 54-jährigen Diktatur der Familie al-Assad ist der Bürgerkrieg noch lange nicht vorbei (Leb24 13.02.2025). Trotz der Bemühungen der neuen syrischen Regierung bleibt die Sicherheitslage fragil, und die Zukunft Syriens ist von zahlreichen Unsicherheiten geprägt (VB Amman 09.02.2025). Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Grandi, beschreibt die Lage vor Ort als "fluid". Sie könne sich nach derzeitigem Stand in alle Richtungen entwickeln (ÖB Amman 06.02.2025). Die neue syrische Übergangsregierung ist nicht in der Lage, das gesamte syrische Staatsgebiet zu kontrollieren (AlHurra 06.02.2025a). Seit Jahresbeginn 2025 hat sich die Sicherheitslage in Syrien nach dem Sturz von Bashar al-Assad weiterhin als instabil erwiesen. Die neuen Machthaber, dominiert von islamistischen Gruppierungen, bemühen sich um die Etablierung von Ordnung und Sicherheit, stoßen jedoch auf erhebliche Herausforderungen (VB Amman 09.02.2025). Außenminister ash-Shaybani gibt Sicherheitsprobleme in Teilen Syriens zu, bezeichnete sie aber als Einzelvorfälle: Offenbar hat die Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS), die offiziell aufgelöst wurde, Schwierigkeiten, ihre teils sehr radikalen islamistischen Untergruppen in den Griff zu bekommen. Zwischen Verfolgung von Regimestraftätern und Racheakten vor allem gegen die Volksgruppe der Alawiten, aus der die al-Assads stammen, ist nicht immer leicht zu unterscheiden (Standard 23.01.2025). Die Sicherheitskräfte der Übergangsregierung sind bei ihrem Versuch, das Land zu stabilisieren, mit zunehmenden Bedrohungen konfrontiert, darunter gewalttätige Überreste des Regimes, sektiererische Gewalt und Entführungen. Im Nordosten sind die Syrischen Demokratischen Kräfte (Syrian Democratic Forces - SDF) gezielten Angriffen von Zellen des Islamischen Staates (IS) und anhaltenden Feindseligkeiten mit der von der Türkei unterstützten Syrischen Nationalen Armee (Syrian National Army - SNA) ausgesetzt (Etana 22.02.2025). Die fragile Sicherheitslage bedroht weiterhin den politischen Fortschritt, warnte der Sondergesandte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für Syrien, Geir Pedersen, und verwies auf die anhaltenden Feindseligkeiten im Nordosten, einschließlich täglicher Zusammenstöße, Artilleriebeschuss und Luftangriffe, die Zivilisten und die Infrastruktur treffen (UN News 12.02.2025).
In den Gouvernements Syriens kam es weiterhin zu einer Zunahme von Entführungen. Die Civil Peace Group dokumentierte seit dem Sturz des Regimes 64 Entführungsfälle – 19 Opfer wurden später hingerichtet aufgefunden, nur drei führten zu Lösegeldforderungen. Auch Vorfälle sektiererischer Gewalt, die sich hauptsächlich gegen schiitische und alawitische Gemeinschaften richten, sind weit verbreitet (Etana 22.02.2025). Das Middle East Institute berichtet auch von eindeutig sektiererischen Verstößen, wie die Zerstörung eines Schreins im ländlichen Hama durch zwei sunnitische Zivilisten und Fälle von Schikanen an Kontrollpunkten, konstatiert aber, dass die meisten Verstöße, die von Sicherheitskräften in ganz Syrien begangen wurden, sich gegen bestimmte Anhänger des ehemaligen Regimes zu richten scheinen. Eines der drängendsten Probleme sind nicht sektiererisch motivierte Angriffe, sondern vielmehr der undurchsichtige Prozess der gezielten Verfolgung von Männern, die in den Streitkräften des Regimes gedient haben (von denen die meisten aufgrund der Natur des Regimes Alawiten sind) (MEI 21.01.2025). Die Kriminalität ist dramatisch gestiegen, nicht zuletzt auch aufgrund der Freilassung nicht nur politischer Gefangener aus den Gefängnissen (SYRDiplQ1 05.02.2025). Kriminelle Banden und Einzelpersonen suchen weiterhin nach Sicherheits- und Autoritätslücken, die sie in dieser neuen Ära ausnutzen können. Die schwereren Verbrechen ereignen sich in der Regel auf dem Land, wo die Sicherheitspräsenz geringer ist und sich eine höhere Konzentration von Ex-Shabiha [Shabiha sind die irregulären, bewaffneten pro-Assad-Gruppierungen Anm.] befindet (MEI 21.01.2025).
Seit islamistische Rebellen im Dezember den langjährigen repressiven Machthaber Bashar al-Assad stürzten, kam es in mehreren Gebieten zu Zusammenstößen und Schießereien, wobei Sicherheitsbeamte bewaffnete Anhänger der vorherigen Regierung beschuldigten (FR24 01.03.2025). In mehreren Gebieten in Syrien kommt es weiterhin zu Zwischenfällen mit verirrten Kugeln. Im Februar sind bei solchen Vorfällen 18 Menschen, darunter drei Frauen und vier Kinder, getötet und vier weitere, darunter zwei Kinder, verwundet worden. Die Opfer verteilen sich auf die von der Regierung in Damaskus, der Demokratischen Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (DAANES) und der Syrischen Nationalen Armee (SNA) kontrollierten Gebiete. Diese Zwischenfälle werden durch die Verbreitung von Waffen unter der Zivilbevölkerung verschärft (SOHR 24.02.2025b). Sicherheitskräfte sind immer noch dabei, Überbleibsel des Regimes im ganzen Land auszuheben, die häufig Mitglieder der Allgemeinen Sicherheit und Checkpoints ins Visier genommen haben. ETANA verzeichnete Angriffe von Pro-Regime-Gruppen auf Mitglieder der Allgemeinen Sicherheit in Rif Dimashq, Ost-Dara'a und West-Homs. Auch in Hama und Jableh, in der Nähe der Hmeimim-Basis, kam es zu Zusammenstößen. Sicherheitskräfte haben in ehemaligen Regimegebieten von Deir ez-Zour mehrere Operationen durchgeführt (Etana 22.02.2025).
Die Zahl der Todesopfer der Kämpfe variierte stark (Guardian 09.03.2025). Laut dem Syrian Network for Human Rights (SNHR), das umfassende Dokumentationsstandards anwendet und als unabhängig gilt, haben Anhänger des Assad-Regimes 383 Menschen getötet, darunter 211 Zivilisten und 172 syrische Sicherheitskräfte, während syrische Sicherheitskräfte 396 Menschen getötet haben, darunter Zivilisten und entwaffnete Kämpfer (Guardian 10.03.2025). Syrische Sicherheitsquellen gaben an, dass mehr als 300 ihrer Mitglieder bei Zusammenstößen mit Angehörigen der ehemaligen Syrischen Arabischen Armee, bei koordinierten Angriffen und Hinterhalten auf ihre Streitkräfte getötet wurden (Sky News 09.03.2025b). Es wurden Massengräber mit Dutzenden von toten Mitgliedern gefunden (AJ 09.03.2025). Die syrischen Sicherheitskräfte töteten 700 ehemalige Soldaten und bewaffnete Männer, die dem ehemaligen Präsidenten Bashar al-Assad treu ergeben waren, oder sogenannte Regimeüberreste (Arabiya 09.03.2025). Dem Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge wurden 745 alawitische Zivilisten aus konfessionellen Gründen getötet, wobei er betonte, dass sie nicht an den Kämpfen beteiligt waren oder mit dem Regime in Verbindung standen (Sky News 09.03.2025a). Darüber hinaus wurden 125 Mitglieder der Sicherheitskräfte und 150 alawitische Kämpfer getötet (Sky News 09.03.2025a). Die meisten der von Regierungstruppen getöteten Zivilisten waren Alawiten, aber auch einige Christen wurden als tot bestätigt. Unter den getöteten Aufständischen des ehemaligen Regimes befanden sich Sunniten, Alawiten und Christen (TWI 10.03.2025). Laut der Vereinten Nationen kam es zu Tötungen ganzer Familien (UN News 09.03.2025).
1.5.4. Rechtsschutz und Justizwesen
Übergangspräsident ash-Shara' verkündete bereits wenige Tage nach dem Sturz des Regimes, dass er die Sicherheitskräfte des ehemaligen Regimes auflösen werde und Personen, die an der Folterung oder Tötung von Gefangenen beteiligt waren, zur Strecke gebracht würden und Begnadigungen nicht infrage kämen. Er kündigte an, andere Länder aufzufordern, die Geflohenen auszuliefern (REU 11.12.2024a). Die Verbrechen des Assad-Regimes will die Übergangsregierung aufarbeiten. Auf dem Messenger-Dienst Telegram auf Arabisch gaben sie bekannt, dass sie die Kriminellen, Mörder, Sicherheitsbeamten und Soldaten, die an der Folterung des syrischen Volkes beteiligt waren, zur Rechenschaft ziehen werden. Auch werde man Kriegsverbrecher verfolgen und ihre Auslieferung fordern, sollten sie in andere Staaten geflohen sein (DW 19.01.2025).
Der Aufbau des neuen Syriens ist zwangsläufig mit einer Aufarbeitung der Vergangenheit verbunden, d. h. mit mehr als fünfzig Jahren eines von der al-Assad-Familie dominierten Regimes. Die Eröffnung von „Versöhnungszentren“ in den wichtigsten Städten in Gebieten, die unter der Kontrolle der syrischen Übergangsregierung stehen, ist eines der Instrumente zu diesem Zweck. Sie sind Teil eines umfassenderen Prozesses der Abrüstung und Versöhnung, um Syrer, die mit und für das Regime gearbeitet haben, hauptsächlich ehemalige Militäroffiziere, wieder in die syrische Gesellschaft zu integrieren. Die Versöhnungszentren laden ehemalige Soldaten, Offiziere und Mitglieder regimetreuer Milizen ein, ihre Waffen abzugeben und ihre persönlichen Daten zu registrieren. Im Gegenzug erhalten diese Personen befristete Ausweise, die oft drei Monate gültig sind und ihnen die sichere Durchreise und den Schutz vor sofortiger Strafverfolgung gewähren. Der Prozess zielt auch darauf ab, ehemalige Anhänger des Regimes zu ermutigen, sich von ihren früheren Loyalitäten zu distanzieren und sich in den neuen gesellschaftlichen Rahmen zu integrieren. Trotz ihres beabsichtigten Zwecks sind die Kriterien für die Zulassung in diesen Zentren weder öffentlich zugänglich noch werden sie systematisch angewendet, was zu Bedenken hinsichtlich einer willkürlichen Entscheidungsfindung führt. Quellen vor Ort in Syrien berichten, dass Personen, die eine Aussöhnung anstreben, oft mit komplexen bürokratischen Hürden konfrontiert sind, wobei die Entscheidungen eher von Sicherheitsbehörden als von einem unabhängigen und unparteiischen Gerichtsverfahren beeinflusst werden. Darüber hinaus betrifft der Prozess überproportional gefährdete Bevölkerungsgruppen, von denen viele trotz des Versprechens einer rechtlichen Absolution Vergeltungsmaßnahmen befürchten (ISPI 07.02.2025).
Offizielle Listen von Kriegsverbrechern und Personen, die Verstöße gegen die Zivilbevölkerung vorgenommen haben, gibt es nicht. Die Untersuchungskommission der UN, die seit 2011 Kriegsverbrechen und andere Verstöße gegen die internationalen Menschenrechtsnormen untersucht, hat 4.000 Personen auf eine Liste gesetzt, die im Verdacht stehen schwere Verbrechen begangen zu haben. Die Organisation „For Justice“, die 2019 in Washington von syrischen Amerikanern gegründet wurde, hat bereits Jahre vor dem Sturz des Regimes eine schwarze Liste mit den Namen von 100 hochrangigen ehemaligen Regimevertretern veröffentlicht, die beschuldigt werden, seit 2011 Kriegsverbrechen in Syrien begangen zu haben. Daneben kursieren seit dem Sturz des Regimes Dutzende von inoffiziellen Listen mit den Namen und Fotos von Dutzenden gesuchter Personen, insbesondere eine Liste mit etwa 161 Namen von hochrangigen Offizieren und Kommandeuren des ehemaligen Regimes. Auch in sozialen Medien kursieren willkürliche Listen. Seit 08.12.2024 wurde eine Reihe von Personen verhaftet, denen Verbrechen vorgeworfen werden, die allerdings nicht auf den Listen stehen (AAA 12.01.2025c).
Der Prozess der gezielten Verfolgung von Männern, die in den Streitkräften des Regimes gedient haben, ist undurchsichtig und die HTS weigert sich, einem transparenten Rechtsverfahren zu folgen, das Opfer eindeutig identifiziert und Täter vor Gericht stellt (MEI 21.01.2025). Die Einsatzleitung und die Sicherheitskräfte des neuen Regimes verhafteten ehemalige Mitglieder des Assad-Regimes, darunter auch diejenigen, die ihren Status nicht legalisiert hatten, und diejenigen, die der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verdächtigt wurden. Die Verhaftungen fanden in Homs, im Umland von Damaskus, in Tartus und Latakia statt, hauptsächlich in Stadtvierteln mit schiitischer und alawitischer Bevölkerung (MAITIC 09.01.2025). Die Zahl der Festgenommenen betrug mit 03.01.2025 110 Militärangehörige des ehemaligen Regimes, darunter auch Personen, die sich bei der Abteilung für militärische Operationen versöhnt hatten. Außerdem wurden 18 Zivilisten wegen Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften verhaftet, wobei Letztere versprachen, sie in den kommenden Stunden freizulassen, nachdem sie der Justiz übergeben worden waren (SOHR 4.1.2025). Am 10.1.2025 soll es zu einer öffentlichen Hinrichtung gekommen sein, bei der die neuen Sicherheitskräfte einen Unterstützer al-Assads erschossen (Arabiya 10.01.2025; vgl. AlHurra 10.01.2025a). Nach der Verhaftungskampagne wurden einige Gefangene in Homs wieder freigelassen, nachdem sie ihre Waffen abgegeben hatten und zugesichert hatten, nichts gegen die neue syrische Regierung zu unternehmen (AAA 12.01.2025a). Es sei festgestellt worden, dass sie doch nicht an Verbrechen gegen Syrer beteiligt gewesen waren (Arabiya 12.01.2025a). Im Allgemeinen richten sich die Übergriffe der Sicherheitskräfte gegen Männer, von denen angenommen wird, dass sie Verbrechen begangen haben (unabhängig davon, ob dies bewiesen ist oder nicht) (MEI 21.01.2025).
Gebiete unter der Kontrolle der Ha'yat Tahrir ash-Sham (HTS)
In Idlib übernahmen quasi-staatliche Strukturen der sogenannten Heilsregierung (Syrische Heilsregierung - Syrian Salvation Government - SSG) der Terrororganisation Ha'yat Tahrir ash-Sham (HTS) Verwaltungsaufgaben (AA 02.02.2024). Die SSG hatte ein Justizministerium eingerichtet, das aus sechs Hauptabteilungen bestand. Die zivile bzw. allgemeine Justiz, die Verwaltungsjustiz und die Militärjustiz waren dem Justizministerium angegliedert. Die Sicherheitsjustiz, die Justiz von Organisationen und Verbänden und die Interne Justiz waren nicht beim Justizministerium angegliedert. In diesem Justizsystem gab es viele Behörden, die fast vollständig voneinander getrennt waren Die Zivile bzw. allgemeine Justiz befasste sich mit Fällen des Personen- und Zivilstandsrechts und mit Straftaten, die von Zivilisten begangen wurden. Es gab fünf Gerichte der allgemeinen Justiz. Richter waren in der Regel Geistliche oder Scheichs. Die Verfahren in diesen Gerichten waren nicht kostenlos (SNHR 31.01.2022). Es gab viele örtliche Gerichte, die über das gesamte Gebiet verteilt waren, und diese stellten den häufigsten Kontaktpunkt der Zivilbevölkerung mit dem Justizsystem dar. Offiziell unterstanden diese Gerichte dem Justizministerium, das in bestimmten Fällen eingreifen konnte. Laut örtlichen Quellen schienen diese Gerichte ihre Arbeit jedoch regelmäßig an Stammesnetzwerke auszulagern (OFPRA 27.04.2023). Die Verwaltungsjustiz war auf Streitigkeiten zwischen den Ministerien der SSG oder in Streitfällen mit einer Verwaltungsbehörde spezialisiert. Es gab dafür nur ein einziges Gericht in Idlib. Die Militärjustiz fokussierte auf militärische Angelegenheiten, wie Schlachten und Gefechte und überschnitt sich mit der Sicherheitsjustiz bei der Verfolgung von Mitgliedern der Oppositionsfraktionen. Die Nichtregierungsorganisation Syrian Network for Human Rights (SNHR) dokumentierte zwei Militärgerichte. Die Sicherheitsjustiz galt als die einflussreichste und autoritärste der Justizbehörden von HTS und unterstand dem Sicherheitsapparat. Die Sicherheitsjustiz umfasste keine erkennbaren Gerichte, sondern Sicherheitszentren mit sowohl geheimen als auch nicht-geheimen Haftzentren. Die Arbeit der Sicherheitszentren war in Kategorien unterteilt, die sich beispielsweise auf die Verfolgung von Agenten des Syrischen Regimes, auf organisierte Kriminalität, auf Personen, die mit der US-Koalition in Verbindung standen oder auf Angehörige des Islamischen Staates spezialisierten. Die Gesamtanzahl der Sicherheitszentren wurde auf 112 geschätzt. Die Justizbehörde für Organisationen und Vereine war auf die Verfolgung von Mitgliedern zivilgesellschaftlicher Organisationen spezialisiert und hatte ihren Sitz in der Nähe des Grenzübergangs Bab al-Hawa. Die Interne Justiz war eine Sondereinrichtung, die sich mit der Lösung von HTS-internen Konflikten befasste. Sie wurde direkt von HTS-Anführer Abu Mohammad al-Joulani geleitet. Diese Einrichtung verfügte über geheime Gefängnisse (SNHR 31.1.2022). Die Sicherheitstribunale, die nicht in den Zuständigkeitsbereich des Justizministeriums fielen, schienen die eigentliche Justizmacht von HTS zu sein. Diese Tribunale befanden sich in etwa hundert „Sicherheitszentren“, die als Haftanstalten dienten und dem „Allgemeinen Sicherheitsapparat“ unterstellt waren, der Polizeieinheit, die von HTS kontrolliert wurde. Die verschiedenen Abteilungen dieser Institution waren für die Bearbeitung von Fällen Organisierter Kriminalität und von Fällen zuständig, in denen Personen beschuldigt wurden, das Regime oder rivalisierende Oppositionsgruppen, den Islamischen Staat oder die Vereinigten Staaten zu unterstützen (OFPRA 27.04.2023).
Kurdischen Medienberichten zufolge gab es 25 Gefängnisse in Idlib und Umgebung, die zur HTS gehören. 20 davon wurden von ihrem Sicherheitsapparat geführt. Als Folge von Protesten etablierte die SSG der HTS ein "Zweites Sicherheitsgericht" in Idlib für die Rechtssprechung über Sicherheitsstraftaten (SOHR 30.06.2024; vgl. Enab 30.03.2024), sobald der Oberste Justizrat Regulierungen für die Arbeit dieses Gerichts erlassen hatte (SOHR 30.06.2024).
Entscheidungen der Justizbehörden wurden nicht auf Grundlage spezifischer und bekannter Gerichtsurteile und Vorschriften getroffen, sondern stützten sich hauptsächlich auf ministerielle Rundschreiben, das waren Anweisungen, die als Rechtskodex für die Gerichte gelten. Da es kein formelles Gesetz gab, das die Verfahren für die Arbeit der Gerichte regelte, kam die Prozessordnung einer solchen Gesetzgebung am nächsten, während die Gerichte in zwei Instanzen arbeiteten, wobei einige wenige in drei Instanzen arbeiteten. Für die Allgemeine Justiz waren das islamische Recht, einige syrische Gesetze und Rundschreiben des Justizministeriums die Rechtsgrundlage (SNHR 31.01.2022). Auch eine kurdische Medienorganisation berichteten, dass Aktivisten zufolge die Judikatur der HTS nicht auf Gesetzen basierte (NPA 20.04.2023).
SNHR berichtete, dass es zu wenige Richter und Anwälte für die hohe Menge an zu erledigender Arbeit gab. In vielen Bereichen griff die HTS daher auf loyal zu ihr stehende Studierende der Religions- oder Rechtswissenschaften zurück, wodurch die Unabhängigkeit und Effizienz der Justiz nicht gegeben war (SNHR 31.01.2022). Menschenrechtsgruppierungen und Medienorganisationen berichteten, dass die HTS denen, die sie verhaftet hatte, die Möglichkeit verwehrte, die Rechtsgrundlage oder den ungerechten Charakter ihrer Haft im Scharia-Justizsystem anzufechten. HTS ließ Geständnisse, die unter Folter erhalten wurden, zu und richtete als Oppositionelle wahrgenommene und ihre Familien hin oder lies diese verschwinden (USDOS 22.04.2024).
1.5.5. Sicherheitsbehörden
Die Sicherheitskräfte des alten Regimes wurden aufgelöst. Frühere Versprechen, die Polizei auf ihre Posten zurückzurufen, wurden nicht eingehalten. Die Menschen wurden aufgefordert, sich erneut auf ihre Stellen zu bewerben, aber das Verfahren ist undurchsichtig und soll Alawiten abschrecken. Ash-Shara' hat sich größtenteils an die Sicherheitskräfte seiner Verwaltung in Idlib gewandt, um den Personalmangel auszugleichen. Erfahrene Offiziere des alten Regimes sind jetzt Taxifahrer. In diesem Vakuum stellen die örtlichen Gemeinden ihre eigenen Bürgerwehren zusammen (Economist 05.03.2025). Ash-Shara versprach, dass die bewaffneten Gruppierungen und Milizen entwaffnet würden (HB 16.12.2024), und kündigte an, dass die bewaffneten Gruppierungen aufgelöst und die Kämpfer ausgebildet werden, um in die Reihen des Verteidigungsministeriums einzutreten. Sie werden dem Gesetz unterworfen sein (DW 17.12.2024). Seit Jänner 2025 haben die Interimsministerien für Verteidigung und Inneres zügig daran gearbeitet, alle bewaffneten Gruppen unter einer einzigen, mit dem Staat verbundenen Armee und Polizei zu vereinen. Für diesen Prozess wurde der Oberste Ausschuss für die Regulierung der Streitkräfte eingerichtet, der Waffen, Technologie, Militärstützpunkte und Personal überwachen soll. Ein Ausschuss von Offizieren entwirft derzeit die Struktur der neuen syrischen Armee. Die Regierung hat klargestellt, dass alle militärischen Fraktionen aufgelöst und in staatliche Institutionen integriert werden (TNA 03.02.2025). Der Prozess der Bildung einer neuen Armee für Syrien wird auf der Vereinigung mehrerer bewaffneter Gruppierungen beruhen, die über das ganze Land verteilt sind. Einige dieser Gruppierungen waren in Nord- und Westsyrien aktiv, während andere ihren Einfluss auf Südsyrien konzentriert haben, wie die Achte Brigade unter der Führung des ehemaligen Oppositionskommandeurs Ahmad al-'Awda oder andere Formationen, die in der drusischen Mehrheitsprovinz Suweida eingesetzt werden. Diese Formationen, die sich in der nächsten Phase zu einer einzigen Armee vereinigen sollen, sind jedoch über ihre Visionen und Ziele sowie darüber, woher sie Unterstützung erhalten, zerstritten (AlHurra 12.02.2025).
Am 29.01.2025 wurde die Auflösung bewaffneter Gruppierungen in Syrien bekannt gegeben, darunter auch die HTS (Sky News 31.01.2025). Einem Journalisten von Sky News zufolge sind viele Gruppierungen, die HTS unterstützten, bereits Teil der Allgemeinen Sicherheit (General Security Force) geworden und tragen alle einheitliche schwarze Uniformen und Kampfanzüge (Sky News 13.02.2025). Die General Security war die wichtigste Polizeitruppe der HTS im Nordwesten Syriens und ist nun zur Gendarmerie der Übergangsregierung in ganz Syrien geworden, um das Sicherheitsvakuum nach dem Sturz des Regimes zu füllen (ISW 16.04.2025).
Langfristig werden Syriens Bemühungen zur Reform seines Militärs mit enormen Herausforderungen beim Wiederaufbau seines Waffenarsenals und seiner Infrastruktur konfrontiert sein, insbesondere nach der weitreichenden Zerstörung durch israelische Luftangriffe im Dezember 2024. Der Wiederaufbau des syrischen Militärs – insbesondere der Luftwaffe und der Luftverteidigungsnetze, einschließlich Abfangjäger-Vorräte, Ersatzteile und Ausbildung der Besatzungen – wird Jahre dauern und Milliarden Dollar kosten, und das zu einer Zeit, in der die staatlichen Kassen fast leer sind (TNA 03.02.2025).
1.5.6. Folter und unmenschliche Behandlung, Haftbedingungen, willkürliche Verhaftungen, Verschwinden-Lassen
Vor dem Sturz des Assad-Regimes am 08.12.2024 berichteten die UN über Folter und Hinrichtungen von Gefangenen, die von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) im Nordwesten festgehalten werden. Sie und einige Fraktionen der Syrischen Nationalen Armee (Syrian National Army - SNA) im Norden wenden in ihren Haftanstalten dieselben brutalen Foltermethoden an wie die Regierung (OHCHR 03.02.2025).
Im Jänner 2025 führte die Übergangsregierung Sicherheitskampagnen durch, wie Razzien und Festnahmen. Im Fokus standen dabei die Gouvernements Latakia, Homs und Damaskus. Gerichtet waren diese Kampagnen gegen Personen, denen Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen unter dem Assad-Regime vorgeworfen werden, insbesondere gegen ehemalige Militärangehörige und Regierungsangestellte. Ob diese Kampagnen auf gerichtlichen Anordnungen basierten, ist unklar. Das Syrian Network for Human Rights dokumentierte im Jänner 2025 229 Fälle von willkürlichen Verhaftungen, darunter drei Kinder und acht Frauen. Die Übergangsregierung war für 129 Verhaftungen verantwortlich, wobei 36 wieder entlassen wurden (SNHR 04.02.2025a). Im Allgemeinen richten sich die Übergriffe der Sicherheitskräfte gegen Männer, von denen angenommen wird, dass sie Verbrechen begangen haben (unabhängig davon, ob dies bewiesen ist oder nicht), und nicht gegen Alawiten, denen Soldaten begegnen. Die HTS weigert sich, einem transparenten Rechtsverfahren zu folgen, bei dem diese Opfer eindeutig identifiziert und vor Gericht gestellt werden (MEI 21.01.2025).
Alle bewaffneten oppositionellen Gruppierungen und Gruppierungen der SNA führten willkürliche Festnahmen durch. Zu den Opfern gehörten Personen, die aus den von den kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräften (Syrian Democratic Forces - SDF) kontrollierten Gebieten kommen, darunter auch Frauen. Die Festnahmen fanden ohne gerichtliche Anordnung oder Beteiligung der Polizei statt. Den Festgenommenen wurden keine klaren Angaben zu den gegen sie vorgebrachten Vorwürfen gemacht. Die SNA bzw. andere bewaffnete Gruppierungen waren für 41 willkürliche Verhaftungen verantwortlich, darunter sechs Frauen. Zwölf Personen wurden wieder freigelassen (SNHR 04.02.2025a).
Laut Syrian Network for Human Rights (SNHR) wurden durch die Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) in der ersten Jahreshälfte 2024 16 Personen zu Tode gefoltert. Das sind 15 % aller durch Folter zu Tode Gekommenen in Syrien (SNHR 01.07.2024). Im Jahr 2023 tötete die HTS gemäß SNHR acht Personen durch Folter, darunter eine Frau (SNHR 01.01.2024). Im April 2024 protestierten Teile der Bevölkerung in der Provinz Idlib gegen die HTS insbesondere gegen ihren Sicherheitsapparat, den General Security Service (GSS), dem sie Folter in den Haftanstalten vorwarfen (AJ 02.04.2024). Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic der Vereinten Nationen (COI) dokumentierte Fälle von Folter, Verschwindenlassen, Isolationshaft, Misshandlungen, sexueller Gewalt und Tod in HTS-Haftanstalten. Zu den Einrichtungen, in denen seit 2020 solche Verstöße dokumentiert sind, gehören die Haftanstalten Sarmada, Harem, die Zweigstellen 107, 177 und 33 in Idlib und eine Haftanstalt, die an ein Gerichtsgebäude in Sarmada angeschlossen ist. Folter und Misshandlungen werden vor allem eingesetzt, um Geständnisse zu erzwingen, oder zur Bestrafung (UNHRC 12.07.2023). Weiters schreibt sie, dass sie Grund zur Annahme hat, dass Mitglieder der HTS weiterhin Handlungen begangen haben, die als Kriegsverbrechen, wie Folter, unmenschliche Behandlung und Freiheitsberaubung gelten könnten (UNGA 09.02.2024).
1.5.7. Wehr- und Reservedienst
Entwicklungen seit dem Sturz des Assad-Regimes:
Die Syrische Arabische Armee wurde noch von al-Assad vor seiner Flucht nach Mitternacht am 08.12.2024 per Befehl aufgelöst. Die Soldaten sollten ihre Militäruniformen gegen Zivilkleidung tauschen und die Militäreinheiten und Kasernen verlassen (AAA 10.12.2024).
Nach dem Umsturz in Syrien hat die von Islamisten angeführte Rebellenallianz eine Generalamnestie für alle Wehrpflichtigen verkündet. Ihnen werde Sicherheit garantiert und jegliche Übergriffe auf sie seien untersagt, teilte die Allianz auf Telegram mit (Presse 09.12.2024). HTS-Anführer ash-Shara' kündigte in einem Facebook-Post an, dass die Wehrpflicht der Armee abgeschafft wird, außer für einige Spezialeinheiten und "für kurze Zeiträume". Des Weiteren kündigte er an, dass alle Gruppierungen aufgelöst werden sollen und über Waffen nur mehr der Staat verfügen soll (CNBC Ara 15.12.2024a; vgl. MEMRI 16.12.2024). Seitdem gibt es keine Berichte über Zwangsrekrutierungen mehr. Zahlreiche ehemalige Wehrpflichtige, Deserteure und Exilanten profitierten von entsprechenden Amnestien und konnten ohne Verhängung einer Strafe nach Syrien zurückkehren, bzw. sich wieder in die Gesellschaft integrieren (Bericht des Auswärtigen Amtes über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 30.05.2025, S. 13). Unklar ist, wie eine Freiwilligenarmee finanziert werden soll (ISW 16.12.2024). Auch die Auflösung der Sicherheitskräfte kündigte ash-Shara' an (REU 11.12.2024a). In einem Interview am 10.02.2025 wiederholte ash-Shara', dass er sich für eine freiwillige Rekrutierung entschieden habe und gegen eine Wehrpflicht. Bereits Tausende von Freiwilligen hätten sich der neuen Armee angeschlossen (Arabiya 10.02.2025a; vgl. AJ 10.02.2025a). Wehrpflichtigen der Syrischen Arabischen Armee (Syrian Arab Army - SAA) wurde eine Amnestie gewährt (REU 11.12.2024b). Ahmed ash-Shara' hat versprochen, dass die neue Führung die höchsten Ränge des ehemaligen Militärs und der Sicherheitskräfte wegen Kriegsverbrechen strafrechtlich verfolgen wird. Was dies jedoch für die Fußsoldaten des ehemaligen Regimes bedeuten könnte oder wo die diesbezüglichen Grenzen gezogen werden, bleibt unklar (Guardian 13.01.2025). Die neue Übergangsregierung Syriens hat sogenannte "Versöhnungszentren" eingerichtet, sagte Abu Qasra, neuer syrischer Verteidigungsminister. Diese wurden bereits gut genutzt, auch von hochrangigen Personen, und die Nutzer erhielten vorübergehende Niederlassungskarten. Eine beträchtliche Anzahl habe auch ihre Waffen abgegeben (Al Majalla 24.01.2025). Der Hauptsitz des Geheimdienstes in Damaskus ist jetzt ein "Versöhnungszentrum", wo die neuen syrischen Behörden diejenigen, die dort gedient haben, auffordern, sich zu stellen und ihre Waffen im Geheimdienstgebäude abzugeben. Im Innenhof warten Menschenschlangen darauf, Zettel zu erhalten, die besagen, dass sie sich offiziell ergeben und mit der neuen Regierung versöhnt haben, während ehemalige Aufständische in neuen Uniformen im Militärstil die abgegebenen Pistolen, Gewehre und Munition untersuchen. Ehemalige Offiziere, die sich für die neue Regierung Syriens als nützlich erweisen könnten, beispielsweise, weil sie Informationen über Personen haben, die international gesucht werden, haben wenig zu befürchten, solange sie kooperieren (Guardian 13.01.2025). In diesen "Versöhnungszentren" erhielten die Soldaten einen Ausweis mit dem Vermerk "desertiert". Ihnen wurde mitgeteilt, dass man sie bezüglich ihrer Wiedereingliederung kontaktieren würde (Chatham 10.03.2025). Die Rolle der übergelaufenen syrischen Armeeoffiziere in der neuen Militärstruktur ist unklar. Während ihr Fachwissen beim Aufbau einer Berufsarmee von unschätzbarem Wert sein könnte, bestehen weiterhin Bedenken hinsichtlich ihrer Marginalisierung innerhalb der neuen Machtstruktur (DNewsEgy 03.02.2025). Unter al-Assad war die Einberufung in die Armee für erwachsene Männer obligatorisch. Wehrpflichtige mussten ihren zivilen Ausweis abgeben und erhielten stattdessen einen Militärausweis. Ohne einen zivilen Ausweis ist es schwierig, einen Job zu finden oder sich frei im Land zu bewegen, was zum Teil erklärt, warum Zehntausende in den "Versöhnungszentren" in verschiedenen Städten aufgetaucht sind (BBC 29.12.2024).
Der Übergangspräsident Ahmed ash-Shara' hat die Vision einer neuen „Nationalen Armee“ geäußert, die alle ehemaligen Oppositionsgruppen einbezieht. Diese Vision beinhaltet einen Prozess der Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung, bei dem Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) angeblich die Führung übernehmen soll (DNewsEgy 03.02.2025). Der syrische Verteidigungsminister Abu Qasra kündigte am 06.01.2025 den Beginn von Sitzungen mit militärischen Gruppierungen an, um Schritte zu deren Integration in das Verteidigungsministerium zu entwickeln (Arabiya 06.01.2025b). Hochrangige Beamte des neuen Regimes führten Gespräche über die Eingliederung von Milizen in das Verteidigungsministerium und die Umstrukturierung der syrischen Armee mit Vertretern unterschiedlicher bewaffneter Gruppierungen, wie Fraktionen der von der Türkei unterstützten Syrischen Nationalen Armee (Syrian National Army - SNA) (MAITIC 09.01.2025). Die Behörden gaben Vereinbarungen mit bewaffneten Rebellengruppen bekannt, diese aufzulösen und in die vereinte syrische Nationalarmee zu integrieren (UNSC 07.01.2025). Die einzige Möglichkeit, eine kohärente militärische Institution aufzubauen, besteht laut Abu Qasra darin, die Gruppierungen vollständig in das Verteidigungsministerium unter einer einheitlichen Struktur zu integrieren. Die Grundlage für diese Institution muss die Rechtsstaatlichkeit sein (Al Majalla 24.01.2025). Es bleibt abzuwarten, wie die neue Armee Syriens aussehen wird und ob sie auf einer anderen Struktur als die Armee des Assad-Regimes basieren wird. Dazu gehören Fragen in Bezug auf Brigaden, Divisionen und kleine Formationen sowie Fragen in Bezug auf die Art der Bewaffnung, ihre Form und die Art der Mission. (AlHurra 12.02.2025).
Die Umstrukturierung des syrischen Militärs hat gerade erst begonnen. Der neue de-facto-Führer hat versprochen, die neue Armee in eine professionelle, auf Freiwilligen basierende Truppe umzuwandeln, um die Professionalität in den Reihen zu fördern und sich von der Wehrpflichtpolitik zu entfernen, die das zusammengebrochene Assad-Regime charakterisierte (TR-Today 08.01.2025). Medienberichten zufolge wurden mehrere ausländische islamistische Kämpfer in hohe militärische Positionen berufen. Ash-Shara' hatte Berichten zufolge außerdem vorgeschlagen, ausländischen Kämpfern und ihren Familien aufgrund ihrer Rolle im Kampf gegen al-Assad die Staatsbürgerschaft zu verleihen (UNSC 07.01.2025).
Syrische Medien berichten, dass die neue Regierung aktiv Personen für die Armee und die Polizei rekrutiert. Damit soll der dringende Bedarf an Kräften gedeckt werden. Neue Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere werden Berichten zufolge durch intensive Programme rekrutiert, die von den traditionellen akademischen und Ausbildungsstandards abweichen. Der Prozess der Vorbereitung von Militär- und Sicherheitskadern wird beschleunigt, um den Bedürfnissen des neuen Staates gerecht zu werden (SCI o.D.). Am 10.02.2025 gab Übergangspräsident ash-Shara' an, dass sich Tausende von Freiwilligen der neuen Armee angeschlossen haben (Arabiya 10.02.2025a). Viele junge Männer ließen sich einem Bericht des syrischen Fernsehsenders Syria TV zufolge für die neue Armee rekrutieren. Insbesondere seien junge Männer in Idlib in dieser Hinsicht engagiert. Die Rekrutierungsabteilung der neuen syrischen Verwaltung in der Provinz Deir ez-Zour gab bekannt, dass wenige Wochen nach der Übernahme der Kontrolle über die Provinz durch den Staat etwa 1.200 neue Rekruten in ihre Reihen aufgenommen wurden. In den ländlichen Gebieten von Damaskus treten junge Männer vor allem der Kriminalpolizei bei (Syria TV 21.02.2025). Die Rekrutierungsabteilung von Aleppo teilte am 12.02.2025 mit, dass bis zum 15.02.2025 eine Rekrutierung in die Reihen des Verteidigungsministeriums läuft. Dort ist die Aufnahmebedingung für junge Männer, dass sie zwischen 18 und 22 Jahre alt, ledig und frei von chronischen Krankheiten und Verletzungen sein müssen (Enab 12.02.2025). Das syrische Verteidigungsministerium hat am 17.03.2025 mehrere Rekrutierungszentren im Gouvernement Dara'a in Südsyrien eröffnet (NPA 17.03.2025). Das Innenministerium hat seitdem Rekrutierungszentren in allen von der Regierung kontrollierten Gebieten eröffnet (ISW 16.04.2025). Berichten zufolge verlangt die neue Regierung von neuen Rekruten eine 21-tägige Scharia-Ausbildung (FDD 28.01.2025).
Ende Februar 2025 verbreiteten Facebook-Seiten die Behauptung, die Allgemeine Sicherheit habe in Jableh, Banyas und Qardaha Checkpoints eingerichtet, um jeden zu verhaften, der eine Siedlungskarte besitzt. Die Seiten behaupten, dass die Allgemeine Sicherheit die Verhafteten nach Südsyrien verlegt, wo es zu einer Eskalation durch die israelische Besatzung kommt. Die syrische Regierung dementierte die Durchführung von Rekrutierungskampagnen in den Provinzen Latakia und Tartus. Die Rekrutierung basiere weiterhin auf Freiwilligkeit (Syria TV 26.02.2025).
Wehr- und Reservedienst unter Präsident Assad:
In der syrischen Verfassung von 2012 wurde die Wehrpflicht im Artikel 46 festgehalten (SeG 24.02.2012). Männliche syrische Staatsbürger unterlagen grundsätzlich ab dem Alter von 18 Jahren dem verpflichtenden Wehrdienst für die Dauer von sieben Jahren. Unter 18-Jährige wurden von der syrischen Armee nicht eingezogen (ÖB Damaskus 2023). Im Gesetzesdekret Nr. 30, das 2007 erlassen worden ist, wurde der Wehrdienst gesetzlich geregelt. Die Dauer des Wehrdienstes betrug 24 Monate. Die Wehrpflicht begann am ersten Tag des Monats Jänner des Jahres, in dem der Bürger das achtzehnte Lebensjahr vollendete und endete in dem Jahr, in dem der Wehrpflichtige das zweiundvierzigste Lebensjahr überschritt oder er wurde von der Wehrpflicht befreit (PoS 12.05.2007). Binnenvertriebene waren wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und wurden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehrten, mussten mit Zwangsrekrutierung rechnen (AA 02.02.2024).
Im Selbstverwaltungsgebiet konnten die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen durchführen (DIS 6.2022). Die syrische Regierung rekrutierte keine Wehrpflichtigen in von der Demokratischen Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (DAANES) kontrollierten Gebieten (DIS, Juni 2022, S. 1). Dies war auf die allgemeine Realität in Nordostsyrien zurückzuführen: Die Regierung war in kleinen Teilen der Stadt Qamischli und in zahlreichen Dörfern südlich der Stadt sowie in kleinen Teilen der Stadt al-Hasaka stark vertreten. Außerhalb dieser Gebiete war die Kontrolle der Regierung locker und umstritten. Die Regierung war daher nicht in der Lage, die Wehrpflicht durchzusetzen oder Oppositionelle zu verhaften (Mitteilung eines Syrienexperten an ACCORD vom 17.08.2023).
Die syrische Regierung verfügte über mehrere kleine Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hasaka trugen diese die Bezeichnung "Sicherheitsquadrate" (al-Morabat al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befanden (DIS 6.2022). Die syrische Regierung konnte in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren, wo sie im "Sicherheitsquadrat" im Zentrum der Gouvernements präsent war, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor (Mitteilung eines Rechtsexperten der ÖB Damaskus vom 14.09.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegten, konnten von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z.B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o.ä.] anerkannte (EB 15.08.2022).
Die Rekrutierung von Wehrpflichtigen und Reservisten durch die syrische Regierung war somit an die Zugriffsmöglichkeiten gebunden. Wenn junge Menschen, die für den Militärdienst benötigt wurden, etwa einen Checkpoint unter der Kontrolle der Regierungskräfte in der Nähe von Manbij oder Ain Al-Arab, oder in den Vierteln der Stadt al-Hasaka, passierten und für den Militärdienst gesucht wurden, konnten sie zur Wehrpflicht eskortiert werden (vgl. E-Mail Syrian Network für Human Rights (SNHR) vom 21.08.2023 an ACCORD). Wenn eine Person für den Militärdienst der syrischen Armee gesucht wurde und einen der „Sicherheitsbereiche“ betrat, konnte diese Person festgenommen werden. Dementsprechende Fälle waren aus Qamischli und al-Hasaka bekannt. Südlich von Qamischli gab es eine Reihe von Dörfern, die von Stämmen bewohnt wurden, die mit der syrischen Regierung sympathisierten und die AANES nicht anerkannten. Einzelpersonen aus diesen Dörfern konnten der syrischen Armee freiwillig beitreten (DIS, Juni 2022, S. 50).
Das Gouvernement Idlib befand sich vollständig außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen konnte. Die syrische Regierung kontrollierte jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglichte, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht hatten, zuzugreifen und sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der „Gesuchten“ zu setzen, was ihre Verhaftung zur Rekrutierung erleichterte, wenn sie das Gouvernement Idlib in Gebiete unter der Kontrolle der syrischen Regierung verließen. (Anfragebeantwortung zu Syrien: Fragen des BVwG zur Wehrpflicht in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung vom 14.10.2022).
Jeder Mann war verpflichtet, sich in dem Jahr, in dem er 18 Jahre alt wurde, sein Wehrdienstbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen (Syrisches Verteidigungsministerium, ohne Datum). Alle syrischen Männer, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten, mussten sich ein Militärbuch besorgen. Auch diejenigen, die vom Militärdienst befreit waren, bekamen ein Wehrdienstbuch (DIS, Juli 2023, S. 8).
Litt eine Person an einer Krankheit, die nach Einschätzung der Rekrutierungsabteilung ein Hindernis für den Wehrdienst darstellt, war sie entweder von der Wehrpflicht befreit oder wurde für administrative Tätigkeiten eingeteilt (DIS, Juli 2023, S.8). Wenn eine Person als tauglich eingestuft wurde, wurde der Person mitgeteilt, wann sie sich zum Zweck der militärischen Ausbildung bei einem Ausbildungszentrum zu melden hat (DIS, Juli 2023, S.5-6).
Beim Antritt des Militärdienstes musste der Wehrpflichtige seinen Personalausweis bei der Rekrutierungsabteilung abgeben, den er nach Ableistung des Militärdienstes zurückerhielt. Im Gegenzug erhielt er einen Militärausweis (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, Mai 2022, S.54-55).
Laut Vertrauensanwalt der österreichischen Botschaft in Damaskus betrug die offizielle Wehrdienstzeit 2,5 Jahre. Danach musste man noch Reservedienst leisten. Dieser dauerte seit Ausbruch der Krise im Jahr 2011 oft bis zu sieben oder acht Jahre, sodass viele insgesamt zehn bis zwölf Jahre Wehrdienst leisten mussten (VA der ÖB Damaskus 22.09.2024). Bis vor den Fall des Regimes dauerte die Wehrdienstzeit oft nur mehr 6 oder 6,5 Jahre lang (OrthoPatSYR 22.09.2024).
Die Streitkräfte des Regimes setzten sich aus drei Kategorien von Personal zusammen: 1. freiwillig angeworbene Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften, 2. Männer, die zum Militärdienst als Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften eingezogen wurden und 3. diejenigen, die zum Militärdienst einberufen wurden, d. h. syrische Staatsbürger, die das 18. Lebensjahr vollendet und eine Militärdienstakte erhalten hatten, ihren Dienst jedoch aus bildungsbezogenen oder sozialen Gründen aufgeschoben hatten, oder diejenigen, die ihren Pflichtdienst geleistet hatten und später zum Reservedienst einberufen wurden. Angesichts dessen war die syrische Regierung stark auf Reservisten angewiesen, um die Reihen der Streitkräfte zu füllen (Jusoor 01.10.2024). Die türkisch-russische Waffenstillstandsvereinbarung im März 2020 und die anschließende Einstellung größerer Militäroperationen boten dem Assad-Regime die Möglichkeit, Reformen im Militär- und Sicherheitssektor einzuleiten, darunter waren wesentliche Änderungen am Reservedienstsystem. Das Assad-Regime erkannte die Grenzen einer auf Wehrpflichtigen basierenden Armee, insbesondere nach Jahren des Konflikts, und strebte daher den Aufbau einer professionelleren Armee an, die auf Freiwilligendiensten basieren sollte. Zwischen Mitte 2023 und Mitte 2024 wurden mehrere Verwaltungsanordnungen erlassen. Dies markierte den Beginn eines umfassenderen Plans, der darauf abzielte, das syrische Militär in eine „professionelle, fortschrittliche, qualitative Armee“ umzuwandeln, wie es der Generaldirektor der Armee und Streitkräfte formulierte. Einer der ersten Schritte bei dieser Umgestaltung war die Verkürzung der Dauer des Reservedienstes, mit dem letztendlichen Ziel, die Wehrpflicht insgesamt neu zu definieren. Das Regime führte fünf- und zehnjährige Rekrutierungsverträge ein, die wettbewerbsfähige Gehälter und andere Anreize boten, darunter die Befreiung vom Pflichtdienst nach fünf Jahren. Außerdem wurde ein strukturierter Entlassungsplan eingeführt, der in drei Phasen mit einer maximalen Dauer von 24 Monaten unterteilt war (SO 12.08.2024). In Zusammenhang mit diesen Änderungen hatte das Assad-Regime auch zahlreiche gesetzliche Änderungen am Militärdienstgesetz vorgenommen, das ursprünglich durch das Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 eingeführt wurde. Diese Änderungen waren von entscheidender Bedeutung, um unvorhergesehene Gesetzeslücken zu schließen und die Interessen des Regimes zu erweitern. So wurde beispielsweise im Jahr 2020 das Gesetzesdekret Nr. 31 eingeführt, das es syrischen Auswanderern ermöglichte, eine Barzulage von 5.000 US-Dollar für die Befreiung vom Reservedienst zu zahlen und so dringend benötigte Devisen für das Verteidigungsministerium zu generieren. Durch weitere Änderungen im Jahr 2022 wurden die Kriterien für die Befreiung von der Wehrpflicht bei Behinderung verfeinert und die Bedingungen für Einzelkinder oder ähnliche Fälle geklärt. Im Jahr 2023 führte das Regime altersbasierte Befreiungen ein, die es Personen im Alter von 40 Jahren – und später reduziert auf 38 Jahre – ermöglichten, eine Geldzulage von 4.800 US-Dollar zu zahlen, um dem Reservedienst zu entgehen. Bis 2024 wurden zusätzliche Bestimmungen für Personen mit Teilbehinderungen eingeführt, die es ihnen ermöglichten, eine reduzierte Geldzulage für die Befreiung zu zahlen, was mit den umfassenderen gesetzgeberischen Bemühungen zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen in Einklang steht (SO 12.08.2024). Im September 2024 wurde das Gesetzesdekret Nr. 20 erlassen, dass das Militärgesetz dahingehend abänderte, das Dienstalter für den Reservedienst von 40 auf 38 Jahre herabzusetzen (SANA 01.08.2024). Ende 2023 begann die syrische Regierung mit einer Kampagne zur nicht verpflichtenden Rekrutierung von Soldaten (Jusoor 01.10.2024). Im Freiwilligenvertrag, der am 21.11.2023 erlassen wurde, werden zwei Dienstperioden angeboten: fünf und zehn Jahre (Enab 02.08.2024). Anreize für die Rekrutierung von Freiwilligen sind finanzieller Natur, wie ein Gehalt von bis zu 1.300.000 Syrischen Pfund (SYP) für beide Zeitspannen, zusätzlich zu Bonuszahlungen, wie einem jährlichen Bonus, einem Heiratszuschuss im Wert von 2 Millionen SYP. Bedingungen für den Freiwilligendienst, sind unter anderem, dass der Freiwillige seit fünf Jahren die syrische Staatsangehörigkeit besaß, zum Zeitpunkt der Bewerbung zwischen 18 und 32 Jahre alt war, einen guten Leumund hatte, nicht wegen eines Verbrechens oder eines abscheulichen Verbrechens verurteilt worden war und nicht länger als drei Monate im Gefängnis gesessen hatte (Enab 28.11.2023).
Gemäß Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 konnte der Pflichtwehrdienst u.a. bei Schülern und Studenten aufgeschoben werden, die an anerkannten öffentlichen oder privaten Schulen, Instituten und Universitäten innerhalb oder außerhalb des Landes studierten, wenn sie ununterbrochen in Ausbildung waren, ein bestimmtes Alter nicht überschritten haben (das Alter variiert je Art der inskribierten Hochschule). In Kriegszeiten konnte der Studienaufschub für alle Syrer durch eine Entscheidung des Oberbefehlshabers aufgehoben werden.
Vom Wehrdienst befreit werden konnten u.a. Personen, die die Ausgleichszahlung bezahlt hatten (PoS 12.05.2007).
Eine Ausgleichszahlung in Höhe von 3.000 US-Dollar konnte jener Wehrpflichtige bezahlen, der für den fixen Dienst vorgesehen war (SeG 08.11.2020). Ebenfalls wurde eine finanzielle Ausgleichszahlung von allen syrischen Staatsbürgern und Gleichgestellten akzeptiert, die der Wehrpflicht unterlagen und außerhalb der Arabischen Republik Syrien lebten (PoS 12.05.2007). Die Zahlung variierte je nach Dauer des Auslandsaufenthaltes: 7.000 US-Dollar für Wehrpflichtige, wenn der Wehrpflichtige mindestens vier Jahre vor oder nach Erreichen des wehrpflichtigen Alters im Ausland gelebt hatte, 8.000 US-Dollar, wenn der Wehrpflichtige mindestens drei Jahre, aber weniger als vier Jahre vor oder nach Erreichen des wehrpflichtigen Alters im Ausland gelebt hatte, 9.000 US-Dollar, wenn der Wehrpflichtige mindestens zwei Jahre, aber weniger als drei Jahre vor oder nach Erreichen des wehrpflichtigen Alters im Ausland gelebt hatte, 10.000 US-Dollar, wenn der Wehrpflichtige mindestens ein Jahr, aber weniger als zwei Jahre vor oder nach Erreichen des wehrpflichtigen Alters im Ausland gelebt hatte, 3.000 US-Dollar, wenn der Wehrpflichtige im Ausland geboren wurde und dort oder in einem anderen Land dauerhaft und ununterbrochen bis zum Erreichen des wehrpflichtigen Alters gelebt hatte, 6.500 US-Dollar, wenn der Wehrpflichtige im Ausland geboren wurde und dort mindestens zehn Jahre vor Erreichen des wehrpflichtigen Alters gelebt hatte. Von Letzterem wurden 500 US-Dollar abgezogen für jedes zusätzliche Jahr Aufenthalt im Ausland bis zu einem Maximum von 17 Jahren (SeG 08.11.2020). Diese Ausgleichszahlung war einmalig zu bezahlen. Das Geld, das durch diese Ausgleichszahlungen eingenommen wurde, ging auf das Konto des Verteidigungsministeriums auf der syrischen Zentralbank und wurde in das Jahresbudget übernommen (VA der ÖB Damaskus 22.09.2024).
Wehrdienst und Rekrutierungen bei oppositionellen Milizen (vor dem Sturz des Assad-Regimes):
Anders als die Regierung und die Syrian Democratic Forces (SDF), erlegten bewaffnete oppositionelle Gruppen wie die SNA (Syrian National Army) und HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) Zivilisten in von ihnen kontrollierten Gebieten keine Wehrdienstpflicht auf (NMFA 5.2022; vgl. DIS 12.2022). Im Mai 2021 kündigte HTS an, künftig in ldlib Freiwilligenmeldungen anzuerkennen, um scheinbar Vorarbeit für den Aufbau einer "regulären Armee" zu leisten. Der Grund dieses Schrittes dürfte aber eher darin gelegen sein, dass man in weiterer Zukunft mit einer regelrechten "HTS-Wehrpflicht" in ldlib liebäugelte, damit dem "Staatsvolk" von ldlib eine "staatliche" Legitimation der Gruppierung präsentiert werden könnte (BMLV 12.10.2022).
1.5.8. Allgemeine Menschenrechtslage
Human Rights Watch konstatiert, dass nicht-staatliche bewaffnete Gruppierungen in Syrien, darunter Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und Gruppierungen der Syrischen Nationalarmee (Syrian National Army - SNA), die am 27.11.2024 die Offensive starteten, die nach zwölf Tagen die syrische Regierung stürzte, im Jahr 2024 für Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen verantwortlich waren (HRW 16.01.2025). Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) befürchtet eine Rückkehr zu einer "dunklen Ära", weil die Verhaftungen und Hinrichtungen angesichts der sich verschlechternden Sicherheitslage zunehmen (SOHR 02.02.2025). Das Syrian Network for Human Rights (SNHR) dokumentierte im Jänner 2025 129 Fälle von willkürlichen Verhaftungen durch die Übergangsregierung (SNHR 04.02.2025b) und im Februar 2025 21 Fälle (SNHR 03.03.2025).
Seit die Rebellengruppierungen am 05.12.2024 die Kontrolle über das Gouvernement Hama übernommen haben, hat das Syrian Network for Human Rights (SNHR) eine Reihe von Verstößen dokumentiert, darunter außergerichtliche Tötungen, Zerstörung von Häusern und Angriffe auf öffentliches und privates Eigentum (SNHR 19.12.2024). Mitte Jänner 2025 nahm die Welle von Selbstjustiz-Angriffen auf ehemalige Mitarbeiter des Regimes zu. Menschen wurden zu Opfern von Attentaten und Ausschreitungen des Mobs. Während einige der Betroffenen Personen sind, deren Beteiligung an den Misshandlungen der Zivilbevölkerung durch das Regime nach 2011 gut dokumentiert ist, waren an anderen Vorfällen kürzlich versöhnte ehemalige Mitglieder des Regimes, Wehrpflichtige mit niedrigem Rang und scheinbar zufällig ausgewählte junge Männer aus der Gemeinschaft der Alawiten betroffen (Etana 17.01.2025). Es werden Rachemorde durch bewaffnete Gruppierungen durchgeführt, von denen einige behaupten, dass diese mit der Abteilung für militärische Operationen verbunden wären. Sie zielen aus politischen bzw. konfessionellen Motiven auf Zivilisten ab (SOHR 26.01.2025). Am 11.01.2025 zählte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) seit 08.12.2024 80 Fälle von Tötungen, darunter Hinrichtungen vor Ort, bei denen 157 Menschen getötet wurden, unter den Getöteten waren Frauen und Kinder (SOHR 11.01.2025). Dem Middle East Institute zufolge ist eines der dringendsten Probleme nicht sektiererisch motivierte Angriffe, sondern vielmehr der undurchsichtige Prozess der gezielten Verfolgung von Männern, die in den Streitkräften des Regimes gedient haben. Im Allgemeinen richten sich die Übergriffe der Sicherheitskräfte gegen Männer, von denen angenommen wird, dass sie Verbrechen begangen haben (unabhängig davon, ob dies bewiesen ist oder nicht), und nicht gegen irgendwelche Alawiten, denen die Soldaten zufällig begegnen. Die Fälle, die die größte Angst geschürt haben, sind die Entführungen und Hinrichtungen von ehemaligen Mitgliedern des Regimes (MEI 21.01.2025). France 24 zufolge zeigen Berichte und Videos in den sozialen Medien in Syrien, dass Vergeltungsmorde begonnen haben (FR24 13.12.2024). Es kursierten Bilder von Regierungsbeamten des ehemaligen Regimes, die unter Gewaltanwendung durch die Straßen geschleift wurden (PBS 16.12.2024). Seit der Machtübernahme durch die neue Regierung haben die Sicherheitsbehörden eine Reihe von Sicherheitskampagnen durchgeführt, die darauf abzielen, die „Überbleibsel des früheren Regimes“ zu verfolgen. Hunderte von Menschen, die ihren Status bei den neuen Behörden nicht geregelt haben, wurden verhaftet. Anwohner und Organisationen haben von Misshandlungen berichtet, darunter die Beschlagnahmung von Häusern und Hinrichtungen vor Ort (AAA 02.02.2025). Bei einer Sicherheitskampagne in Homs gegen Regimeunterstützer im Jänner 2025 kam es zur Festnahme einer Reihe von Männern, darunter auch Zivilisten, denen Verstöße im Zusammenhang mit der inoffiziellen Beschlagnahme von Fahrzeugen nachgewiesen wurden. Die meisten Elemente der Abteilung für Militärische Operationen waren diszipliniert, mit Ausnahme einiger von offizieller Seite als Einzelfälle bezeichneten Vorfällen, wie das Zerbrechen von Musikinstrumenten und Wasserpfeifen sowie von Flaschen mit alkoholischen Getränken und die Beschädigung des Inhalts einiger Häuser. Einige Häftlinge wurden zu erniedrigenden Handlungen gezwungen, wie dem Imitieren von Tiergeräuschen, und sie wurden beleidigt und mit sektiererischen Phrasen beschimpft (Enab 06.01.2025). Auch in Damaskus kam es am 08.01.2025 zu Razzien durch die neuen Sicherheitsbehörden. Sie folgten auf eine dreiwöchige Kampagne im alawitischen Kernland an der Küste (National 08.01.2025). Die Civil Peace Group, eine zivilgesellschaftliche Gruppe, stellte den Tod von zehn Personen, die bei Sicherheitskampagnen und Razzien festgenommen worden waren, in den Gefängnissen der Abteilung für Militärische Operationen im Zeitraum vom 28.01 bis 01.02.2025 in verschiedenen Teilen von Homs fest (AAA 02.02.2025). Lokale bewaffnete Gruppen, die unter dem Kommando der Abteilung für Militärische Operationen operieren, führten Racheaktionen, schwere Übergriffe und willkürliche Verhaftungen durch, wobei sie Dutzende von Menschen ins Visier nahmen, sie demütigten und erniedrigten sowie religiöse Symbole angriffen (SOHR 28.01.2025). Die neue Regierung reagierte auf die Vorwürfe von Menschenrechtsaktivisten mit Festnahmen von Dutzenden Mitgliedern örtlicher bewaffneter Gruppen, die unter der Kontrolle der neuen Machthaber stünden, wegen ihrer Beteiligung an den "Sicherheitseinsätzen" in der Region Homs (Spiegel 27.01.2025). Zuvor hatten die neuen Machthaber Mitglieder einer "kriminellen Gruppe" beschuldigt, sich während eines Sicherheitseinsatzes als "Angehörige der Sicherheitsdienste" ausgegeben zu haben (Zeit Online 27.01.2025). Ein Überfall auf eine syrische Sicherheitspatrouille durch militante Anhänger des gestürzten Staatschefs Bashar al-Assad eskalierte am 06.03.2025 zu Zusammenstößen, bei denen innerhalb von vier Tagen mehr als 1.000 Menschen getötet wurden (SOHR 10.03.2025a). Bewaffnete Männer, die der syrischen Regierung treu ergeben sind, führten Hinrichtungen vor Ort durch und sprachen von einer Säuberung des Landes, wie Augenzeugen und Videos belegen. Sie lieferten ein grausames Bild eines harten Vorgehens gegen die Überreste des ehemaligen Assad-Regimes, das in gemeinschaftliche Morde ausartete (CNN 09.03.2025). Menschenrechtsberichten zufolge waren von der Türkei unterstützte Gruppierungen an „systematischen ethnischen Säuberungsaktionen“ und groß angelegten „Massakern“ gegen Zivilisten in Baniyas, Tartus und Latakia beteiligt, bei denen Hunderte von Menschen, darunter auch Frauen und Kinder, getötet wurden (LebDeb 10.03.2025). Mitglieder des Verteidigungsministeriums und die sie unterstützenden Kräfte haben Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen begangen, ohne dass sie rechtliche Konsequenzen fürchten müssen. Insgesamt wurden 1.093 Todesopfer verzeichnet (SOHR 11.03.2025). Dem Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge wurden 745 alawitische Zivilisten aus konfessionellen Gründen getötet, wobei er betonte, dass sie nicht an den Kämpfen beteiligt waren oder mit dem Regime in Verbindung standen (Sky News 09.03.2025a). Des Weiteren gibt er an, dass in einigen Gebieten Zivilisten abgeschlachtet wurden, während andere durch Erschießungskommandos hingerichtet wurden (AlHurra 09.03.2025), wie in den Stadtvierteln Baniyas und al-Qusour im Gouvernement Tartus, wo 92 Bürger durch ein Erschießungskommando des Ministeriums für Verteidigung und innere Sicherheit hingerichtet wurden (SOHR 10.03.2025e). Die meisten der von Regierungstruppen getöteten Zivilisten waren Alawiten, aber auch einige Christen wurden als tot bestätigt. Unter den getöteten Aufständischen des ehemaligen Regimes befanden sich Sunniten, Alawiten und Christen (TWI 10.03.2025).
Der Exekutivdirektor der Organisation Christians for Democracy, stimmt der Rechtfertigung der neuen syrischen Regierung zu, dass das, was geschieht, nicht die Politik der Übergangsregierung widerspiegelt. Er hat die Verstöße in zwei Kategorien eingeteilt: Verbrechen und Übergriffe, die von Einzelpersonen mit der Absicht begangen werden, sich an bestimmten Personen oder an denen, die mit dem früheren Regime kollaboriert haben, zu rächen, und Übergriffe, die von einigen extremistischen Gruppierungen begangen werden, die mit der von der neuen Regierung in Damaskus beschlossenen Politik nicht einverstanden sind. Die Übergangsregierung zieht diejenigen zur Rechenschaft, die nachweislich an Übergriffen gegen Zivilisten beteiligt waren (SOHR 02.02.2025).
1.5.9. Todesstrafe
Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (Syrian Observatory for Human Rights - SOHR) dokumentierte seit 08.12.2024 60 Morde, darunter Hinrichtungen vor Ort, bei denen 112 Menschen, darunter Frauen und Kinder getötet wurden (SOHR 03.01.2025). Berichten und unbestätigten Videos zufolge sollen die neuen Sicherheitskräfte einen Informanten des gestürzten Präsidenten öffentlich durch einen Schuss in den Kopf erschossen haben (Arabiya 10.01.2025).
1.5.10. Ethnische und religiöse Minderheiten
Die sunnitischen Muslime machen die Mehrheit der Bevölkerung des Landes aus. Obwohl die offiziellen Bevölkerungsstatistiken keine Angaben zu Religion oder ethnischer Zugehörigkeit enthalten, sind laut dem Bericht des US-Außenministeriums über Religionsfreiheit aus dem Jahr 2022 74 % der Bevölkerung Sunniten, mit einer vielfältigen ethnischen Mischung aus mehrheitlich Arabern, Kurden, Tscherkessen, Tschetschenen und einigen Turkmenen. Sunniten sind in den meisten syrischen Städten und Dörfern vertreten, mit bemerkenswerten Konzentrationen in Damaskus, Aleppo und Homs. Neben den Sunniten gibt es weitere islamische Gruppen, darunter Alawiten, Ismailiten und andere schiitische Sekten, die nach Schätzungen des US-Außenministeriums zusammen 13 % der Bevölkerung ausmachen. Die Vielfalt Syriens beschränkt sich nicht auf die konfessionelle Dimension, sondern erstreckt sich auf zahlreiche ethnische Gruppen wie Kurden, Armenier, Turkmenen, Tscherkessen und andere. Araber sind die überwältigende Mehrheit in Syrien, gefolgt von Kurden (BBC 12.12.2024). Die Übergangsregierung in Syrien will sich nach Aussagen ihres Außenministers ash-Shaybani für die Inklusion aller Bevölkerungsgruppen im Land einsetzen. Niemand sollte aufgrund seiner Herkunft, seines sozialen oder religiösen Hintergrunds oder einer Zugehörigkeit zu bestimmten Bevölkerungsgruppen bestraft werden, sagte er beim Weltwirtschaftsforum in Davos (Zeit Online 23.01.2025). Demografische Daten für Syrien sind unzuverlässig, und die derzeitigen Standorte von Minderheitengemeinschaften sind aufgrund der erheblichen Umwälzungen, die das Land unter der Herrschaft von Bashar al-Assad erlebte, ähnlich schwer zu ermitteln (MRG 1.2025).
Auf folgender Karte von France 24 ist die ethnische und religiöse Zusammensetzung Syriens dargestellt:
Obwohl die Zahlen nicht überprüft werden können, wird geschätzt, dass weit über 500.000 Menschen getötet wurden und über zwölf Millionen innerhalb Syriens oder ins Ausland vertrieben wurden, darunter Alawiten, Christen (einschließlich Armenier und Assyrer), Drusen, Ismailiten, Kurden, Turkmenen, Zwölfer-Schiiten, Jesiden und andere. Al-Assads zynische Mobilisierung von Ängsten innerhalb der Gemeinschaft vor dem Hintergrund des wachsenden Einflusses extremistischer Elemente innerhalb der syrischen Oppositionskräfte führte zu einer zunehmend konfessionell geprägten Landschaft – beschleunigt durch die Vertreibung von Minderheiten durch militante Gruppen in Gebieten, die unter ihrer Kontrolle standen. Infolgedessen hat sich die Demografie des Landes neu geordnet, wobei sich die religiösen Minderheiten in den von der Regierung kontrollierten Gebieten in Zentral- und Südsyrien konzentrieren, während die Bevölkerung im Norden nun größtenteils sunnitisch ist (MRG 1.2025).
Tatsächlich kam es bei dem rasanten Vormarsch auf Damaskus Berichten zufolge nicht zu Racheakten oder Gewalttaten. In seiner ersten Rede in Damaskus trat ash-Shara' ebenfalls mäßigend auf und mahnte den Übergang vom Kampf zum Aufbau der Institutionen an (Rosa Lux 17.12.2024). Von Anfang an zeigten die neuen Behörden bewusst die Absicht, eine Abkehr von den spaltenden Praktiken ihrer Vorgänger zu signalisieren (AC 20.12.2024). Anderen Berichten zufolge gab es durchaus gewaltsame Übergriffe, Morde und andere Racheakte von HTS-Kämpfern gegen Andersgläubige (National 06.01.2025).
Ash-Shara' hat erklärt, dass weder die Kurden noch die Drusen unter dem Vorwand der Angst vor der islamischen Mehrheit Syriens auf Autonomie hinarbeiten dürfen. Er verlangt von ihnen, sich in der neuen Ordnung einzugliedern und ihre Waffen niederzulegen. Die Kurden sollen keine unabhängigen oder individuellen Beziehungen zu ausländischen Akteuren unterhalten (Akhbar 31.12.2024).
Eines der drängendsten Probleme sind nicht sektiererisch motivierte Angriffe, sondern vielmehr der undurchsichtige Prozess der gezielten Verfolgung von Männern, die in den Streitkräften des Regimes gedient haben (von denen die meisten aufgrund der Natur des Regimes Alawiten sind) (MEI 21.01.2025).
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und die eingebrachte Stellungnahme (OZ 14), in das per Link bekanntgebene Video auf der Plattform YouTube, und die vorgelegten Urkunden sowie im Wege der Einvernahme des Beschwerdeführers als Partei in der am 29.01.2024 durchgeführten und am 19.05.2025 sowie am 01.10.2025 fortgesetzten mündlichen Verhandlung, Einvernahme der beantragten Zeugen, Einholung aktueller Auszüge aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister und dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister, sowie im Wege der Einsichtnahme in die vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen betreffend die Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers (insbesondere das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 08.05.2025; Danish Immigration Service: Syria Military Service, Jänner 2024; ACCORD Themendossier zu Syrien: Wehrdienst vom 23.09.2024; EUAA COI-Report Syria – Country Focus, October 2024; EUAA Country Guidance Syrien, April 2024; ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Strukturen und wichtige Akteur·innen der interimistischen Regierung sowie der neuen Übergangsregierung vom 29. März 2025, Dominante Strömungen, vom 03.04.2025; ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Rekrutierungspraxis der Übergangsregierung, Rekrutierungen durch andere bewaffnete Gruppen (z.B. Yekîneyên Parastina Gel, YPG); Zwangsrekrutierungen, vom 31.03.2025; Bericht des Auswärtigen Amtes über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 30.05.2025; EUAA Country Guidance: Syria, June 2025; UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen – 6. aktualisierte Fassung – März 2021; UNHCR Position zu Syrien vom Dezember 2024; EUAA COI-Report Syria: Country Focus, March 2025; EUAA COI-Report Syria – Country Focus, July 2025; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien: Fragen des BVwG zur Wehrpflicht in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung vom 14.10.2022).
Der Beschwerdeführer beantragte im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sowie zum Beweis seiner familiären Probleme mit der Al-Nusra-Front die zeugenschaftliche Einvernahme diverser in Österreich lebender männlicher Verwandter. Drei von insgesamt fünf beantragten Zeugen konnten am darauffolgenden Verhandlungstag am 01.10.2025 einvernommen werden. Zwei Zeugen sind trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht zur Verhandlung erschienen. Der Beschwerdeführer und sein Rechtsvertreter verzichteten in der Folge ausdrücklich auf die neuerliche Ladung und Einvernahme dieser beiden nicht erschienen Zeugen.
2.2. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, seiner Identität, seiner Abstammung und seinen persönlichen und familiären Lebensumständen im Herkunftsstaat bis zur Ausreise sowie seinen Familienverhältnissen unter Punkt 1.1. beruhen auf den im Wesentlichen stringenten Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren erster Instanz und vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie auf die vom Beschwerdeführer vorgelegten Urkunden bzw. Registerauszüge (Geburtsurkunden sowie Personenregisterauszüge des Beschwerdeführers, seiner Frau und seiner Tochter, Auszug aus dem Familienregister, Eheschließungsurkunde).
Dass der Beschwerdeführer im Dorf XXXX im Gouvernement Idlib geboren wurde und dort im Wesentlichen durchgehend lebte, ergibt sich ebenso aus den stringenten Angaben des Beschwerdeführers im erst- und zweitinstanzlichen Verfahren.
Das festgestellte Ausreisedatum 10.08.2022 und die Feststellungen zur Fluchtroute beruhen ebenfalls auf den Ausführungen des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt und dem Bundesverwaltungsgericht. Am letzten Verhandlungstag am 01.10.2025 gab der Beschwerdeführer an, Syrien bereits im Februar 2022 verlassen zu haben, während er zuvor durchgehend angegeben hatte, erst in den Sommermonaten desselben Jahres ausgereist zu sein. Der plötzliche Wechsel dieser Angabe ist möglicherweise auf den Zeitablauf und ein nachlassendes Erinnerungsvermögen zurückzuführen. Da die im Rahmen der Erstbefragung erhobenen Angaben in zeitlicher Nähe zur Ausreise erfolgten und die dort genannten Daten daher als verlässlicher anzusehen sind, legt das Gericht das in der Erstbefragung genannte Datum als maßgebliches Ausreisedatum zugrunde. Schließlich dient die Erstbefragung insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden (vgl. § 19 Abs. 1 AsylG 2005).
Da der Beschwerdeführer bis zur Ausreise aus Syrien im Wesentlichen durchgehend im Dorf XXXX im Gouvernement Idlib gelebt hat, ist diese Region im Einklang mit der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes als Herkunftsregion anzusehen (statt aller VwGH 09.03.2023, Ra 2022/19/0317 mwN).
2.3. Der Beschwerdeführer legte im Hinblick auf seinen gesundheitlichen Zustand vor dem Bundesamt und vor dem Bundesverwaltungsgericht dar, dass er an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide. Er untermauerte diese Erkrankung im Wege der Vorlage ärztlicher Entlassungsbriefe sowie einer Aufenthaltsbestätigung des Landeskrankenhauses Graz. Im Hinblick darauf sieht das Bundesverwaltungsgericht keinen Grund, an der zurückliegenden Erkrankung des Beschwerdeführers zu zweifeln. Die vorgelegten medizinischen Unterlagen beziehen sich jedoch auf den Zeitraum Mai 2023. Darüber hinaus gab der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht an, dass sich sein Gesundheitszustand verbessert hätte. Im Falle erneuter Spannungszustände nehme er Beruhigungsmittel ein, wobei ein solcher Bedarf bereits seit geraumer Zeit nicht mehr bestanden hätte. Ausgehend davon und ob des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks ist daher festzustellen, dass der allgemeine Gesundheitszustand des Beschwerdeführers aktuell als stabil einzustufen ist und insbesondere keine Einschränkungen oder Beschwerden vorliegen.
2.4. Die zur Lage im Herkunftsstaat unter Punkt 1.5. getroffenen Feststellungen ergeben sich aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnisquellen, die dem Beschwerdeführer im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung zunächst mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 06.12.2023 unter gleichzeitiger Angabe der herangezogenen Quellen zur Wahrung des Gehörs übermittelt wurden. Vom hiezu eingeräumten Äußerungsrecht machte der Beschwerdeführer keinen Gebrauch. Mit Note vom 28.04.2025 wurden dem Beschwerdeführer weitere rezente Länderberichte zur Kenntnis gebracht. Von einer Stellungnahme hiezu nahm er wiederum Abstand. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.05.2025 sowie in der fortgesetzten Verhandlung am 01.10.2025 wurden dem Beschwerdeführer das aktualisierte Länderinformationsblatt vom 08.05.2025 sowie zwei weitere aktuelle Länderberichte ausgefolgt. Von seinem Äußerungsrecht machte der Beschwerdeführer wiederum keinen Gebrauch.
Die nunmehr getroffenen Feststellungen zur politischen Lage und zu den Machtverhältnissen in Syrien gründen sich demnach im Wesentlichen auf das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl sowie auf die Einsichtnahme in die allgemein zugängliche Datenbank „https://syria.liveuamap.com/“. Zum Zweck einer einheitlichen Darstellung wurden die einschlägigen Inhalte des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation um den Inhalt spezifischerer Länderberichte – insbesondere betreffend die Sicherheits- und Rekrutierungssituation in den von der syrischen Übergangsregierung kontrollierten Gebieten – bzw. aktuellerer Länderberichte erweitert. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass eine nähere Auseinandersetzung mit den die Sicherheits- und Rekrutierungssituation im Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers betreffenden Quellen anhand seines Profils im Rahmen der untenstehenden Beweiswürdigung erfolgt.
Die zum Wehrdienst und zur Rekrutierungspraxis der vormals syrischen Streitkräfte, oppositioneller Milizen sowie der neuen Übergangsregierung unter Präsident ash-Shara getroffenen Feststellungen ergeben sich aus dem Länderinformationsblatt, den bezughabenden Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation sowie von ACCORD, dem ACCORD Themendossier zu Syrien: Wehrdienst vom 23.09.2024, dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 30.05.2025, dem EUAA Country Guidance: Syria, June 2025, dem EUAA COI-Report Syria – Country Focus, July 2025 sowie dem Bericht des Danish Immigration Service betreffend „Military Service“. Die jeweils im Einzelfall herangezogene Quelle wurde in den Feststellungen ersichtlich gemacht, die Quellen zeigen insgesamt ein übereinstimmendes Gesamtbild und ermöglichen damit zweifelsfreie Feststellungen zur Situation vor Ort.
Die Feststellungen zur allgemeinen Menschenrechtslage in Syrien gründen ebenso auf das aktuelle Länderinformationsblatt vom 08.05.2025 sowie auf die entsprechenden Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation sowie von ACCORD in Kombination mit dem zuletzt ergangenen Bericht des Auswärtigen Amtes über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 30.05.2025, dem EUAA Country Guidance zu Syrien aus Juni 2025 sowie dem EUAA COI-Report Syria – Country Focus aus Juli 2025.
Dem eingeholten Strafregisterauszug zufolge ist der Beschwerdeführer unbescholten.
2.5. Das Asylverfahren bietet nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Dem Vorbringen des Asylwerbers kommt somit zentrale Bedeutung zu. § 18 Abs. 1 AsylG 2005 sieht dementsprechend vor, dass in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken ist, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Diese Pflicht bedeutet aber nicht, ohne Vorbringen oder ohne sich aus den Angaben ergebende Anhaltspunkte jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen (VwGH 03.07.2020, Ra 2019/14/0608 mwN).
Zunächst hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage und allenfalls durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauert wahrheitsgemäß darzulegen (VwGH 27.05.2019, Ra 2019/14/0153; 15.03.2016, Ra 2015/01/0069). Im Rahmen der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Vorbringens eines Asylwerbers ist gemäß § 18 Abs. 3 AsylG 2005 auf dessen Mitwirkung im Verfahren Bedacht zu nehmen. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 sieht ferner vor, dass es die Mitgliedstaaten es als Pflicht des Antragstellers betrachten können, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Im Fall fehlender Beweismittel bedürfen Aussagen gemäß Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95/EU dann keines Nachweises, wenn
a) der Antragsteller sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen;
b) alle dem Antragsteller verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen und eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben wurde;
c) festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen;
d) der Antragsteller internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war; und
e) die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist.
Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat in seiner Rechtsprechung konkretisierend festgehalten, dass es erforderlich ist, dass der Antragsteller sein Vorbringen gebührend substantiiert (EuGH U 04.10.2018, Fathi gegen Predsedatel na Darzhavna agentsia za bezhantsite, C-56/17, mwN). Ein sich Beschwerdeverfahren steigerndes Vorbringen ist der Glaubwürdigkeit ebenso abträglich, wie Widersprüche und Ungereimtheiten oder ein mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen oder mit den tatsächlichen Verhältnissen im Herkunftsstaat nicht vereinbares Vorbringen (VwGH 06.03.1996, Zl. 95/20/0650; 21.06.1994, Zl. 94/20/0102).
2.6. Unter Berücksichtigung der angeführten Rechtsprechung ist es dem Beschwerdeführer nicht gelungen, eine im Rückkehrfall mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende individuelle Gefährdung glaubhaft darzulegen. Im Einzelnen:
Der Beschwerdeführer begründete seinen Antrag auf internationalen Schutz mit der Furcht vor dem Krieg und einer Zwangsrekrutierung durch das syrische Regime. Ferner gab er an, in Österreich eine adäquatere Behandlung seiner psychischen Erkrankung zu erwarten. Zudem drohe ihm eine asylrelevante Verfolgung durch Unterstellung einer oppositionellen Gesinnung wegen seiner Herkunft aus XXXX , seiner illegalen Ausreise und Asylantragstellung in Europa.
Im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht brachte der Beschwerdeführer darüber hinaus vor, er befürchte eine Verfolgung aufgrund seiner familiären Beziehung zu einem männlichen Angehörigen, der aktiv bei der Freien Syrischen Armee gekämpft hätte.
Die Rückkehrbefürchtungen des Beschwerdeführers wurden seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl mit dem angefochtenen Bescheid vom 04.07.2023 verworfen und festgestellt, dass der Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat keine asylrelevante Verfolgung zu befürchten habe. Das Bundesverwaltungsgericht folgt nach sorgfältiger Berücksichtigung der veränderten Lage infolge des Sturzes des Assad-Regimes im Ergebnis der Einschätzung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
2.6.1. Zum Ausreisemotiv der prekären und fragilen Sicherheitslage
Im Lichte der allgemein bekannten Situation in Syrien sind die Rückkehrbefürchtungen des Beschwerdeführers im Hinblick auf den anhaltenden Bürgerkriegszustand und die damit verbundene prekäre Sicherheitslage grundsätzlich nachvollziehbar und glaubhaft. Dies gilt insbesondere auch im Hinblick auf den schicksalhaften Tod seines Vaters und seines Bruders infolge von Bombardierungen.
Gleichwohl ist festzuhalten, dass sich aus diesen Umständen allein keine individuelle, asylrelevante Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG ableiten lässt. Der Beschwerdeführer hat keine konkreten, auf seine Person gerichteten Verfolgungshandlungen glaubhaft gemacht, sondern lediglich die allgemeine Gefährdungslage in Syrien geschildert. Diese betrifft jedoch die gesamte Zivilbevölkerung und begründet für sich genommen keine asylrechtlich relevante individuelle Bedrohung, sondern ist im Rahmen der Beurteilung des subsidiären Schutzes zu berücksichtigen, welcher dem Beschwerdeführer ohnedies zuerkannt wurde (statt aller VwGH 19.08.2022, Ra 2022/20/0043 mwN).
2.6.2. Zum Ausreisemotiv der Zwangsrekrutierung
Der Beschwerdeführer führte in seinen Einvernahmen (und zwar in der Erstbefragung aber auch vor dem Bundesamt) die Furcht vor der Zwangsrekrutierung durch das syrische Regime als Rückkehrhindernis an. In seiner Beschwerde sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht schilderte er ebenso die Furcht vor dem drohenden Militärdienst.
Ausweislich der Länderinformationen (männliche syrische Staatsbürger unterlagen grundsätzlich ab dem Alter von 18 Jahren dem verpflichtenden Wehrdienst für die Dauer von sieben Jahren) hätte der Beschwerdeführer, der zum Zeitpunkt der Ausreise aus Syrien 24 Jahre alt war, bereits seinen Wehrdienst ableisten müssen. Der Beschwerdeführer verneinte aber, jemals Militärdienst geleistet zu haben. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 29.01.2024 verwies er darauf, dass sein Heimatort nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehe und das Regime dort keinen Zugriff auf potentiell wehrpflichte Personen hätte. Dies ist in Anbetracht vorliegender Länderberichte durchaus plausibel. Die Herkunftsregion des Beschwerdeführers stand im Zeitpunkt der Ausreise bis zum Sturz der Assad-Regierung Ende des Jahres 2024 unter der Kontrolle der militärischen Gruppierung Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS). Ausweislich der Länderinformationen war die syrische Regierung damals nicht in der Lage, das Wehrpflichtgesetz in Gebieten durchzusetzen, die nicht unter ihrer Kontrolle standen. Das Gouvernement Idlib befand sich vollständig außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen konnte. Die syrische Regierung kontrollierte zwar die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglichte, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht hatten, zuzugreifen. Dies bewirkte jedoch lediglich, dass identifizierte Wehrpflichtige für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der „Gesuchten“ gesetzt wurden, was ihre Verhaftung zur Rekrutierung erleichterte, wenn sie das Gouvernement Idlib in Gebiete unter der Kontrolle der syrischen Regierung verließen. Es änderte jedoch nichts daran, dass die syrische Regierung nicht in der Lage war, auf potentiell Wehrpflichtige direkt in außerhalb ihrer Kontrolle stehenden Gebieten zuzugreifen. Oppositionelle Milizen wie die SNA oder HTS legten Zivilisten in von ihr kontrollierten Gebieten generell keine Wehrdienstpflicht auf. Es ist daher durchaus nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise von keinen Rekrutierungsmaßnahmen betroffen war. Im Hinblick auf die damaligen Kontrollverhältnisse ist es auch unwahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer bei einem Verbleib in seiner Heimatregion einer Zwangsrekrutierung ausgesetzt gewesen wäre. Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass sich die eingeschränkten Zugriffsmöglichkeiten des Regimes im Verlauf der weiteren Jahre nach der Ausreise nicht verändert haben. Die vom Beschwerdeführer zu Beginn der mündlichen Verhandlung geäußerte Gefahr, das syrische Regime würde in absehbarer Zeit seinen Heimatort wegen der örtlichen Nähe erobern, hat sich rückblickend nicht bewahrheitet.
Es war daher festzustellen, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise keinen Wehrdienst geleistet hat und sich auch keinen Versuchen einer zwangsweisen Einziehung durch die syrischen Militärbehörden oder Oppositionsgruppen ausgesetzt sah.
Zwischenzeitig ist die vom syrischen Regime ausgehende Rekrutierungsgefahr seit dem Sturz des Assad-Regimes jedenfalls obsolet. Die Region des Beschwerdeführers steht nun auch unter der Kontrolle durch die neue syrische Übergangsregierung unter dem Übergangspräsidenten Ahmed ash-Shara. Aus dem aktuellen Länderinformationsblatt geht eindeutig hervor, dass die Syrisch-Arabische Armee vom ehemaligen Präsidenten al-Assad noch vor seiner Flucht am 08.12.2024 per Befehl aufgelöst wurde und unter der Herrschaft des neuen Übergangspräsidenten ash-Shara nicht die Etablierung einer Wehrpflicht, sondern vielmehr die Gründung einer sogenannten „Freiwilligen-Armee“ beabsichtigt wäre; seither hätte es auch keine Berichte über Zwangsrekrutierungen gegeben. Im Hinblick auf die vorgebrachte Befürchtung in der Beschwerde, im Rückkehrfall zur Ableistung des Wehrdienstes durch die syrische Regierung eingezogen zu werden, geht das Bundesverwaltungsgericht somit nicht von der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit des Eintrittes eines solchen Szenarios aus. Dies zumal die staatlichen Kasernen leer sind und der Wiederaufbau des syrischen Militärs ausweislich der Länderberichte noch Jahre dauern wird. Zwar wird in den Länderinformationen auf eine Ende Februar 2025 auf Facebook verbreitete Behauptung Bezug genommen, wonach die Allgemeine Sicherheit in Jableh, Banyas und Qardaha Checkpoints errichtet habe, um Personen mit Siedlungskarten festzunehmen. Die syrische Regierung hat jedoch die Durchführung von Rekrutierungskampagnen in den Provinzen Latakia und Tartus ausdrücklich dementiert und erneut betont, dass die Einberufung auf freiwilliger Basis erfolge. Da auch andere Quellen keine Berichte über Zwangsrekrutierungen enthalten, ist davon auszugehen, dass der Wahrheitsgehalt der auf Facebook verbreiteten Behauptung als gering einzustufen ist.
Letztlich ist noch darauf zu verweisen, dass gerade in den letzten Jahren vor der militärischen Großoffensive der dschihadistischen Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) selbst das Assad-Regime die Grenzen einer auf Wehrpflichtigen basierenden Armee erkannte, insbesondere nach Jahren des Konflikts, und daher den Aufbau einer professionelleren Armee anstrebte, die auf Freiwilligendiensten basieren sollte. Zwischen Mitte 2023 und Mitte 2024 wurden mehrere Verwaltungsanordnungen erlassen. Dies markierte den Beginn eines umfassenderen Plans, der darauf abzielte, das syrische Militär in eine „professionelle, fortschrittliche, qualitative Armee“ umzuwandeln.
Schließlich war aus den vorangestellten beweiswürdigenden Erwägungen festzustellen, dass dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in seine Herkunftsregion im Gouvernement Idlib nicht die Einberufung zum Wehrdienst oder Zwangsrekrutierung durch die Syrisch-Arabische Armee, durch Oppositionsgruppen oder durch die neue syrische Übergangsregierung unter dem Übergangspräsidenten Ahmed ash-Shara droht.
2.6.3. Zur vorgebrachten Verfolgung aufgrund seines Verwandtschaftsverhältnisses zu einem Mitglied einer Oppositionspartei
Der Beschwerdeführer führte im Verfahren vor dem Bundesamt sowie in seiner Beschwerdeschrift im Wesentlichen seine Furcht vor den Gefahren des Bürgerkriegs und einer Zwangsrekrutierung durch das syrische Regime als alleinige Ausreisemotive ins Treffen. Er verneinte vor dem Bundesamt, im Herkunftsstaat inhaftiert oder von einer Festnahme betroffen gewesen zu sein (AS 259). Die Frage, ob er noch weitere Ausreisegründe vorbringen wolle, beantwortete der Beschwerdeführer mit der Bemerkung, sein Leben schützen zu wollen (AS 261). Von vor der Ausreise erlittenen Verfolgungshandlungen war bei der Einvernahme vor dem Bundesamt keine Rede (AS 260).
In der gegen den angefochtenen Bescheid erhobenen Beschwerde wird kein darüber hinausgehendes Sachvorbringen erstattet und – im Hinblick auf das Ermittlungsverfahren – lediglich moniert, dass sich das Bundesamt nicht hinreichend mit einer dem Beschwerdeführer drohenden Verfolgung wegen der illegalen Ausreise und der Asylantragstellung in Europa auseinandergesetzt habe.
Erstmalig und völlig losgelöst von seinem bisherigen Vorbringen behauptete der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, durch die Gruppierung „Al-Nusra“ im „dritten Monat“ festgenommen worden zu sein und infolge der familiären Beziehung zu seinem Cousin, der zugleich sein Schwager sei und welcher aktiv bei der Freien Syrischen Armee (FSA) tätig gewesen wäre, eine achtmonatige Haftstrafe erlitten zu haben. Dieser Cousin trage den Namen XXXX und sei im Jahr 2017 getötet worden. Seine Familie habe ca. 15.000 USD an Schmiergeld bezahlen müssen, um die Freilassung des Beschwerdeführers zu bewirken. In der Folge habe er sich ca. vier Monate an der türkisch-syrischen Grenze aufgehalten, bis ihm schließlich die Ausreise gelungen wäre. Im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat würde ihn die „Al-Nusra-Front“ verhaften.
In der fortgesetzten mündlichen Verhandlung am 19.05.2025 wurden diese angeblichen Vorfälle erneut thematisiert. Der Beschwerdeführer war jedoch nicht in der Lage, den Sachverhalt widerspruchsfrei und konsistent zu schildern. Gleich zu Beginn seiner Angaben meinte der Beschwerdeführer, dass sich sein Onkel als Führer einer Gruppierung der FSA (er nannte die Bezeichnung „Division 101-Infanterie“) angeschlossen hätte, wohingegen er zuvor stets von seinem Cousin gesprochen hatte. Ferner ist festzustellen, dass die Schilderungen des Beschwerdeführers im Verlauf des Verfahrens eine deutliche Zuspitzung und Dramatisierung erfahren haben, wobei die Darstellung der Ereignisse erheblich verschärft wurde. Respektive habe man den Beschwerdeführer in ein Gefängnis „Uqab“ in „Zawiya-Berg“ „geworfen“, man habe ihn gefoltert und gezwungen, falsche Geständnisse abzugeben. Man hätte ihn beschuldigt, Informationen über „Al-Nusra“ an seinen Onkel weitergegeben und Personen getötet zu haben. Als Foltermethode würde dort eine Maschine mit der Bezeichnung „Sarg des Todes“ zum Einsatz gelangen. Der Beschwerdeführer erklärte schließlich, insgesamt etwa 15 Monate inhaftiert gewesen zu sein („Ende 2020 wurde ich inhaftiert. Drei Monate vor meiner Ausreise kam ich frei“), was insofern als auffällig erscheint, als er zuvor von einer deutlich kürzeren Haftdauer, nämlich lediglich etwa der Hälfte dieser Zeit, gesprochen hatte und darüber hinaus angab, im „dritten Monat“ festgenommen worden zu sein und nicht am Jahresende. Diese Angabe steht nicht nur im Widerspruch zu seinen früheren Aussagen, sondern erscheint auch im Hinblick auf den zeitlichen Ablauf familiärer Umstände, insbesondere im Zusammenhang mit der Geburt seiner Tochter, nicht plausibel. Wenn die Tochter des Beschwerdeführers am XXXX geboren wurde, spricht dieser Umstand gegen eine Inhaftierung des Beschwerdeführers von Ende 2020 an bis kurz vor der Ausreise.
Auch meinte er, dass er sich anschließend zwei Monate lang in der Nähe der türkischen Grenze aufgehalten habe, wohingegen er zuvor einen Grenzaufenthalt von vier Monaten behauptet hatte. Schließlich gab der Beschwerdeführer an, sein Onkel sei im Juni/Juli 2017 inhaftiert worden und habe sich bis zu seiner Ermordung neun Monate dort aufgehalten. Dies würde aber bedeuten, dass sein Onkel 2018 – und nicht wie zuvor vom Beschwerdeführer behauptet im Jahr 2017 – zu Tode gekommen wäre.
Es ist daher festzuhalten, dass der Beschwerdeführer nicht nur im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gänzlich neues Vorbringen erstattete, das im erstinstanzlichen Verfahren keinerlei Erwähnung gefunden hatte – was für sich alleine bereits der Glaubwürdigkeit des Standpunktes abträglich ist – sondern dass er sich darüber hinaus auch in mehreren wesentlichen Punkten selbst widersprach. Ausgehend davon und dem in der mündlichen Verhandlung gewonnen Eindruck ist das vom Beschwerdeführer erstmals im Rechtsmittelverfahren erstatte Vorbringen betreffend Verfolgung durch die al-Nusra-Front als nicht glaubhaft anzusehen.
2.6.4. Mit Schriftsatz vom 26.05.2025 (OZ 14) wurden vom Beschwerdeführer fünf Personen als Zeugen zur Thematik der Vertreibung und Probleme durch die Al Nusra Front benannt und deren Einvernahme beantragt. Darüber hinaus übermittelte der Beschwerdeführer einen Link zu einem auf der Videoplattform „YouTube“ veröffentlichten Beitrag. Nach seinen Angaben soll es sich dabei um eine Berichterstattung über die Probleme seines Onkels handeln, insbesondere über dessen Inhaftierung durch die Al-Nusra-Front sowie dessen Tötung während der Haft.
Drei der beantragten Zeugen konnten in der fortgesetzten mündlichen Verhandlung am 01.10.2025 einvernommen werden. Zwei Zeugen sind trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienen, wobei seitens des Beschwerdeführers und seiner Rechtsvertretung auf deren neuerliche Ladung und Einvernehmung ausdrücklich verzichtet wurde.
Die Aussagen der erschienenen Zeugen vermochten das Bundesverwaltungsgericht nicht davon zu überzeugen, dass sich das vom Beschwerdeführer geschilderte Geschehen tatsächlich in der behaupteten Weise zugetragen hat. Beim ersten befragten XXXX , handelt es sich nach den Angaben des Beschwerdeführers um einen Nachbarn, der viel über den Konflikt mit der al-Nusra-Front „gehört“ haben soll, sowie über die Inhaftierung des Beschwerdeführers und seine anschließende Entlassung. Im Zuge der Befragung gab der Zeuge an, dass er im maßgeblichen Zeitpunkt in der Türkei gewesen wäre und über seine Familie erfahren hätte, dass der Beschwerdeführer sieben bis acht Monate im Gefängnis verbracht hätte und dort gefoltert worden wäre. Anschließend sei der Beschwerdeführer in einem Krankenhaus aufgenommen worden. Die „HTS“ habe den Beschwerdeführer aber verfolgt, „sie kamen zu ihm nachhause“ und daher sei er in die Türkei geflüchtet. Befragt zum Onkel des Beschwerdeführers gab er an, dass er persönlich erlebt hätte, wie der Vater der Frau des Beschwerdeführers mitgenommen und getötet worden sei. Auf weiteres Nachfragen zu den Details seiner persönlichen Erlebnisse gab er jedoch an, dass er noch zu jung gewesen wäre. Er hätte seine Leiche gesehen. Der Onkel sei erschossen worden und auf seinem Körper seien Folterspuren gewesen.
Die Schilderungen des Zeugen XXXX waren insofern nicht glaubwürdig, da sie in wesentlichen Punkten mit den Aussagen des Beschwerdeführers nicht übereinstimmten. Der Beschwerdeführer erwähnte mit keinem Wort, dass er nach seiner Freilassung im Krankenhaus gewesen wäre oder dass ihn die al-Nusra-Front weiterhin verfolgt habe. Der Beschwerdeführer gab lediglich an, dass er sich nach seiner Freilassung über Monate an der türkischen Grenze aufgehalten hätte, bis er schließlich ausgereist wäre. Die Angaben des Zeugen zu dem behaupteten Vorfall betreffend den Onkel erweisen sich auch als nicht überzeugend. Trotz der Behauptung, persönliche Erlebnisse geschildert zu haben, blieben seine Darstellungen inhaltlich vage und oberflächlich. Auf weitergehendes Nachfragen reagierte der Zeuge ausweichend und erklärte, er sei zum damaligen Zeitpunkt noch zu jung gewesen, um sich genauer erinnern zu können. Auffällig ist zudem, dass der Zeuge zunächst angab, die Entführung seines Onkels persönlich miterlebt zu haben, im weiteren Verlauf seiner Aussage jedoch lediglich davon sprach, die Leiche des Onkels gesehen zu haben. Diese widersprüchlichen und unkonkreten Angaben mindern die Glaubhaftigkeit seiner Aussage erheblich.
Den zweiten Zeugen XXXX , beschrieb der Beschwerdeführer als seinen Cousin, der ebenso wie er selbst „gesucht“ worden sei, jedoch nicht aufgegriffen worden wäre. Der Zeuge führte aus, über keine eigenen Wahrnehmungen in Bezug auf die behaupteten Vorfälle zu verfügen. Nach seinen Angaben habe er sämtliche Informationen vom Beschwerdeführer sowie von dessen Geschwistern über Telefonate erhalten. Seine Schilderungen beschränkten sich dementsprechend auf eine knappe und aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes nacherzählende Wiedergabe des vom Beschwerdeführer bereits berichteten Geschehens. Er gab an, der Beschwerdeführer sei aufgrund seines Onkels von der HTS verfolgt und inhaftiert worden und sei in weiterer Folge zunächst in die Türkei und sodann nach Österreich gelangt.
Zum Onkel des Beschwerdeführers führte der Zeuge aus, dieser sei als Angehöriger der FSA festgenommen und später „als Leiche freigelassen“ worden. Danach seien „andere Familienmitglieder“ verfolgt worden. Auffällig war jedoch, dass der Zeuge ausschließlich von anderen Familienangehörigen sprach, ohne jemals zu behaupten, selbst von Verfolgungsmaßnahmen betroffen gewesen zu sein, wie es hingegen der Beschwerdeführer vorbrachte. Wäre der Zeuge tatsächlich selbst Opfer oder Ziel von Verfolgungsmaßnahmen geworden, wäre zu erwarten gewesen, dass er dies ausdrücklich erwähnt und dass er sehr wohl über eigene Wahrnehmungen verfügt und nicht nur über Informationen vom Hörensagen.
Das Gericht misst der Aussage des zweiten Zeugen daher nur einen geringen Beweiswert bei. Sie beruht nicht auf eigenen Wahrnehmungen und erscheint zudem inhaltlich nicht glaubwürdig, da der Zeuge weder konkrete Umstände eigener Betroffenheit schilderte, noch die Angaben des Beschwerdeführers substantiell zu bestätigen vermochte.
Beim dritten Zeuge XXXX , handelte es sich ebenso um einen Cousin väterlicherseits. Der Beschwerdeführer gab zu diesem Zeugen an: „Wir hatten Probleme mit der Al Nusra Front, weil wir der Familie XXXX angehören.“ Überraschenderweise gab aber auch dieser Zeuge im Zuge seiner Befragung zu keiner Zeit an, selbst von dahingehenden Schwierigkeiten betroffen gewesen zu sein. Der Zeuge verwies lediglich auf „Familienmitglieder“ von XXXX bzw. auf „junge Männer“, die XXXX nahestehen, und auf „junge Männer der Familie XXXX “, erwähnte hingegen mit keinem Wort, selbst betroffen gewesen zu sein. Im Übrigen waren auch die Angaben dieses Zeugen insgesamt vage und oberflächlich. Nach eigenem Bekunden verfügte auch er über keinerlei persönliche Wahrnehmungen und stützte sein Wissen ausschließlich auf Mitteilungen Dritter, somit auf bloßes Hörensagen.
Erstmals brachte dieser Zeuge vor, es habe angebliche „Mitteilungen“ an junge Männer der Familie XXXX gegeben. Eine derartige Behauptung war bis dahin von keiner anderen Person vorgebracht worden. Auf Nachfrage präzisierte der Zeuge, dass es sich dabei nicht um schriftliche Mitteilungen gehandelt habe, sondern dass „Personen“ ausgesandt worden seien, um entsprechende Informationen weiterzugeben bzw. dass man über Beamte informiert worden sei, man solle sich melden. Diese Darstellung blieb jedoch inhaltlich äußerst vage und unkonkret und ließ keinerlei nachvollziehbare Einzelheiten erkennen. Die Darstellung ist auch mit keinem Vorbringen anderer Verfahrensbeteiligter in Einklang zu bringen.
Das Bundesverwaltungsgericht erachtet ob des gewonnen Eindrucks diesen Teil der Aussage daher als nicht glaubhaft und misst ihm mangels persönlicher Erlebnisse und wegen der offenkundigen Unbestimmtheit der Angaben keinen maßgeblichen Beweiswert bei.
Schließlich erwähnte der Zeuge, dass XXXX in den Jahren 2018 bis 2021 Probleme mit der HTS gehabt hätte. Die angegebenen Daten stimmen jedoch mit den Aussagen des Beschwerdeführers überhaupt nicht überein. Den Ausführungen des Beschwerdeführers zufolge wäre sein Onkel bereits 2017/2018 getötet worden. Die Angaben des Beschwerdeführers sowie des Zeugen sind daher auch in einem zentralen Punkt in sich widersprüchlich, was den Gesamteindruck untermauert, dass das Vorbringen insgesamt konstruiert ist.
Das Bundesverwaltungsgericht misst den Zeugenaussagen der vom Beschwerdeführer aufgebotenen Zeugen in einer Gesamtwürdigung nicht das Gewicht zu, dass aufgrund der Zeugenaussagen trotz gesteigerten und widersprüchlichen Vorbringens des Beschwerdeführers selbst doch von einem glaubhaften Sachverhalt auszugehen wäre. Vielmehr stimmen auch die Schilderungen der Zeugen in wesentlichen Punkten nicht mit den Angaben des Beschwerdeführers überein, sie erweisen sich außerdem durchgehend als wenig substantiiert. Die Zeugen verfügten nach eigenem Bekunden weitestgehend über keine persönlichen Wahrnehmungen, sondern gaben lediglich Gehörtes wieder. Bei diesen nacherzählenden Darstellungen entstand der Eindruck, dass bloß allgemeine, vom Beschwerdeführer übernommene Inhalte wiedergegeben wurden, ohne dass eigene Erlebnisse oder konkrete Kenntnisse erkennbar wären. Ein tatsächlich gegebener Sachverhalt wird damit nicht glaubhaft gemacht und schon gar nicht erwiesen.
Schließlich legte der Beschwerdeführer im Verfahren einen Internetlink zu einem Video vor, welches nach seiner Darstellung den Wahrheitsgehalt seines Vorbringens untermauern soll. Das Gericht hat dieses Beweismittel eingehend geprüft, sah darin jedoch keine taugliche Bestätigung des vom Beschwerdeführer vorgebrachten Sachverhalts. Das Video wirkt in seiner Gesamtheit zusammengeschnitten und wenig authentisch. Zwar sind darin verschiedene Personen zu sehen, die über bestimmte Ereignisse berichten, jedoch werden die für die Beurteilung des vorliegenden Falles maßgeblichen Aussagen nicht von den gefilmten Personen selbst wiedergegeben, sondern lediglich in Form von eingeblendeten Textpassagen dargestellt. Diese Gestaltung erschwert eine Überprüfung der tatsächlichen Herkunft und Authentizität der gezeigten Inhalte erheblich.
Zudem wird gegen Ende des Videos ein Screenshot eines Facebook-Posts eingeblendet, der mit dem Datum 01.01.2014 versehen ist. Dieses Datum steht in einem erkennbaren Widerspruch zu den vom Beschwerdeführer geschilderten zeitlichen Abläufen und spricht gegen die Plausibilität des Videos als Beweismittel. Schließlich wird in einer weiteren Szene eine Gruppe von Personen gezeigt, wobei ein Mann von einem Blatt Papier abliest und XXXX als „Anführer der Brigade Sturm der Entschlossenheit und Anführer des Sektors Al-Brej in Aleppo“ bezeichnet. Auch dieser Umstand steht im Widerspruch zu den Angaben des Beschwerdeführers, wonach sein Onkel Mitglied einer Gruppierung namens „Division 101-Infanterie“ gewesen sei.
Insgesamt erweist sich das vorgelegte Video daher als inhaltlich widersprüchlich, in seiner Zusammensetzung nicht nachvollziehbar und in wesentlichen Teilen nicht überprüfbar. Das Gericht misst diesem Beweismittel daher keinen entscheidungsrelevanten Beweiswert bei. Es mag zutreffen, dass in diesem Video das Schicksal eines Mannes mit dem Namen XXXX in Syrien zu einem nicht bestimmten Zeitpunkt geschildert wird. Dass es sich dabei um einen nahen Verwandten des Beschwerdeführers handelt und aufgrund des Schicksals dieser Person ein gesamter Stamm bzw. eine Großfamilie von Verfolgung bedroht sei, wird mit der Videoaufnahme jedenfalls nicht glaubhaft gemacht.
2.6.5. Auch die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Bruder XXXX waren nicht überzeugend. Vor dem Bundesamt gab der Beschwerdeführer an, sein jüngerer Bruder habe einen Motorradunfall erlitten, infolgedessen er „sehr viele Metallteile im Gesicht“ trage. Zudem befände sich sein Bruder in Haft, da er des Drogenkonsums beschuldigt werde. Erst in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht behauptete der Beschwerdeführer, sein Vorbringen auch in dieser Hinsicht steigernd, sein Bruder sei zudem aufgrund seiner engen Verbindung zum Cousin, der als Führer einer Miliz gegen die Al-Nusra-Front tätig gewesen sei, inhaftiert worden. In diesem Zusammenhang legte der Beschwerdeführer ein Lichtbild vor, das den gefolterten Bruder zeigen sollte.
Dieses Beweismittel überzeugt jedoch nicht: Zum einen bestehen inkonsistente Angaben des Beschwerdeführers, da er zunächst lediglich die Haft wegen Drogenkonsums angab und erst später die politische Verbindung erwähnte. Zum anderen lassen sich die auf dem Lichtbild sichtbaren Gesichtsverletzungen ebenfalls plausibel auf den zuvor geschilderten Motorradunfall zurückführen, insbesondere im Hinblick auf die zuvor genannten „Metallteile im Gesicht“. Darüber hinaus ist das Vorbringen in zeitlicher Hinsicht inkonsistent. Der Beschwerdeführer schilderte – wie erwähnt – schon bei seiner Einvernahme vor dem Bundesamt am 13.06.2023, dass sich sein Bruder „seit ca. 4 Monaten im Gefängnis“ befinde (AS 261). Anlässlich der mündlichen Verhandlung am 19.05.2025 brachte er vor, dass sein Bruder „seit Dezember, seit der letzten Verhandlung“ inhaftiert sei. Die erste Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht fand am 29.01.2024 statt. An eben diesem Tag schilderte der Beschwerdeführer, dass sein Bruder „vor sechs Monaten“ verhaftet worden sei. Die Festnahme wurde somit auf unterschiedliche Zeitpunkte – Februar 2023, August 2023 bzw. „seit Dezember, seit der letzten Verhandlung“ verortet, was nicht auf eine wahrheitsgemäße Schilderung hinweist.
In der Gesamtbetrachtung sind die Schilderungen des Beschwerdeführers hinsichtlich der Probleme seiner Familie durch die Al Nusra Front und seiner angeblichen Inhaftierung derart inkonsistent, dass sie nicht als verlässliche Grundlage für gerichtliche Feststellungen herangezogen werden können. Der Beschwerdeführer war nicht in der Lage, die für das Verfahren maßgeblichen Ereignisse in sich schlüssig und glaubwürdig darzustellen. Neben den bereits aufgezeigten Widersprüchen fällt insbesondere ins Gewicht, dass der Beschwerdeführer im gesamten erstinstanzlichen Verfahren die nunmehr behaupteten Probleme seiner Familie mit keinem Wort erwähnt hat. Dieses nachträgliche Vorbringen stellt wie erwähnt eine erhebliche Beeinträchtigung der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers dar.
Auf den diesbezüglichen Vorhalt vermochte der Beschwerdeführer keine nachvollziehbare Erklärung zu geben. Er versuchte, die unterlassene Nennung dieser angeblich zentralen Ereignisse zuletzt am 01.10.2025 mit seiner psychischen Erkrankung zu rechtfertigen. Aus den vorgelegten Entlassungsberichten ergibt sich jedoch, dass er jeweils in stabilem Zustand entlassen wurde, sodass der behauptete stationäre Aufenthalt einen Monat vor der Einvernahme vor dem Bundesamt keine hinreichende Erklärung für die gravierende Steigerung des Vorbringens darstellt. Abseits davon verwies der Beschwerdeführer zuletzt darauf, der Dolmetscher habe ihm bei der Einvernahme vor dem Bundesamt erklärt, er werde ohnehin den Asylstatus erhalten. Dieses Vorbringen erscheint jedoch nicht nachvollziehbar, da es nicht ersichtlich ist, weshalb ein Dolmetscher, dessen Aufgabe ausschließlich in der Übersetzung liegt, eine derartige rechtliche Einschätzung abgeben sollte. Auch erwähnte der Beschwerdeführer angebliche Hektik und Stress im Zuge der Einvernahme, obwohl die Einvernahme vor dem Bundesamt zwei Stunden dauerte.
Am 29.01.2024 erwähnte der Beschwerdeführer noch, dass er vom Dolmetscher dazu angehalten worden sei, nur mit „Ja“ oder „Nein“ zu antworten. Dies trifft im Kontext der Niederschrift des Bundesamt auf einige Fragen zu, erklärt aber in keinster Weise, weshalb der Beschwerdeführer auf die ausdrückliche Nachfrage nach weitere Fluchtgründen (AS 261) diese nicht einmal mit einem Satz in den Raum stellte.
Auch in seiner Beschwerde erwähnte der Beschwerdeführer die nun behaupteten Vorfälle im Zusammenhang mit seinem Onkel nicht. Auf diesbezüglichen Vorhalt führte er lediglich aus, er habe seine rechtliche Vertretung ersucht, diese neuen Details anzuführen, konnte jedoch nicht schlüssig darlegen, weshalb diese Vorfälle in der Beschwerde tatsächlich unberücksichtigt geblieben waren. Seine dahingehenden Ausführungen in der mündlichen Verhandlung, wonach ihm von seiner rechtsfreundlichen Vertretung von Neuerungen abgeraten wurde, hinterließen beim Bundesverwaltungsgericht vielmehr den Eindruck des Versuchs, der rechtsfreundlichen Vertretung die Verantwortlichkeit für die Unterlassung eines allenfalls gebotenen Vorbringens in der Beschwerde anzulasten.
Das Gericht gelangt daher insgesamt zu der Auffassung, dass der Beschwerdeführer die Umstände seiner angeblichen Verfolgung nicht konsistent darstellt. Die Aussagen des Beschwerdeführers sind vor dem Hintergrund der festgestellten Widersprüche, der nachträglich vorgebrachten neuen Behauptungen sowie der unplausiblen Erklärungsversuche nicht geeignet, seine Verfolgungsgeschichte glaubhaft zu machen. Das Bundesverwaltungsgericht geht somit in gesamtheitlicher Würdigung sämtlicher Beweisergebnisse davon aus, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise keiner Verfolgung seitens Al-Nusra-Front ausgesetzt war, geschweige denn wurde er festgenommen, inhaftiert oder misshandelt. Wegen der Vielzahl an Widersprüchlichkeiten und der mangelnden Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers ist das Bundesverwaltungsgericht überzeugt, dass er auch im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat in Zusammenhang mit seiner Familienzugehörigkeit keiner mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung, psychischen und/oder physischen Gewalt oder Strafverfolgung ausgesetzt wäre. Selbst bei Zugrundelegung des vom Beschwerdeführer geschilderten Geschehens erscheint dessen Darstellung in wesentlichen Punkten nicht schlüssig. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb die vom Beschwerdeführer genannte Gruppierung ihn zunächst gegen Zahlung einer hohen Geldsumme freigelassen haben soll, um ihn anschließend erneut zu verfolgen oder festzunehmen. Ein derartiges Verhalten wäre mit der behaupteten Motivation und den eigenen wirtschaftlichen Interessen einer solchen Gruppierung nicht vereinbar und entbehrt daher jeder nachvollziehbaren Logik.
2.6.6. Zur angeblichen Verfolgung wegen seiner Herkunft
In der Beschwerdeschrift brachte der Beschwerdeführer vor, ihm werde aufgrund seiner Herkunft aus XXXX eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt. Konkrete, nachvollziehbare Ereignisse oder begründete Befürchtungen, die eine solche Behauptung stützen könnten, wurden jedoch weder in der Beschwerdeschrift noch im Rahmen der Einvernahmen vor dem Bundesverwaltungsgericht dargelegt. Vielmehr gab der Beschwerdeführer nur vage und oberflächlich an, man könne sich in XXXX nicht frei bewegen und Menschen würden willkürlich getötet oder entführt. Aus diesen allgemeinen Darstellungen ergibt sich jedoch keine gegen den Beschwerdeführer konkret gerichtete Verfolgung, die einen Asylgrund begründen könnte. Es handelt sich um ein pauschales und unsubstanziiertes Vorbringen, das weder auf realen Erlebnissen noch auf nachvollziehbaren individuellen Verfolgungsgründen beruht.
Mangels entsprechender Konkretisierung war auf dieses Vorbringen nicht weiter einzugehen. Auch den einschlägigen Länderinformationen lassen sich keine Hinweise entnehmen, wonach Personen aufgrund ihrer Herkunft aus der Region des Beschwerdeführers einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wären.
Im Übrigen ist festzuhalten, dass das Assad-Regime mittlerweile durch die HTS abgelöst wurde. Diese Gruppierung hatte bereits zuvor die Kontrolle über das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers inne und übt nunmehr in weiten Teilen Syriens die tatsächliche Herrschaftsgewalt aus. Vor diesem Hintergrund besteht derzeit kein Anhaltspunkt dafür, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Herkunft oder einer ihm bloß unterstellten politischen Gesinnung eine asylrelevante Verfolgung drohen würde.
2.6.7. Zum Fluchtgrund der psychischen Erkrankung
Der Beschwerdeführer führte als weiteren Fluchtgrund an, er erwarte in Österreich eine adäquatere Behandlung seiner psychischen Erkrankung. Das Bundesverwaltungsgericht weist jedoch darauf hin, dass die bloße Erwartung oder Hoffnung auf eine bessere medizinische Versorgung im Ausland keinen Asylgrund im Sinne des § 3 AsylG bzw. der Genfer Flüchtlingskonvention darstellt. Eine Erkrankung allein begründet keinen Anspruch auf internationalen Schutz.
Zudem ist der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers, ausweislich der im Verfahren durchgeführten Beweiswürdigung, als stabil einzustufen. Die stationären Aufenthalte des Beschwerdeführers liegen bereits viele Monate zurück. Er nimmt Beruhigungsmittel lediglich bei wiederkehrenden Spannungszuständen ein, wobei ein solcher Bedarf – nach den Angaben des Beschwerdeführers selbst – seit geraumer Zeit nicht mehr bestanden hätte.
Angesichts des aktuell stabilen Zustandes, bei dem etwaige Symptome wirksam durch Medikation behandelt werden können, fehlt es an einer individuellen, aktuellen Betroffenheit, die einen Asylgrund begründen könnte.
2.6.8. Zur behaupteten Verfolgung wegen der illegalen Ausreise und Asylantragstellung in Europa
Aus den getroffenen Feststellungen zur Lage in Syrien seit dem Sturz des Assad-Regimes ergibt sich nicht, dass ein Rückkehrer, der unrechtmäßig ausgereist ist und der im Ausland einen Asylantrag gestellt hat, per se einer besonderen Gefahr in Syrien ausgesetzt wäre. Zudem ist die Antragstellung den Behörden in Syrien nicht bekannt, Datenübermittlungen an den Herkunftsstaat des Asylwerbers sind unzulässig. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich wie auch vor der Ausreise in Syrien nicht (exil-)politisch oder in andere Weise exponiert und es besteht in einer Gesamtbetrachtung kein Grund zur Annahme, dass seine unrechtmäßige Ausreise aus Syrien sowie sein Aufenthalt in Europa den Behörden in Syrien überhaupt bekannt sind. Darüber hinaus ergaben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat vor der Ausreise in den Fokus der syrischen Behörden gerückt sein könnte. Er führte keine exponierten politischen Aktivitäten oder allfällige Schwierigkeiten mit der Polizei, Gerichten oder den syrischen Behörden an. Ein im Rückkehrfall drohender Eingriff in das Leben oder die psychische und/oder physische Unversehrtheit des Beschwerdeführers allein aufgrund seiner Ausreise und der Asylantragstellung im Ausland ist folglich nicht zu erwarten.
Insgesamt ist es dem Beschwerdeführer somit nicht gelungen, einen asylrelevanten Fluchtgrund in glaubhafter Weise darzulegen. Auf Grundlage des durchgeführten Beweisverfahrens ergibt sich vielmehr der Eindruck, dass die Flucht primär durch den Krieg und die allgemeine unsichere Lage motiviert war.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten:
3.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention), droht.
§ 2 Abs. 1 Z. 11 AsylG 2005 umschreibt Verfolgung als jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011, worunter – unter anderem – Handlungen fallen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist.
Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Eine Verfolgungsgefahr ist anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht.
3.2. Die im Verfahren behauptete Furcht des Beschwerdeführers, in Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt zu werden, ist nicht begründet. Das Bundesverwaltungsgericht gelangte aus den oben im Rahmen der Beweiswürdigung ausführlich erörterten Gründen zur Überzeugung, dass der Beschwerdeführer keiner individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure im Herkunftsstaat ausgesetzt war und er im Fall der Rückkehr dorthin auch keiner mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt wäre.
Die (bloße) Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung stellt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Allgemeinen keine asylrechtlich relevante Verfolgung dar, sondern könnte nur das Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen (VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108). Wie der Verwaltungsgerichtshof zur möglichen Asylrelevanz von Wehrdienstverweigerung näher ausgeführt hat, kann auch der Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen – wie etwa der Anwendung von Folter – jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen kann auch eine bloße Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein (statt aller VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001 mwN).
Der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge vertrat in seinen Erwägungen vom März 2021 zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, die Auffassung, dass Personen, die sich dem Pflichtwehrdienst oder dem Reservewehrdienst aus Gewissensgründen entzogen haben („conscientious objection“), wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, je nach den Umständen des Einzelfalls auf der Grundlage einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder ihrer Religion. Angesichts der Berichte über schwere Verstöße der Regierungstruppen des ehemaligen syrischen Regimes gegen internationale Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht und das Völkerstrafrecht in Verbindung mit dem Umstand, dass individuelle Rekruten und Reservisten grundsätzlich keinen Einfluss auf ihre Funktion innerhalb der Streitkräfte (einschließlich des Gebiets, in dem sie eingesetzt werden, und der Art der Aufgaben, die ihnen zugewiesen werden) nehmen konnten, war der UNHCR der Auffassung, dass bei einer Einberufung zu den Streitkräften die Wahrscheinlichkeit bestand, an Aktivitäten teilnehmen zu müssen, die Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, das Völkerstrafrecht und/oder internationale Menschenrechte darstellen. Entsprechend meinte der UNHCR – bezogen auf die Lage in Syrien vor dem Sturz des Assad-Regimes - dass Personen, die sich dem Pflichtwehrdienst oder dem Reservewehrdienst entzogen haben, da sie mit den Mitteln und Methoden der Kriegsführung der Regierungstruppen nicht einverstanden waren, wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen würden, je nach den Umständen des Einzelfalls auf der Grundlage einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder ihrer Religion.
Die EUAA definiert nun in ihrem Country Guidance vom Juni 2025 auf Grund der veränderten Lage seit dem Sturz des Assad-Regimes aktualisierte länderspezifische Analysen und Leitlinien. Sie werden von der EUAA gemeinsam mit einem Netzwerk hochrangiger politischer Vertreter aus EU-Ländern entwickelt und stellen deren gemeinsame Einschätzung der Situation in den wichtigsten Herkunftsländern dar, in Übereinstimmung mit der geltenden EU-Gesetzgebung und der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH). Auch die Europäische Kommission und der UNHCR leisten wertvolle Beiträge zu diesem Prozess. Aus Sicht der EUAA dürften die veränderten Umstände in Syrien die von einigen Antragstellern geltend gemachte Angst vor oder das Risiko einer Verfolgung oder eines schweren Schadens durch das ehemalige Regime deutlich verringert haben. Allerdings sollten nicht alle Anträge, die vor dem Sturz des ehemaligen Regimes gestellt wurden, als gegenstandslos betrachtet werden, insbesondere in Fällen, in denen zusätzliche oder andere Akteure der Verfolgung oder des schweren Schadens beteiligt waren. In solchen Fällen könnte das Risiko von Verfolgung oder schwerem Schaden fortbestehen, sich verringert oder erhöht haben. Darüber hinaus könnte die Situation im Syrien nach Assad zu neuen oder erneuten Risiken der Verfolgung oder ernsthaften Schädigung führen.
Die Leitlinien der EUAA definieren häufig vorkommende Profile von Antragstellern auf internationalen Schutz, die wahrscheinlich nicht für den Flüchtlingsstatus in Frage kommen:
(Ehemalige) Mitglieder bewaffneter Anti-Assad-Gruppen, die nun in das neue syrische Militär integriert sind
Wehrdienstverweigerer
Deserteure und Überläufer der syrischen Streitkräfte des Assad-Regimes
Hingegen haben folgende Personen mit hoher Wahrscheinlichkeit Anspruch auf Flüchtlingsstatus:
Journalisten, andere Medienschaffende und Menschenrechtsaktivisten, die von den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF), der Syrischen Nationalarmee (SNA) und/oder dem Islamischen Staat im Irak und der Levante (ISIL) als kritisch angesehen werden, in den Gebieten, in denen diese Gruppen operativ tätig sind.
Personen mit mutmaßlichen Verbindungen zum ISIL und deren Familienangehörige
Kurden aus Gebieten unter der Kontrolle der SNA
Mitglieder und Personen, die mutmaßlich mit den SDF/YPG kollaborieren, in Gebieten, in denen die SNA operiert
Personen mit unterschiedlichen SOGIESC-Identitäten (auch LGBTIQ-Personen genannt)
Das Kapitel zum Flüchtlingsstatus unterscheidet zudem zwischen drei Kategorien von Profilen:
Profile, bei denen das Assad-Regime als alleiniger Verfolger angesehen wurde
Profile, bei denen das Risiko einer Verfolgung durch mehrere Akteure (einschließlich des Assad-Regimes) besteht
Profile, bei denen das Risiko einer Verfolgung durch andere Akteure als das Assad-Regime besteht (bei denen das Assad-Regime nicht als Verfolger angesehen wurde)
Angesichts der sich entwickelnden politischen Lage in Syrien können bestimmte Elemente für die Beurteilung des Bedarfs an internationalem Schutz besonders relevant sein und sollten daher berücksichtigt werden. Beispielsweise sollten die politische Meinung des Antragstellers sowie jegliches Verhalten, das als Verstoß gegen islamische Normen oder Gesetze wahrgenommen wird, gebührend berücksichtigt werden.
In diesem Fall fällt der Beschwerdeführer nicht unter ein von der EUAA definiertes Profil von Antragstellern auf internationalen Schutz, die wahrscheinlich Anspruch auf Flüchtlingsstatus hätten.
Es ist der Abschnitt relevant, der sich mit der Situation von Personen befasst, bei denen das Risiko einer Verfolgung durch mehrere Akteure (einschließlich des Assad-Regimes) behauptet wird. In diesem Kapitel werden unterschiedliche Profile beschrieben, wie Journalisten, andere Medienschaffende und Menschenrechtsaktivisten, Ärzte, anderes medizinisches Personal und freiwillige Helfer des Zivilschutzes, Personen mit vermeintlichen Verbindungen zum IS, Sunnitische Araber und Kurden. Bezogen auf den Beschwerdeführer wäre nur das Kapitel über sunnitische Araber relevant. Sunnitische Araber waren durch das Assad-Regime, den Islamischen Staat im Irak und der Levante (ISIL) und Dschaisch al-Islam Verfolgung (z. B. Verhaftung, Folter, Hinrichtung) und Diskriminierung ausgesetzt. Wie bereits erwähnt, ist die vom Assad-Regime ausgehende Gefahr gebannt. ISIL und Dschaisch al-Islam sind weiterhin präsent und aktiv, und es liegen keine Informationen vor, die darauf hindeuten, dass sich ihr Vorgehen gegenüber sunnitischen Arabern, die sich nicht an ihre Auslegung der Scharia halten, geändert hat. Während HTS auch sunnitische Muslime ins Visier nahm, die sich nicht an ihre Auslegung der Scharia hielten, wurden die meisten hochrangigen Positionen der Übergangsregierung mit sunnitischen Arabern besetzt, und es gibt zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts keine konkreten Informationen über die Behandlung sunnitischer Muslime durch die Übergangsregierung, die sich nicht an dieselbe Auslegung der Scharia halten. Es gibt auch keine Berichte über gezielte Angriffe irgendeines Akteurs auf sunnitische Araber, allein aufgrund der Tatsache, dass sie sunnitische Araber sind. Die bloße Tatsache, ein sunnitischer Araber zu sein, begründet nicht automatisch das erforderliche Risiko, um eine begründete Furcht vor Verfolgung zu begründen. Sollte ein sunnitischer Araber ins Visier genommen werden, hängt dies mit anderen Umständen zusammen. Beispielsweise haben der Islamische Staat im Irak und der Levante (ISIL) und Dschaisch al-Islam (eine mit der SNA verbundene bewaffnete Gruppe) Sunniten ins Visier genommen, die sich nicht an ihre Auslegung der Scharia halten. Bei der individuellen Beurteilung sollten risikobeeinflussende Umstände berücksichtigt werden, wie z. B. regionale Besonderheiten (z. B. das Leben in Gebieten, in denen ISL und Dschaisch al-Islam operativ tätig sind). Wird für einen Antragsteller mit diesem Profil eine begründete Furcht vor Verfolgung nachgewiesen, kann dies auf religiöse Gründe zurückzuführen sein.
Wie in den Feststellungen und in der Beweiswürdigung dargelegt haben sich keine Hinweise auf eine Verfolgung des Beschwerdeführers auf Grund seiner sunnitischen Identität ergeben. Weder impliziert die Herkunftsregion des Beschwerdeführers ein solches Risiko, noch wurden dahingehende Umstände vom Beschwerdeführer selbst vorgebracht.
Wie bereits unter Punkt 2.6.1. beweiswürdigend dargelegt, begründet auch das vom Beschwerdeführer glaubhaft vermittelte Ausreisemotiv der prekären und volatilen Sicherheitslage keinen Konnex zu einem Verfolgungsgrund der Genfer Flüchtlingskonvention, da solche Notsituationen wie bürgerkriegsähnliche Zustände und Kriege mit Nachbarstaaten ein allgemeines Risiko für alle Bewohnerinnen und Bewohner eines Landes darstellen und nicht als individuelle Verfolgung gelten (statt aller VwGH 19.08.2022, Ra 2022/20/0043 mwN).
Bezüglich des vorgebrachten Fluchtmotivs in Zusammenhang mit dem Pflichtwehrdienst in Syrien wurde bereits unter Punkt 2.6.2. ausführlich erörtert, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr nach Syrien in seine Herkunftsregion nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer (Zwangs-)Rekrutierung unterliegt.
Die Syrisch-Arabische Armee wurde vom ehemaligen Präsidenten al-Assad noch vor seiner Flucht am 08.12.2024 per Befehl aufgelöst und unter der Herrschaft des neuen Übergangspräsidenten ash-Shara ist nicht die Etablierung einer Wehrpflicht, sondern vielmehr die Gründung einer sogenannten „Freiwilligen-Armee“ beabsichtigt. Seither gab es auch keine Zwangsrekrutierungen mehr. Dem Beschwerdeführer droht somit nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Einziehung zum Wehrdienst und auch keiner damit zusammenhängenden Bestrafung durch die syrische Übergangsregierung im Fall der Entziehung vom bzw. Verweigerung des Militärdienstes, sodass sich das Risiko einer unverhältnismäßigen Bestrafung nicht manifestieren wird.
Wie im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt, droht dem Beschwerdeführer auch keine individuelle Verfolgung wegen sonstiger Akteure oder wegen der illegalen Ausreise. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits ausgeführt, dass sich nach der Berichtslage kein Automatismus dahingehend als gegeben annehmen lasse, dass jedem ins Ausland gereisten Syrer, der seinen Wehrdienst nicht abgeleistet hat, im Herkunftsstaat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt und deswegen eine unverhältnismäßige Bestrafung drohen würde (VwGH 08.11.2023, Ra 2023/20/0520; in diesem Sinn auch VwGH 21.12.2023, Ra 2023/20/0173).
3.3. Eine Verfolgung des Beschwerdeführers im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK liegt somit nicht vor und es ist dem Beschwerdeführer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Beschwerde ist daher abzuweisen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Darüber hinaus ist das Schwergewicht im vorliegenden Fall im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln. Die in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall vorzunehmende Beweiswürdigung ist nicht revisibel (statt aller VwGH 30.08.2018, Ra 2018/21/0149 mwN).
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