Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed und den Hofrat Dr. Sutter als Richter sowie die Hofrätin Dr. in Sabetzer als Richterin, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des K S, vertreten durch Dr. Johannes Schramm als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Mag. Sonja Scheed, Rechtsanwältin in 1220 Wien, Brachelligasse 16, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. November 2022, L508 2102647 3/5E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein staatenloser Palästinenser aus dem Gazastreifen, beantragte am 23. Juli 2014 internationalen Schutz in Österreich, den er im Wesentlichen damit begründete, von der Hamas unter dem Vorwurf, ein Verräter zu sein, verfolgt zu werden.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diesen Antrag ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit einer Maßgabebestätigung zur Gänze als unbegründet ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung „in die Palästinensischen Autonomiegebiete/Gaza-Streifen“ zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.
3 Es stellte zusammengefasst fest, der Revisionswerber sei bei UNRWA mit dem Status „Non Refugee Child“ registriert und habe vor seiner Flucht Unterstützung von UNRWA in Anspruch genommen. Der von ihm vorgebrachte Fluchtgrund (Verfolgung und Bedrohung durch die Hamas) sei nicht glaubhaft gemacht worden. Es sei auch nicht feststellbar, dass der Revisionswerber bei einer Rückkehr in den Gazastreifen nicht den Beistand der UNRWA vor Ort in Anspruch nehmen könne, wenn er dies wolle. Er falle daher in den Anwendungsbereich des Asylausschlussgrundes von § 6 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005. Auch subsidiärer Schutz sei ihm nicht zu gewähren, weil er keiner dafür erforderlichen Gefahr ausgesetzt wäre.
4 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache u.a. geltend macht, im angefochtenen Erkenntnis seien Länderfeststellungen getroffen worden, denen es an der gebotenen Aktualität fehle. Infolge Heranziehens dieser nicht hinreichend aktuellen Länderfeststellungen sei die Frage, ob eine Rückkehr nach Gaza möglich sei, und UNRWA dem Revisionswerber Schutz oder Beistand bieten könne, unrichtig gelöst worden. Das BVwG hätte feststellen müssen, dass sich die Sicherheitslage in Gaza täglich ändere, dies mit einer Tendenz dazu, für die Bevölkerung dramatisch schlechter zu werden. Wenn das BVwG argumentiere, der Schutz durch UNRWA sei nicht weggefallen und es habe bei dieser Einschätzung auch die Positionen des UNHCR berücksichtigt, sei dies nicht nachvollziehbar. In der UNHCR Position vom März 2022 werde nämlich nach Schilderung der aktuell angespannten Sicherheits und Menschenrechtslage sowie der humanitären Situation im Gazastreifen die Auffassung vertreten, dass die aktuelle Situation in Gaza dafür spreche, palästinensischen Flüchtlingen aus Gaza, die dem Anwendungsbereich des Art. 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) unterfallen, außerhalb dieser Region ipso facto Asyl zu gewähren. Ohne an diese Empfehlung gebunden zu sein, wäre das BVwG gehalten gewesen, sich damit in seinen Erwägungen näher auseinanderzusetzen und darzulegen, weshalb es abweichend von dieser UNHCR-Position eine Schutzgewährung nicht für nötig erachte. Außerdem wäre das BVwG verpflichtet gewesen, die beantragte mündliche Verhandlung durchzuführen.
5 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
6 Der Revision ist zulässig und begründet.
7 Vorauszuschicken ist, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sach und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zu prüfen ist. Dementsprechend entziehen sich Änderungen der Sach und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren (vgl. etwa VwGH 7.6.2022, Ra 2020/18/0439, mwN).
8 Der Revisionswerber hat nach den insoweit unbestrittenen Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis vor seiner Flucht aus Gaza Unterstützungsleistungen von UNRWA tatsächlich in Anspruch genommen und fällt daher in den Anwendungsbereich von Art. 1 Abschnitt D GFK.
9 Asylwerbenden iS dieser Bestimmung ist nach der ständigen Rechtsprechung der Höchstgerichte des öffentlichen Rechts, die wiederum auf einschlägige Judikatur des EuGH verweist, ipso-facto Asyl zu gewähren, wenn der Beistand von UNRWA nicht länger gewährt wird und keiner der Ausschlussgründe nach Art. 12 Abs. 1 lit. b oder Abs. 2 und 3 Statusrichtlinie vorliegt.
10 Der Wegfall des Beistandes von UNRWA erfordert die Prüfung, ob der Wegzug des Asylwerbers durch nicht von ihm zu kontrollierende und von seinem Willen unabhängige Gründe gerechtfertigt ist, die ihn zum Verlassen des Gebietes gezwungen haben und somit daran hindern, den von UNRWA gewährten Beistand zu genießen.
11 Die Frage, ob ein Staatenloser palästinensischer Herkunft imstande ist, den Beistand von UNRWA in Anspruch zu nehmen, hängt auch von seiner konkreten Möglichkeit ab, in das Gebiet, zu dem das Operationsgebiet von UNRWA gehört, einzureisen (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 5.12.2022, Ra 2022/18/0179, mwN; vgl. auch jüngst VwGH 1.2.2024, Ra 2023/18/0286).
12 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist den Richtlinien des UNHCR besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung“). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden bzw. das BVwG in Bindung an entsprechende Empfehlungen in den Richtlinien internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) sich mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen in den Richtlinien des UNHCR und der EUAA auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche gegenständlichen Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind (vgl. etwa VwGH 18.4.2023, Ra 2022/18/0219, mwN).
13 Im gegenständlichen Fall hat sich das BVwG mit diesen rechtlichen Vorgaben insoweit beschäftigt, als es festgestellt hat, der Schutz durch UNRWA sei im gegenständlichen Fall nicht weggefallen. Es führt zwar an, eine Auseinandersetzung mit der „Position des UNHCR on Deportations to Gaza vom Februar“ sei im Sinne der höchstgerichtlichen Rechtsprechung erforderlich (Erkenntnis S. 87), bezieht sich dabei aber erkennbar auf die UNHCR Position vom Februar 2015, die im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses bereits durch eine umfassende neue „UNHCR Position on returns to Gaza“ vom März 2022 ersetzt war und daher keine Aktualität mehr besaß. Schon deshalb fand in der angefochtenen Entscheidung wie die Revision zutreffend geltend macht keine ausreichende Auseinandersetzung mit den einschlägigen Positionen des UNHCR statt, wonach aufgrund der dort beschriebenen Lage Asylwerbern palästinensischer Herkunft, die in den Anwendungsbereich von Art. 1 Abschnitt D GFK fielen und aus Gaza kämen, ipso facto Asyl zuzuerkennen sei.
14 Im Übrigen führt das BVwG aus, nicht zu verkennen, dass sich die Lage in Gaza für die dortige Zivilbevölkerung sehr schwierig darstellen könne und die Sicherheitslage als volatil erweise. Wenn es zugleich trotzdem davon ausgeht, dass UNRWA die Aufgaben (also Schutz oder Beistand zu bieten) im Gazastreifen noch immer ausreichend wahrnehmen könne, setzt es sich ohne nachvollziehbare Begründung über die eigenen Länderfeststellungen hinweg, denen zufolge sich die Lage im Gazastreifen seit April 2021 erneut gefährlich zugespitzt habe, die Kämpfe zwischen Israel und der Hamas im Mai 2021 zu der schwersten Auseinandersetzung seit dem Gaza Krieg 2014 eskaliert seien, sich die Situation der Zivilbevölkerung im Gazastreifen aufgrund der gewalttätigen Auseinandersetzungen erneut verschlechtert habe und die Angriffe die Arbeit für Hilfsorganisationen, auf die große Teile der Zivilbevölkerung im Gazastreifen angewiesen seien, erschwert hätten.
15 Das angefochtene Erkenntnis weist daher wesentliche Begründungsmängel auf und es konnte der Sachverhalt entgegen der Einschätzung des BVwG auch nicht als geklärt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA VG angesehen werden, weshalb von der in der Beschwerde beantragten mündlichen Verhandlung nicht hätte Abstand genommen werden dürfen.
16 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
17 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 19. März 2024