JudikaturVwGH

Ra 2022/20/0201 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
31. Oktober 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Rossmeisel als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Stüger, über die Revisionen 1. der A S, 2. der M S, 3. der S S, und 4. des Y S, alle in W, alle vertreten durch Mag. Wolfgang Hoefert, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Zollergasse 13/4, dieser vertreten durch Mag. a Nadja Lindenthal, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Siebensterngasse 23/3, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts je vom 3. Juni 2022, 1. W220 2218535 1/12E, 2. W220 2218537 1/11E, 3. W220 2218538 1/10E und 4. W220 22447571/6E, jeweils betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der weiteren in den Jahren 2009, 2017 und 2021 geborenen revisionswerbenden Parteien. Alle sind Staatsangehörige von Afghanistan.

2 Der Ehemann der Erstrevisionswerberin der Vater der übrigen revisionswerbenden Parteienreiste im Jahr 2011 in das Bundesgebiet ein und stellte hier im August 2011 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Mit Bescheid vom 17. Juni 2014 wurde ihm vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt, die mehrfach verlängert wurde.

3 Die Erst bis Drittrevisionswerberinnen reisten am 2. März 2019 mit für sie ausgestellten Visa in das Bundesgebiet ein. Sie stellen am 4. März 2019 Anträge auf internationalen Schutz. Am 16. Juni 2021 wurde für den im Mai 2021 in Österreich geborenen Viertrevisionswerber von dessen Vater ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

4 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies die von den revisionswerbenden Parteien gestellten Anträge, soweit damit die Zuerkennung des Status von Asylberechtigten beantragt worden war, mit den Bescheiden vom 11. September 2019 (betreffend die Erst bis Drittrevisionswerberinnen) sowie vom 24. Juni 2021 (betreffend den Viertrevisionswerber) ab. Allerdings wurde den revisionswerbenden Parteienunter Anwendung der Vorschriften des § 34 AsylG 2005 über das Familienverfahren in Ableitung vom Ehemann der Erstrevisionswerberin (und Vater der weiteren revisionswerbenden Parteien) der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihnen jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

5 Die revisionswerbenden Parteien erhoben gegen diese Bescheide, soweit ihnen die Gewährung von Asyl versagt blieb, Beschwerden. Im Rahmen der Beschwerdeverfahren verwiesen sie in einer von ihnen eingebrachten Stellungnahme auf die in Afghanistan erfolgte Machtübernahme durch die Taliban. In diesem Zusammenhang brachten sie auch vor, den Erst bis Drittrevisionswerberinnen drohe nunmehr in Afghanistan wegen ihrer Eigenschaft als Frau Verfolgung.

6Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerden nach Durchführung einer Verhandlung mit den in Revision gezogenen Erkenntnissen gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet ab. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG jeweils nicht zulässig sei.

7 In seiner Begründung führte das Bundesverwaltungsgericht soweit hier von Interesse aus, bezogen auf Afghanistan führe „die Eigenschaft des Frau Seins“ an sich nicht zur Gewährung von Asyl. Lediglich die Glaubhaftmachung einer persönlichen Wertehaltung, die sich an dem in Europa mehrheitlich gelebten, „allgemein als ‚westlich‘ bezeichneten Frauen und Gesellschaftsbild (selbstbestimmt leben zu wollen)“ orientiere, sei als asylrelevant zu erachten, wenn diese zu einem wesentlichen Bruch mit den in Afghanistan gelebten Werten führe und daher Sanktionen nach sich zöge. Auch unter Berücksichtigung der seit der Machtübernahme der Taliban für Frauen verfügten Beschränkungen sei „zumindest derzeit“ den Länderberichten nicht zu entnehmen, dass „alle Frauen in Afghanistan gleichermaßen bereits alleine aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit einer Gruppenverfolgung ausgesetzt wären“.

8Da bei keiner der revisionswerbenden Parteien ein Grund vorliege, der die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten rechtfertige, komme auch eine Zuerkennung nach § 34 AsylG 2005 in Betracht.

9 Die dagegen erhobenen Revisionen wurden vom Bundesverwaltungsgericht samt den Verfahrensakten dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt. Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revisionen das Vorverfahren eingeleitet. Es wurden keine Revisionsbeantwortungen erstattet.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revisionenin einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11 Die revisionswerbenden Parteien machen unter Hinweis auf Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU geltend, die von den Taliban gegen Frauen verhängten Einschränkungen und Beschränkungen des täglichen Lebens gepaart mit den bei Zuwiderhandeln drohenden drakonischen Strafen seien als Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention anzusehen. Als Frauen drohe den Erst bis Drittrevisionswerberinnen im Hinblick auf die verschlechterte Lage in Afghanistan schon aufgrund ihrer „angeborenen Eigenschaft als Frauen“ asylrelevante Verfolgung. Sie wären ausgehend von den vom Bundesverwaltungsgericht getroffenen Feststellungen sowie anderen aktuellen Berichten zur Situation im Herkunftsstaat, der mittlerweile von den Taliban beherrscht werde, einer Kumulierung unterschiedlicher von den revisionswerbenden Parteien dargestellter Einschränkungen und Beschränkungen des täglichen Lebens gepaart mit Menschenrechtsverletzungen und drakonischen Strafen bei Zuwiderhandeln ausgesetzt. Das Bundesverwaltungsgericht hätte daher aufgrund der nun in Afghanistan unter der neuerlichen Herrschaft der Taliban gegebenen aktuellen Situation der Frauen zum Schluss kommen müssen, dass die Erst bis Drittrevisionswerberinnen allein auf Grund ihrer Geschlechtszugehörigkeit ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefen, im Herkunftsstaat asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt zu sein.

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 19. Jänner 2023 die gegenständlichen zulässigen Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) in den dort zu den Zlen. C 608/22 und C 609/22 anhängigen Rechtssachen ausgesetzt.

13 Mit Urteil vom 4. Oktober 2024, C 608/22 und C 609/22, hat der EuGH die ihm zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt beantwortet:

„1. Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass unter den Begriff ‚Verfolgungshandlung‘ eine Kumulierung von Frauen diskriminierenden Maßnahmen fällt, die von einem ‚Akteur, von dem Verfolgung ausgeht‘, im Sinne von Art. 6 dieser Richtlinie getroffen oder geduldet werden und insbesondere im Fehlen jedes rechtlichen Schutzes vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt sowie Zwangsverheiratungen, der Verpflichtung, ihren Körper vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen, der Beschränkung des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen sowie der Bewegungsfreiheit, dem Verbot oder der Beschränkung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, der Verwehrung des Zugangs zu Bildung, dem Verbot, Sport auszuüben, und der Verwehrung der Teilhabe am politischen Leben bestehen, da diese Maßnahmen durch ihre kumulative Wirkung die durch Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleistete Wahrung der Menschenwürde beeinträchtigen.

2. Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 ist dahin auszulegen, dass er die zuständige nationale Behörde nicht verpflichtet, bei der Feststellung, ob angesichts der im Herkunftsland einer Frau zum Zeitpunkt der Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz vorherrschenden Bedingungen diskriminierende Maßnahmen, denen sie in diesem Land ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie darstellen, im Rahmen der individuellen Prüfung dieses Antrags im Sinne von Art. 2 Buchst. h dieser Richtlinie andere Aspekte ihrer persönlichen Umstände als ihr Geschlecht oder ihre Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen.“

14Nach Erlassung dieses Urteils hat sich der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 23. Oktober 2024, Ra 2021/20/0425, und im Erkenntnis vom 23. Oktober 2024, Ra 2022/20/0028, ausführlich mit einem Vorbringen befasst, wie es auch im hier gegenständlichen Fall erstattet wurde.

15Es wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe dieser Erkenntnisse verwiesen.

16 Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass der Verwaltungsgerichtshof dort festgehalten hat, dass entsprechend der Ausführungen des EuGH im zitierten Urteil vom 4. Oktober 2024, im Fall einer Situation, wie sie im oben wiedergegebenen Spruchpunkt 1. des Urteilstenors geschildert wird, bereits deshalb von Verfolgungshandlungen gegen afghanische Frauen auszugehen ist, weil diese Maßnahmen aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung dazu führen, dass afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden, und diese Maßnahmen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation zeugen, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird.

17 Es ist nicht erforderlich zu prüfen, ob die Asylwerberin eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ aufweist, weil es angesichts dessen, dass im Herkunftsstaat eine Situation gegeben ist, die in ihrer Gesamtheit Frauen zwingt, dort ein Leben führen zu müssen, das mit der Menschenwürde unvereinbar ist, darauf nicht ankommt. Es ist vielmehr zur Bejahung einer Verfolgungshandlung im Einzelfall grundsätzlich bereits ausreichend, dass es eine Frau ablehnt, in einer Gesellschaft leben und sich Einschränkungen beugen zu müssen, in der die die Staatsgewalt ausübenden Akteure solche sanktionsbewehrten Regelungen aufstellen und Maßnahmen ergreifen (wie die im oben wiedergegebenen Spruchpunkt 1. des genannten Urteils des EuGH geschilderten), die in ihrer Gesamtheit die Menschenwürde durch die Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird, massiv beeinträchtigen. Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht darauf an, ob eine Asylwerberin diesen Regelungen im Fall eines Aufenthaltes im Herkunftsstaat tatsächlich zuwiderhandeln oder sie sich angesichts der ihr im Fall des Zuwiderhandelns drohenden Konsequenzen diesen Regelungen fügen würde.

18 Es ist mithin grundsätzlich für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ausreichend, im Rahmen der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin, die es ablehnt, sich einer solchen wie der hier in Rede stehenden Situation auszusetzen, und die daher um die Gewährung von Flüchtlingsschutz ansucht, festzustellen, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland, in dem solche Verhältnisse herrschen, tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, wenn die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage, die ihre Staatsangehörigkeit und ihr Geschlecht betreffen, erwiesen sind.

19 Jedoch ist, wenngleich es im Regelfall weitergehender Feststellungen nicht bedürfen wird, diese Prüfung im Einzelfall in den Worten des EuGH „mit Wachsamkeit und Vorsicht“ vorzunehmen.

20 Ergibt sich anhand der sich sonst darbietenden Umstände des Einzelfalles, dass Gründe zur Annahme vorhanden sind, dass fallbezogen ein Bedürfnis nach Flüchtlingsschutz nicht besteht und die Antragstellung lediglich aus anderen (asylfremden) Motiven erfolgt ist, wird es bei der Prüfung, ob der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen ist, nicht sein Bewenden haben können, sich bloß auf die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat sowie der Staatsangehörigkeit und des Geschlechts der Asylwerberin zu beschränken.

21 In Verkennung dieser Rechtslage ist das Bundesverwaltungsgericht in den gegenständlichen Fällen davon ausgegangen, es sei aus der Berichtslage zur Situation in Afghanistan nicht abzuleiten, dass die den Frauen von den faktisch die Staatsmacht ausübenden Taliban auferlegten Einschränkungen eine asylrechtlich relevante Verfolgungshandlung darstellten.

22Somit sind aus den in den oben erwähnten Erkenntnissen vom 23. Oktober 2024 genannten Gründen auch hier die angefochtenen Entscheidungen mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet. Die mit der Behebung der Entscheidung der Erstrevisionswerberin nach § 42 Abs. 3 VwGG einhergehenden Rechtswirkungen (danach tritt die Rechtssache in die Lage zurück, in der sie sich vor Erlassung des aufgehobenen Erkenntnisses befunden hat) führen dazu, dass damit zudem der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts, die Zuerkennung des Status von Asylberechtigten an die Familienangehörigen könne nicht nach den Bestimmungen des § 34 AsylG 2005 erfolgen, der Boden entzogen ist.

23Somit waren sämtliche der Anfechtung unterzogenen Erkenntnisse wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

24Die Zuerkennung von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 31. Oktober 2024