Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed und den Hofrat Mag. Tolar als Richter sowie die Hofrätin Dr. Kronegger als Richterin, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des F J, vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juli 2023, Zl. L504 2250973 1/15E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein Staatenloser palästinensischer Herkunft, stellte am 11. Mai 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Er brachte zusammengefasst vor, aus Gaza zu stammen und beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East UNRWA) registriert zu sein. Er habe Angst vor den Israelis und der Hamas; in Gaza habe aufgrund der Bombardierungen und Raketenangriffe durch die Israelis eine Art Kriegssituation geherrscht. Die Hamas sei an der Macht gewesen und habe Druck auf die Bevölkerung ausgeübt. Der Revisionswerber habe an mehreren Demonstrationen gegen die Hamas teilgenommen und sei deshalb von Polizisten geschlagen und mit der Festnahme bedroht worden. Er habe für die Fatah-Partei gearbeitet, indem er bestimmte Daten für die Krankenversicherung in Gaza erhoben habe. Er sei nie inhaftiert gewesen, habe aber zwei „Ladungen“ erhalten. Unmittelbar nach deren Zustellung sei er geflüchtet.
2Mit Bescheid vom 26. November 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ eine Rückkehrentscheidung gegen ihn, sprach aus, dass seine Abschiebung nach „Israel-Palästinensisches Autonomiegebiet Gaza“ zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.
4Es stellte zusammengefasst fest, der Revisionswerber sei bei UNRWA in Gaza als Flüchtling registriert. Der vom Revisionswerber vorgebrachte Fluchtgrund (Verfolgung und Bedrohung durch die Hamas) sei nicht glaubhaft gemacht worden. Schutz und Beistand von UNRWA seien zum Zeitpunkt der Ausreise gegeben gewesen und seien aktuell aufrecht, er könne die Unterstützung durch UNRWA in Anspruch nehmen. Er falle daher in den Anwendungsbereich des Asylausschlussgrundes von § 6 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005. Auch subsidiärer Schutz sei ihm nicht zu gewähren, weil er keiner dafür erforderlichen Gefahr ausgesetzt wäre und seine existentiellen Grundbedürfnisse im Falle der Rückkehr nach Gaza ausreichend gesichert seien: Er habe ein Studium abgeschlossen, sei gesund und erwerbsfähig, und verfüge insbesondere mit seiner Familie über ein soziales Netzwerk.
5 Das BVwG traf Länderfeststellungen zu Gaza und dem Flüchtlingslager Al Bureij sowie der Lage der dort lebenden Menschen. Insbesondere wurde auch ein Positionspapier des UNHCR zur Rückkehr nach Gaza aus März 2022 der Entscheidung zugrunde gelegt.
6 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der ihre Behandlung mit Beschluss vom 4. Oktober 2023, E 2803/2023 9, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
7 Daraufhin wurde die vorliegende außerordentliche Revision eingebracht, die zur Zulässigkeit und in der Sache u.a. geltend macht, das Erkenntnis des BVwG lasse eine Auseinandersetzung mit beigezogenen Länderberichten vermissen. Aus der Stellungnahme des UNHCR aus März 2022 gehe hervor, dass die Situation im Gazastreifen einen objektiven Grund darstellen könne, der palästinensische Flüchtlinge aus Gaza außerhalb des Tätigkeitsbereiches des UNRWA in den Geltungsbereich von Art. 1 Abschnitt D zweiter Satz GFK bringe und somit zur ipso facto-Asylgewährung führe. Das BVwG habe nicht dargelegt, auf Basis welcher Berichte es zu einer anderen Einschätzung der Lage in Gaza gekommen sei bzw. welche Berichte seiner Ansicht nach die Annahme rechtfertigen würden, dass der Revisionswerber von der von UNHCR beschriebenen Situation nicht betroffen wäre. Die beweiswürdigenden Überlegungen hinsichtlich des Vorbringens des Revisionswerbers zu dessen persönlicher Situation in Gaza würden die gebotene Auseinandersetzung mit den aktuellen Länderberichten, insbesondere der Position des UNHCR, nicht ersetzen und blieben diese nicht vor dem Hintergrund der tatsächlichen Situation in Gaza gewürdigt ohne Begründungswert.
8 Das BFA hat zu dieser Revision im vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Revisionsverfahren keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Die Revision ist zulässig und begründet.
10 Der Revisionswerber war nach den insoweit unbestrittenen Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis bei UNRWA in Gaza als Flüchtling registriert. Er fällt daher in den Anwendungsbereich von Art. 1 Abschnitt D GFK.
11 Asylwerbenden im Sinne des Art. 1 Abschnitt D GFK ist nach der ständigen Rechtsprechung der Höchstgerichte des öffentlichen Rechts, die wiederum auf einschlägige Judikatur des EuGH verweist, ipso facto Asyl zu gewähren, wenn der Beistand von UNRWA nicht länger gewährt wird und keiner der Ausschlussgründe nach Art. 12 Abs. 1 lit. b oder Abs. 2 und 3 Statusrichtlinie vorliegt.
12Der Wegfall des Beistandes von UNRWA erfordert die Prüfung, ob der Wegzug des Asylwerbers durch nicht von ihm zu kontrollierende und von seinem Willen unabhängige Gründe gerechtfertigt ist, die ihn zum Verlassen des Gebietes gezwungen haben und somit daran hindern, den von UNRWA gewährten Beistand zu genießen (vgl. etwa VwGH 5.12.2022, Ra 2022/18/0179).
13 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist den Richtlinien des UNHCR besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung“). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden bzw. das BVwG in Bindung an entsprechende Empfehlungen in den Richtlinien internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) sich mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen in den Richtlinien des UNHCR und der EUAA auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche gegenständlichen Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind (vgl. etwa VwGH 18.4.2023, bis 0220, mwN).
14Für den gegenständlichen Fall ist festzuhalten, dass die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sach und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses (im Juli 2023) zu prüfen ist. Dementsprechend entziehen sich Änderungen der Sachund Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren (vgl. etwa VwGH 19.3.2024, Ra 2022/18/0326, mwN).
15 Es ist daher im Folgenden nicht näher zu erörtern, dass sich die Lage in Gaza seit Beginn des bewaffneten Konflikts im Gefolge des Terroranschlags vom 7. Oktober 2023 drastisch verschlechtert hat und es (in den Worten einer Stellungnahme des UNHCR vom 21. Februar 2024) dort keinen sicheren Ort mehr gebe („There is no safe place in Gaza“).
16 Die Volatilität der Lage in Gaza wäre aber bei ausreichender Beachtung der Länderfeststellungen und der einschlägigen Position des UNHCR zur Rückkehrsituation in Gaza vom März 2022 für das BVwG bereits erkennbar gewesen. So setzte sich das BVwG im gegenständlichen Fall ohne nachvollziehbare Begründung über die eigenen Länderfeststellungen hinweg, denen zufolge sich die Lage im Gazastreifen seit April 2021 gefährlich zugespitzt habe, die Kämpfe zwischen Israel und der Hamas im Mai 2021 zu der schwersten Auseinandersetzung seit dem Gaza-Krieg 2014 eskaliert seien, sich die Situation der Zivilbevölkerung im Gazastreifen aufgrund der gewalttätigen Auseinandersetzungen erneut verschlechtert habe und die Angriffe die Arbeit für Hilfsorganisationen, auf die große Teile der Zivilbevölkerung im Gazastreifen angewiesen seien, erschwert hätten.
17Das angefochtene Erkenntnis weist daher wesentliche Begründungsmängel auf. Es war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
18Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
19Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 13. Dezember 2024