JudikaturVwGH

Ra 2022/18/0219 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
18. April 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin Dr.in Gröger als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision 1. der A T und 2. des E G, beide vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Juli 2022, 1. W169 2197734 1/23E und 2. W169 2248021 1/5E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richtet, zurückgewiesen.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter des Zweitrevisionswerbers. Sie sind äthiopische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Amhara und orthodox christlichen Glaubens. Die Erstrevisionswerberin wuchs in der Region Amhara auf. Der Zweitrevisionswerber wurde in Mödling geboren. Mit dessen Vater ist die Erstrevisionswerberin kirchlich verheiratet; er stammt ebenfalls aus Äthiopien und hat in Österreich internationalen Schutz beantragt.

2 Die Erstrevisionswerberin reiste im September 2016 nach Österreich ein und arbeitete als Au Pair. Am 24. August 2017 stellte sie einen Antrag auf internationalen Schutz und begründete ihn damit, dass ihr Vater Mitglied der Partei „Ginbot 7“ gewesen und verschwunden sei. Sie sei danach von vier Soldaten entführt und eine Woche lang vergewaltigt und geschlagen worden. Die Soldaten würden nach wie vor immer wieder bei ihrer Mutter nach ihrem Verbleib fragen.

3 Am 9. Juli 2021 stellte die Erstrevisionswerberin einen Antrag auf internationalen Schutz für den Zweitrevisionswerber, ohne für ihn eigene Fluchtgründe anzugeben.

4 Mit Bescheiden vom 11. Mai 2018 bzw. 28. September 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge ab, erteilte keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen die revisionswerbenden Parteien Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Äthiopien zulässig sei und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

5 Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig erklärt.

6 Begründend führte das BVwG zusammengefasst aus, das Fluchtvorbringen der Erstrevisionswerberin sei aus näher genannten Gründen nicht glaubhaft. Ihre Aussagen zum Tatzeitpunkt und den Umständen ihrer Flucht sowie die Vorbereitung ihrer Tätigkeit als Au Pair in Österreich seien widersprüchlich.

7 Zur Nichtgewährung von subsidiärem Schutz führte das BVwG aus, der Heimatort der Erstrevisionswerberin liege zwar zu nahe an der Grenze zu Tigray und die Sicherheitslage erscheine zu instabil, um eine Gefährdung des Lebens bzw. der körperlichen Unversehrtheit ausschließen zu können. Die revisionswerbenden Parteien könnten aber gemeinsam mit dem Lebensgefährten der Erstrevisionswerberin in den Wohnort der Schwiegereltern in die Provinz Amhara zurückkehren oder sich in der Hauptstadt Addis Abeba neu ansiedeln. Dieses Gebiet sei weder von Kriegshandlungen betroffen noch wären sonstige Gründe für eine volatile Sicherheitslage hervorgekommen. Aufgrund der Unterkunft und der Landwirtschaft der Schwiegereltern sowie der eigenen Bildung und Arbeitserfahrung der Erstrevisionswerberin und ihres Lebensgefährten könnten sie dort ihre Existenz sichern. Die Position des UNHCR über die Unmöglichkeit einer Rückkehr in Gebiete, die von Kriegshandlungen betroffen seien, stehe einer Rückkehr somit nicht entgegen (Verweis auf die UNHCR Position on Returns to Ethiopia, März 2022, S. 9).

8 Daneben stehe eine innerstaatliche Fluchtalternative in Addis Abeba offen. Diese Stadt sei weder von Kriegshandlungen betroffen noch sei dort aus sonstigen Gründen eine volatile Sicherheitslage gegeben. Aufgrund ihrer Bildung und Arbeitserfahrung sowie ihres familiären Netzwerkes könnte die Erstrevisionswerberin mit ihrem Lebensgefährten und dem Sohn nach etwaigen anfänglichen Schwierigkeiten eine Wohnung anmieten, einer Arbeit nachgehen und wie andere Landsleute ein Leben ohne unbillige Härten führen. Trotz der Indizwirkung der Position des UNHCR sei von der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative (IFA) auszugehen, weil die Erstrevisionswerberin und ihr Lebensgefährte über einen vergleichsweise sehr guten wirtschaftlichen Hintergrund verfügen würden.

9 Gegen dieses Erkenntnis erhoben die revisionswerbenden Parteien zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der ihre Behandlung mit Beschluss vom 4. Oktober 2022, E 2316-2317/2022 8, ablehnte und sie in weiterer Folge dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

10 Daraufhin wurde die vorliegende außerordentliche Revision erhoben. Zu ihrer Zulässigkeit wird unter anderem vorgebracht, das BVwG habe sich mit der Position des UNHCR vom März 2022 nicht ausreichend auseinandergesetzt. Der UNHCR halte die Verweigerung von internationalem Schutz auf Basis einer IFA bereits bei Erwachsenen für unangemessen und es müsse dies daher für den minderjährigen Zweitrevisionswerber umso mehr gelten. Zudem habe das BVwG Feststellungen zum Lebensgefährten der Erstrevisionswerberin sowie zur Sicherung einer Existenz im Heimatdorf der Schwiegereltern getroffen, ohne dass sich aus dem Erkenntnis ergebe, aufgrund welcher Aktenbestandteile das BVwG zu diesen Feststellungen gelangt sei. Der Lebensgefährte sei im Rahmen des Verfahrens weder zeugenschaftlich einvernommen worden noch würde sich dies aus den Angaben der Erstrevisionswerberin im Zuge der Verhandlung ergeben.

11 Das BFA hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

12 Die Revision ist teilweise zulässig und begründet.

Zu Spruchpunkt I.:

13 Soweit sich die Revision gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten wendet, zeigt sie ihre Zulässigkeit im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht auf. Es finden sich darin insbesondere keine Ausführungen betreffend die vom BVwG angenommene mangelnde Glaubhaftmachung des Fluchtvorbringens der Erstrevisionswerberin.

14 In Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten war die Revision daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG als unzulässig zurückzuweisen.

Zu Spruchpunkt II.:

15 Zulässig und begründet erweist sich die Revision jedoch insoweit, als sie sich gegen die Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden Spruchpunkte wendet.

16 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist den Richtlinien des UNHCR und der EUAA (früher: EASO) besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung“). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden bzw. das BVwG in Bindung an entsprechende Empfehlungen in den Richtlinien internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) sich mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen in den Richtlinien des UNHCR und der EUAA auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche gegenständlichen Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind (vgl. VwGH 7.6.2022, Ra 2020/18/0439, mwN).

In der „UNHCR Position on returns to Ethiopia“ vom März 2022 ruft der UNHCR die Staaten dazu auf, Personen, die aus Gebieten stammten, welche von militärischen Aktionen oder Vertreibung betroffen oder instabil und unsicher seien, bis zur Stabilisierung der Situation, nicht in diese Gebiete abzuschieben. Er erachtete es außerdem unter den derzeitigen Umständen, dem fortdauernden Konflikt und der Gewalt in Teilen des Landes sowie der weit verbreiteten internen Vertreibung von Menschen und der ernsten humanitären Lage für nicht angemessen, Schutzsuchenden aus Äthiopien den internationalen Schutz auf der Basis einer IFA zu verweigern.

17 Mit diesen Empfehlungen hat sich das BVwG nicht hinreichend auseinandergesetzt. Ohne entsprechende Feststellungen getroffen zu haben, hält es in seiner rechtlichen Begründung fest, dass der Heimatort der Schwiegereltern der Erstrevisionswerberin weder von Kriegshandlungen betroffen wäre noch aus sonstigen Gründen dort eine volatile Sicherheitslage hervorgekommen sei. Dass die revisionswerbenden Parteien dort Zuflucht finden könnten, beruht daher auf nicht nachprüfbaren verwaltungsgerichtlichen Erwägungen und kann daher schon deshalb keinen Bestand haben.

18 Dies trifft auch für die Annahme einer IFA in Addis Abeba zu. Das BVwG vermeint, aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls entgegen der Einschätzung des UNHCR von der Möglichkeit und Zumutbarkeit einer IFA in der äthiopischen Hauptstadt ausgehen zu können und begründet dies damit, dass die Erstrevisionswerberin und ihr Lebensgefährte über einen vergleichsweise (sehr) guten bzw. überdurchschnittlichen wirtschaftlichen Hintergrund verfügten, sie weder zu den Vertriebenen des Krieges gehörten und davon auch nicht direkt betroffen gewesen seien. Zu Recht macht die Revision geltend, dass das BVwG bei dieser Beurteilung den knapp einjährigen Zweitrevisionswerber, der mit der Familie zurückkehren würde, vollkommen außer Acht lässt. Es entspricht aber der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die besondere Vulnerabilität einer Familie mit einem Kleinkind bei der Beurteilung, ob eine Verletzung der durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, zu berücksichtigen ist. Das BVwG muss eine ganzheitliche Bewertung der möglichen Gefahren, die diese Familie zu erwarten hat, vornehmen und sich mit der konkreten Rückkehrsituation beschäftigen (vgl. etwa VwGH 31.10.2022, Ra 2021/18/0369, mwN).

19 Das angefochtene Erkenntnis lässt insgesamt eine angemessene Auseinandersetzung mit der konkreten tatsächlichen Situation, die die Erstrevisionswerberin mit ihrem Kleinkind im Fall der Rückkehr vorfinden würde, vor dem Hintergrund aktueller Länderfeststellungen vermissen. Es ist nicht ersichtlich, dass sich das BVwG mit den Länderberichten, insbesondere im Hinblick auf die Berichtslage zur Situation von Kindern in Äthiopien, näher auseinandergesetzt hat (vgl. wiederum VwGH 31.10.2022, Ra 2021/18/0369).

20 Das BVwG wird daher zu prüfen haben, ob der Erstrevisionswerberin bei der Rückkehr mit dem Zweitrevisionswerber unter Berücksichtigung aktueller Länderberichte keine dem Art. 3 EMRK widersprechende Lebenssituation drohe.

21 Die Revision legt somit hinsichtlich des subsidiären Schutzes und der darauf aufbauenden Spruchpunkte relevante Verfahrensmängel dar, weshalb das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben war.

22 Von der beantragten mündlichen Verhandlung war gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abzusehen.

23 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 18. April 2023

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