Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Kieslich, über die Revision des A S A, in W, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Jordangasse 7/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Oktober 2020, Zl. W153 2228293 1/5E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Mit Bescheid vom 27. Dezember 2019 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) dem minderjährigen Revisionswerber, einem (unbegleiteten) afghanischen Staatsangehörigen, den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.
2 Begründend führte das BFA auf das Wesentliche zusammengefasst aus, der Revisionswerber habe keine asylrelevante Verfolgung vorgebracht.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde des Revisionswerbers gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigen ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei. Das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung gründete es darauf, dass der Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA VG geklärt sei.
4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen der Unterlassung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG rügt.
5 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Durchführung des Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
6 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
7 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA VG enthaltenen Wendung „wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“ folgende Kriterien beachtlich sind:
8 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. dazu grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018, sowie aus der jüngeren Rechtsprechung etwa VwGH 10.9.2020, Ra 2020/01/0094, mwN).
9 Im vorliegenden Verfahren trat der Revisionswerber in seiner Beschwerde der Beweiswürdigung des BFA substantiiert entgegen.
10 Das BVwG durfte somit nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA VG ausgehen, sondern hätte nach den oben dargestellten Kriterien eine mündliche Verhandlung durchführen müssen.
11 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und wie hier gegeben des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 13.2.2020, Ro 2019/01/0007, mwN).
12 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
13 Die Kostenentscheidung gründet auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
14 Für das fortgesetzte Verfahren wird darauf hingewiesen, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes in einem Fall, in dem das fluchtauslösende Ereignis als Minderjähriger erlebt wurde und diesem Ereignis eine mehrjährige Flucht nachfolgte, eine besonders sorgfältige Beurteilung der Art und Weise des erstatteten Vorbringens zu den Fluchtgründen erforderlich ist und die Dichte dieses Vorbringens nicht mit „normalen Maßstäben“ gemessen werden darf. Es muss sich aus der Entscheidung erkennen lassen, dass solche Umstände in die Beweiswürdigung Eingang gefunden haben und dass darauf Bedacht genommen wurde, aus welchem Blickwinkel die Schilderung der Fluchtgeschichte erfolgte. Auf die Tatsache, dass ein Asylwerber seinen Heimatstaat als Minderjähriger verlassen hat, ist in der Entscheidung einzugehen. Im Lichte dieser Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist ersichtlich, dass es zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Minderjährigen einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung bedarf (vgl. VwGH 11.8.2020, Ra 2020/14/0347, mwN).
Wien, am 29. Jänner 2021