JudikaturVwGH

Ra 2023/21/0074 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
10. Juli 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler sowie die Hofrätinnen Dr. Wiesinger und Dr. in Oswald, als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des M A, vertreten durch Mag. Dr. Anton Karner, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Steyrergasse 103/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. April 2023, L508 2202437 2/8E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines befristeten Einreiseverbots (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der 1987 geborene libanesische Revisionswerber reiste im Jahr 2016 gemeinsam mit seiner (bereits zum Zeitpunkt der Einreise) geschiedenen Ehefrau und ihren zwei gemeinsamen minderjährigen (2011 und 2014 geborenen) Kindern in das Bundesgebiet ein. Der Revisionswerber, seine geschiedene Ehefrau und seine Kinder stellten alle am 13. Mai 2016 sowie am 10. Juli 2017 für einen in Österreich nachgeborenen Sohn erstmals Anträge auf internationalen Schutz. Diese wurden im Beschwerdeweg mit dem rechtskräftigen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 28. August 2020 zur Gänze abgewiesen und jeweils Rückkehrentscheidungen samt Nebenaussprüchen gegen den Revisionswerber, seine geschiedene Ehefrau und die gemeinsamen Kinder erlassen.

2Der Revisionswerber war zuvor zwei Mal rechtskräftig vom Landesgericht für Strafsachen Graz verurteilt worden; und zwar zunächst mit Urteil vom 1. August 2018 wegen falscher Beweisaussage gemäß § 288 Abs. 1 und 4 StGB sowie wegen Verleumdung gemäß § 297 Abs. 1 zweiter Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten. Mit dem weiteren Urteil vom 29. Oktober 2019 war der Revisionswerber wegen gefährlicher Drohung gemäß § 107 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von fünf Monaten verurteilt worden. Er hatte sich von 8. Jänner 2020 bis 17. April 2020 in Strafhaft befunden.

3 Am 11. Mai 2022 stellte der Revisionswerber neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, dass er nunmehr mit einer in Österreich asylberechtigten syrischen Staatsangehörigen eine Lebensgemeinschaft führe und seine Lebensgefährtin von ihm schwanger sei.

4Mit Bescheid vom 27. Dezember 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Folgeantrag auf internationalen Schutz des Revisionswerbers gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkte I. und II.). Unter einem sprach es aus, dass dem Revisionswerber (von Amts wegen) kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005 erteilt werde (Spruchpunkt III.); es erließ gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFAVG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in den Libanon zulässig sei (Spruchpunkt V.). Mit Bezug auf die Verurteilungen des Revisionswerbers verhängte das BFA gegen ihn außerdem gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein fünfjähriges Einreiseverbot (Spruchpunkt VI.). Eine Frist für eine freiwillige Ausreise wurde nicht eingeräumt (Spruchpunkt VII.).

5 Die ausschließlich gegen die Spruchpunkte IV. bis VII. gerichtete Beschwerde des Revisionswerbers wurde mit dem angefochtenem Erkenntnis des BVwG vom 12. April 2023 ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlungals unbegründet abgewiesen. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

6Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen hat:

7Die Revision erweist sich entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig und berechtigt, weil das BVwG wie in der Revision im Ergebnis zutreffend aufgezeigt wird von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist, indem es von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat.

8 Bei der für die Rückkehrentscheidung am Maßstab des § 9 BFA VG vorgenommenen Interessenabwägung hat das BVwG obwohl es von einer geplanten Eheschließung des Revisionswerbers und seiner Lebensgefährtin ausgingseiner Entscheidung maßgeblich zugrunde gelegt, es bestehe keine „ausgeprägte emotionale Nähe“ zwischen dem Revisionswerber und seiner Lebensgefährtin. Über die Erwägungen des BFA hinausgehend hat das BVwG beweiswürdigend auch noch dargelegt, der Revisionswerber habe kein „ausgeprägtes Interesse“ an seinem (ungeborenen) Kind bzw. an einer Beziehung zu diesem Kind nach dessen Geburt. Ein persönlicher Kontakt zu seinem Kind sei durch Besuche möglich, im Übrigen könne der Revisionswerber einen temporären Aufenthalt im Wege der Beantragung einer Wiedereinreise nach § 26a FPG bzw. Art. 25 des EU Visakodex erreichen.

9 Das BVwG begründete das Absehen von einer mündlichen Verhandlung unter Hinweis auf § 21 Abs. 7 BFA VG im Wesentlichen damit, dass das BFA ein umfassendes Ermittlungsverfahren geführt und seine schlüssige Beweiswürdigung, deren tragende Erwägungen das BVwG teile, in gesetzmäßiger Weise offengelegt habe. Zudem habe der Revisionswerber in seiner Beschwerde kein Tatsachenvorbringen erstattet, das zu einem anderen Verfahrensausgang hätte führen können. Daher habe nicht die Notwendigkeit bestanden, den „als geklärt erscheinenden“ Sachverhalt mit dem Revisionswerber zu erörtern.

10Dabei übersieht das BVwG allerdings, dass der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung wiederholt darauf hingewiesen hat, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung kann bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zu Gunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis für ihn zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht einen persönlichen Eindruck von ihm verschafft (vgl. etwa VwGH 15.3.2018, Ra 2017/21/0147, Rn. 13, mwN).

11 Von einem solchen eindeutigen Fall durfte vorliegend schon im Hinblick auf die geplante Eheschließung des Revisionswerbers mit seiner in Österreich asylberechtigten Lebensgefährtin und die nach den Annahmen des BVwG unmittelbar bevorstehende Geburt des gemeinsamen Kindes nicht ausgegangen werden. Um die Art und Intensität der Beziehung zwischen dem Revisionswerber und seiner Lebensgefährtin sowie dem gemeinsamen Kind klären zu können, hätte das BVwG nicht nur die Angaben des Revisionswerbers vor dem BFA (weitgehend zu seinem Nachteil) verwerten dürfen, sondern hätte eine tragfähige Interessenabwägung jedenfalls auch die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vom Revisionswerber im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vorausgesetzt.

12 Des Weiteren hat der Verwaltungsgerichtshof wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass bei der nach § 9 BFA VG vorzunehmenden Interessenabwägung der Aspekt des Kindeswohls „gebührend“ zu berücksichtigen ist. Unter diesem Gesichtspunkt hätte es vor allem auch einer Beurteilung der Auswirkungen der angefochtenen Entscheidung aus der Perspektive des wovon das BVwG ausgingim Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses noch ungeborenen Kindes bedurft (vgl. zur Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem Kindeswohl in Bezug auf ein ungeborenes Kind etwa VwGH 28.11.2023, Ra 2022/22/0043, Rn. 18, mwN). Dabei wären nicht nur die rein existenziellen Bedürfnisse des Kindes in den Blick zu nehmen, sondern auch zu berücksichtigen gewesen, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein Kind grundsätzlich Anspruch auf „verlässliche Kontakte“ zu beiden Elternteilen hat. Wird es durch die Rückkehrentscheidung gegen den Vater gezwungen, ohne diesen aufzuwachsen, so bedarf diese Konsequenz einer besonderen Rechtfertigung, was etwa bei der Begehung von (gravierenden) Straftaten der Fall wäre (vgl. dazu VwGH 5.3.2021, Ra 2020/21/0465, Rn. 10, mwN).

13Dass die Art und Schwere der vom Revisionswerber begangenen Straftaten so gravierend gewesen wären, dass sie die für ihn sprechenden Umstände eindeutig überwiegen könnten, hat das BVwG aber nicht nachvollziehbar dargelegt. Auch in Bezug auf die im Zusammenhang mit dem Kindeswohl vom BVwG ins Treffen geführten Besuchsmöglichkeiten fehlt aber eine Auseinandersetzung mit deren tatsächlich möglicher Häufigkeit, um nachvollziehbar eine Beeinträchtigung des Kindeswohls ausschließen zu können. Ebenso bleiben die Ausführungen des BVwG über eine legale Wiedereinreise nach § 26a FPG bzw. Art. 25 des EUVisakodex mangels konkreter Darlegung, dass hierfür fallbezogen die Voraussetzungen tatsächlich gegeben wären, so vage, dass der Zeitraum, in dem das Kind des Revisionswerbers ohne seinen Vater aufwachsen müsste, nicht absehbar erscheint (vgl. ebenso bereits VwGH 24.10.2024, Ra 2023/21/0118). Hinzu kommt schließlich, dass die vom BVwG getroffene relativierende Beurteilung der familiären Interessen des Revisionswerbers, er zeige kein ausgeprägtes Interesse an seinem Kind bzw. an einer Beziehung zum Kind nach dessen Geburt, sich schon deshalb als nicht tragfähig erweist, weil sie wie dargelegt nicht ohne vorhergehende mündliche Verhandlung und Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vom Revisionswerber hätte erfolgen dürfen.

14Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

15Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 10. Juli 2025