JudikaturVfGH

E173/2024 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
11. Juni 2024

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art47 Abs2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein im Jahr 2006 geborener afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Nangarhar, der der Volksgruppe der Paschtunen angehört und sich zum sunnitischen Islam bekennt. Er verließ Afghanistan im August 2021 alleine und reiste als unbegleiteter Minderjähriger in Österreich ein, wo er am 26. Juni 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Er begründete diesen damit, dass sein Vater 16 Jahre beim afghanischen Militär gearbeitet und nach der Machtübernahme der Taliban das Land verlassen habe müssen. Die Taliban hätten deshalb die Familie aufgesucht und nach seinem Vater gefragt. Er befürchte, dass die Taliban ihn umbrächten.

2. Mit Bescheid vom 2. Oktober 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer eines Jahres (Spruchpunkt III.).

3. Eine gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht – ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung – mit Erkenntnis vom 28. November 2023 als unbegründet ab.

Begründend führt das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat weder einer individuellen Verfolgung ausgesetzt gewesen sei noch eine solche im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten habe. Er habe eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft dargetan. So falle auf, dass er in der Erstbefragung angegeben habe, dass die Taliban "immer" bei ihm zuhause gewesen seien und nach seinem Vater gefragt hätten. Seinen Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zufolge hätten die Taliban aber lediglich einmal das Haus seiner Familie aufgesucht und dies überdies erst, nachdem die Familie es bereits verlassen hätte. Diese beiden Versionen seien nicht miteinander in Einklang zu bringen, weshalb die Fluchtgeschichte unglaubhaft sei. Diese Schilderung betreffe das Kernvorbringen der Fluchtgeschichte, weshalb auch unter Berücksichtigung des zum angeblichen Vorfallszeitpunkt jugendlichen Alters des Beschwerdeführers und der seither verstrichenen Zeitspanne anzunehmen sei, dass er Angaben ohne grobe Widersprüche erstatten könne.

Die Unglaubhaftigkeit der Verfolgungsbehauptungen ergebe sich auch daraus, dass der Beschwerdeführer in der Erstbefragung noch einen anderen Familiennamen angegeben habe. Erst bei Vorlage der Dokumente, welche die Tätigkeit seines Vaters bei der afghanischen Armee bezeugen sollten, habe er seinen Namen auf jenen berichtigt, der auf diesen Dokumenten aufscheine. Die Rechtfertigung, dass es in Afghanistan nicht üblich wäre, mit dem Familiennamen angesprochen zu werden, und sich der zunächst genannte Name von seinem Heimatdorf ableite, überzeuge nicht. Da der Beschwerdeführer nach eigenen Angaben über eine – in der Türkei verlorengegangene – Tazkira, also das übliche Identitätsdokument in Afghanistan, verfügt habe, die "nach menschlichem Ermessen" wohl seinen korrekten Namen angeführt habe, erscheine die Behauptung, er hätte den falschen Familiennamen angegeben, weil er es "nicht besser gewusst hätte", als bloße Ausrede.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

Der Beschwerdeführer bringt im Wesentlichen vor, dass ihm im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung auf Grund der ihm durch die Zuordnung zu seinem Vater unterstellten (politisch-oppositionellen) Gesinnung drohe, die jener der Taliban offenkundig zuwiderlaufe. Er werde als ältester Sohn und einer der engsten Angehörigen seines Vaters aus Sicht der Taliban mit diesem gleichgesetzt. Sein Vater hätte in ranghoher Position in einer Spezialeinheit der afghanischen Armee gegen die Taliban gekämpft. Der Beschwerdeführer werde daher – gleich wie sein Vater – als aktiver Unterstützer der vormaligen Regierung und als "Feind" der Taliban gesehen. Durch die Verweigerung des Asylstatus werde in das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Asyl nach Art18 GRC eingegriffen.

Das Bundesverwaltungsgericht habe keine mündliche Verhandlung durchgeführt, obwohl diese beantragt worden sei und für die Aufklärung des Sachverhaltes essenziell gewesen wäre. Es schenke dem Beschwerdeführer keinen Glauben, ohne ihn gesehen und sich selbst ein Bild von ihm gemacht zu haben, obwohl er im Entscheidungszeitpunkt noch minderjährig gewesen sei. Von einem "geklärten Sachverhalt" könne daher keine Rede sein. Dem Beschwerdeführer seien unsubstantiiert Widersprüchlichkeiten unterstellt und eine "tatsachenwidrige Konstruktion" vorgehalten worden, die sich in einer mündlichen Verhandlung leicht hätten aufklären lassen.

Der Beschwerdeführer sei im Zeitpunkt des fluchtauslösenden Ereignisses 15 Jahre und bei seiner Erstbefragung 16 Jahre alt gewesen. Diese sei ohne Beisein einer Vertrauensperson oder – entgegen §49 Abs3 BFA VG – eines Rechtsberaters als gesetzlicher Vertreter durchgeführt worden. Das junge Alter des Beschwerdeführers sei hier nicht ausreichend berücksichtigt worden. Das Bundesverwaltungsgericht hänge seine Beweiswürdigung an einem einzigen Wort ("immer") aus dieser Erstbefragung auf, was außer jeder Relation stehe. Es habe daher Willkür geübt, indem es in entscheidenden Punkten jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen und relevante Aspekte des Sachverhaltes komplett außer Acht gelassen habe. Durch die Nichtvornahme der mündlichen Verhandlung sei der Beschwerdeführer überdies in seinen Rechten gemäß Art6 EMRK und Art47 Abs2 GRC verletzt worden.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber – wie auch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht regelt §21 Abs7 BFA-VG den Entfall der mündlichen Verhandlung. Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung steht – sofern zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt wurde – jedenfalls in jenen Fällen im Einklang mit Art47 Abs2 GRC, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen tatsachenwidrig ist (vgl VfSlg 19.632/2012).

Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung, wenn diese zur Gewährleistung einer den Anforderungen des Art47 Abs2 GRC an ein faires Verfahren entsprechenden Entscheidung des erkennenden Gerichtes geboten ist, stellt aber eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art47 Abs2 GRC dar (VfGH 13.3.2013, U1175/12 ua; 26.6.2013, U1257/2012; 27.11.2019, E2252/2018; 17.3.2022, E4359/2021).

3. Eine solche Verletzung von Art47 Abs2 GRC liegt vor:

3.1. Hinsichtlich der Beurteilung der mangelnden Glaubhaftmachung des Flucht-vorbringens stützt sich das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen auf die Feststellungen und die Beweiswürdigung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl. Eine mündliche Verhandlung zur Prüfung der Glaubwürdigkeit der Angaben des Beschwerdeführers hat es hingegen nicht durchgeführt. Dies wäre aber insbesondere vor dem Hintergrund der Begründung der Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens im angefochtenen Bescheid, die ausschließlich auf Widersprüche zwischen Erstbefragung und behördlicher Einvernahme des Beschwerdeführers abstellt, geboten gewesen (vgl VfGH 10.6.2016, E2108/2015; 24.11.2016, E1079/2016; 24.2.2020, E3429/2019; 21.9.2020, E4498/2019; 22.9.2020, E1453/2020).

§19 Abs1 AsylG 2005 bestimmt nämlich, dass die Erstbefragung insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden dient und sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat (vgl VfGH 21.9.2020, E4498/2019; 24.11.2020, E2408/2020; 8.6.2021, E2330/2020; 27.11.2023, E2497/2023).

3.2. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt seiner Ausreise aus Afghanistan 15 Jahre und im Zeitpunkt seiner Erstbefragung 16 Jahre alt war. Nach der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist im Rahmen der asylrechtlichen Glaubwürdigkeitsprüfung erkennbar zu berücksichtigen, wenn ein Asylwerber im Zeitpunkt des fluchtauslösenden Ereignisses oder seiner Einvernahmen noch minderjährig war (vgl etwa VfGH 8.6.2020, E1043/2020; 23.2.2021, E1223/2020). Das Aussageverhalten eines Minderjährigen ist dahingehend zu würdigen, ob und welche Angaben von ihm unter Berücksichtigung seines Alters erwartet werden können. Dabei darf nicht derselbe Maßstab wie bei erwachsenen Asylwerbern angelegt werden (vgl VwGH 8.9.2015, Ra 2014/18/0113; 29.1.2021, Ra 2020/01/0470; Lais/Schön , Das Kindeswohl in der Rechtsprechung von VfGH und VwGH, RZ 2021, 211 [214]).

Auch vor diesem Hintergrund wäre die Durchführung einer mündlichen Verhandlung geboten gewesen. Das Bundesverwaltungsgericht merkt zwar die sich aus der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers ergebenden Erfordernisse einer "besonders sorgfältigen Beweiswürdigung" und eines "herabgesetzten Maßstabes an die Genauigkeit der Angaben" an. Der bloße Verweis darauf, dass die Abweichung in den Angaben des Beschwerdeführers das "Kernvorbringen" seiner Fluchtgeschichte betreffe, weshalb trotz seiner Minderjährigkeit Angaben "ohne grobe Widersprüche" erwartet werden könnten, wird diesen Vorgaben aber nicht gerecht.

3.3. Es ist sohin davon auszugehen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung des Sachverhaltes erwarten ließe. Das Bundesverwaltungsgericht durfte daher nicht durch bloßes Aktenstudium davon ausgehen, dass der Sachverhalt hinsichtlich der Glaubhaftigkeit des Fluchtvorbringens geklärt ist, und hätte nicht von einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen. Der Beschwerdeführer ist daher in seinem Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art47 Abs2 GRC verletzt worden (vgl VfGH 23.2.2015, E155/2014; 10.6.2016, E2108/2015; 24.11.2016, E1079/2016; 23.9.2019, E1494/2019; 24.2.2020, E3429/2019; 21.9.2020, E4498/2019).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art47 Abs2 GRC verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

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