JudikaturVfGH

E3919/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
26. Juni 2024

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art47 Abs2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein im Jahr 2009 geborener afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Nangarhar, der der Volksgruppe der Paschtunen angehört und sich zum sunnitischen Islam bekennt. Er stellte am 6. Juli 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend führte der Beschwerdeführer zu diesem Antrag im Wesentlichen aus, dass sein Vater bei der afghanischen Nationalarmee gewesen und im Krieg getötet worden sei. Die Taliban hätten deshalb nach seinen Brüdern und ihm im Haus seines Großvaters gesucht. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst vor den Taliban.

2. Mit Bescheid vom 21. Oktober 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer eines Jahres (Spruchpunkt III.).

3. Eine gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht – ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung – mit Erkenntnis vom 29. November 2023 als unbegründet ab.

Begründend führt das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan insbesondere auf Grund der Tätigkeit seines Vaters für die afghanische Armee keiner individuellen Verfolgung oder Gefährdung ausgesetzt sei. Ihm drohe deswegen im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat keine konkrete, individuelle Verfolgung oder Gefährdung. Der Beschwerdeführer habe eine Verfolgungsgefahr durch die Taliban nicht glaubhaft dargetan.

Beweiswürdigend führt das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst aus, dass die Angaben des Beschwerdeführers rund um seinen Fluchtgrund höchst vage, oberflächlich und nicht nachvollziehbar seien. Es sei ihm im gesamten Verfahren nicht gelungen, konkrete und detailreiche Angaben rund um die behauptete Bedrohung zu tätigen. Er habe im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zwar vorgebracht, dass sein Vater in Afghanistan 18 Jahre lang für die Armee tätig gewesen sei und ihm die Taliban auf Grund dieser Tätigkeit vorgeworfen hätten, ein Unterstützer der Ausländer zu sein. Die genauen Todesumstände des Vaters bzw hinreichende Anhaltspunkte, dass sein Vater tatsächlich wegen dieser Anschuldigungen durch die Taliban ermordet worden sei, habe er jedoch nicht darzulegen vermocht. Es sei zwar zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer auf Grund seiner Minderjährigkeit nicht dieselben Erfahrungswerte wie eine volljährige Person aufweise; es sei jedoch davon auszugehen, dass er bei Wahrheitsunterstellung der geschilderten Ereignisse ein umfassenderes Substrat an genauen Schilderungen anführen könnte. Überdies sei es auch nicht maßgeblich wahrscheinlich, dass die Taliban den Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr verfolgen oder töten würden, da er auf dem Fluchtweg in einem Auto seitens der Taliban nicht erkannt worden sei, was jedenfalls gegen eine konkrete Verfolgungsgefahr spreche.

Dem Fluchtvorbringen fehle es an der zu erwartenden Detailliertheit in den zentralen Teilen sowie an Stringenz und Plausibilität. Insgesamt habe nicht der Eindruck gewonnen werden können, dass der Beschwerdeführer über tatsächlich Erlebtes referiert habe. Dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl könne dementsprechend nicht entgegengetreten werden, wenn es festgehalten habe, dass der Beschwerdeführer mit seinem Vorbringen eine konkrete und aktuelle Verfolgung oder eine drohende Verfolgung nicht habe glaubhaft machen können. Für eine Reflexverfolgung wegen seiner (möglichen) Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie beständen daher keine Anhaltspunkte.

Zum Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung führt das Bundesverwaltungsgericht insbesondere aus, dass im vorliegenden Fall die Tatbestandsvoraussetzungen des §21 Abs7 erster Fall BFA-VG und die dazu von der Rechtsprechung aufgestellten Kriterien vorlägen. Der Sachverhalt sei aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt. In einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren sei dem Beschwerdeführer ausreichend Parteiengehör eingeräumt worden und die Beschwerde zeige nicht plausibel auf, inwieweit eine neuerliche Einvernahme zu einer weiteren Klärung der Sache führen könnte. Dem angefochtenen Bescheid sei ein umfassendes Ermittlungsverfahren durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorangegangen. Für die in der Beschwerde behauptete Mangelhaftigkeit des Verfahrens ergäben sich aus der Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes keine Anhaltspunkte.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der unter anderem die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

Der Beschwerdeführer bringt im Wesentlichen vor, dass ihm im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung durch die Taliban drohe. Eine dahingehende Ermittlungstätigkeit habe das Bundesverwaltungsgericht unterlassen. Das erkennende Gericht habe auch das diesbezügliche Vorbringen unberücksichtigt gelassen, wonach die Taliban Länderberichten zufolge Personen getötet, angegriffen und bedroht hätten, die in der Wahrnehmung der Taliban gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch die Taliban verstoßen hätten. Das Bundesverwaltungsgericht hätte daher nicht von der Unglaubwürdigkeit einer behaupteten Verfolgung in seinem Heimatland ausgehen dürfen.

Die Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichtes bestehe in der Übernahme der beweiswürdigenden Ausführungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl. Die bekämpfte Entscheidung enthalte damit eine bloße Plausibilitäts- anstelle einer Rechtmäßigkeitskontrolle. Darin liege ein willkürliches Verhalten des Bundesverwaltungsgerichtes und ein Verstoß gegen das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander.

Außerdem habe keine Einvernahme des Beschwerdeführers im verwaltungsgerichtlichen Verfahren stattgefunden. Das Gericht habe ausschließlich die Befragung des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl verwertet und dabei seine Aussagen als unglaubwürdig bezeichnet, ohne sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Das Bundesverwaltungsgericht habe dem Beschwerdeführer somit keine Möglichkeit gegeben, zu seinen Aussagen Stellung zu beziehen. Daher habe es die diesbezügliche Ermittlungstätigkeit willkürlich unterlassen. Durch die Nichtvornahme einer mündlichen Verhandlung sei der Beschwerdeführer in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art47 Abs2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: GRC) verletzt worden.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber – wie auch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht regelt §21 Abs7 BFA-VG den Entfall der mündlichen Verhandlung. Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung steht – sofern zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt wurde – jedenfalls in jenen Fällen im Einklang mit Art47 Abs2 GRC, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen tatsachenwidrig ist (vgl VfSlg 19.632/2012).

Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung, wenn diese zur Gewährleistung einer den Anforderungen des Art47 Abs2 GRC an ein faires Verfahren entsprechenden Entscheidung des erkennenden Gerichtes geboten ist, stellt aber eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art47 Abs2 GRC dar (VfGH 13.3.2013, U1175/12 ua; 26.6.2013, U1257/2012; 27.11.2019, E2522/2018; 17.3.2022, E4359/2021).

3. Eine solche Verletzung von Art47 Abs2 GRC liegt aus folgenden Gründen vor:

3.1. Hinsichtlich der Beurteilung der mangelnden Glaubhaftmachung des Flucht-vorbringens stützt sich das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen auf die Beweiswürdigung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl. Eine mündliche Verhandlung zur Prüfung der Glaubwürdigkeit der Angaben des Beschwerdeführers hat es hingegen nicht durchgeführt.

3.2. Zu berücksichtigen ist dabei der Umstand, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt seiner Einreise nach Österreich und seiner Erstbefragung erst 12 Jahre und im Zeitpunkt seiner Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl 13 Jahre alt war. Nach der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist im Rahmen der asylrechtlichen Glaubwürdigkeitsprüfung erkennbar zu berücksichtigen, wenn ein Asylwerber im Zeitpunkt des fluchtauslösenden Ereignisses oder seiner Einvernahmen noch minderjährig war (vgl etwa VfGH 8.6.2020, E1043/2020; 23.2.2021, E1223/2020). Das Aussageverhalten eines Minderjährigen ist dahingehend zu würdigen, ob und welche Angaben von ihm unter Berücksichtigung seines Alters erwartet werden können. Dabei darf nicht derselbe Maßstab wie bei erwachsenen Asylwerbern angelegt werden (vgl VwGH 8.9.2015, Ra 2014/18/0113; 29.1.2021, Ra 2020/01/0470; Lais/Schön , Das Kindeswohl in der Rechtsprechung von VfGH und VwGH, RZ2021, 211 [214]).

3.3. Das Bundesverwaltungsgericht verweist zwar im Rahmen seiner Beweiswürdigung darauf, dass der Beschwerdeführer "aufgrund seiner Minderjährigkeit nicht dieselben Erfahrungswerte wie eine volljährige Person aufweist". Die daran anschließende Argumentation des erkennenden Gerichtes, dass davon auszugehen sei, dass "die beschwerdeführende Partei bei Wahrheitsunterstellung der geschilderten Ereignisse ein umfassenderes Substrat an genauen Schilderungen anführen könnte", lässt jedoch nicht erkennen, dass es das Aussageverhalten des Beschwerdeführers anhand des für Minderjährige geltenden Maßstabs beurteilt hat. Gerade die nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes nicht ausreichend substantiierten Angaben des Beschwerdeführers wären angesichts seines geringen Alters klärungsbedürftig gewesen. Es ist auch missverständlich und nicht nachvollziehbar, wie das Bundesverwaltungsgericht durch den bloßen Verweis auf einzelne Aussagen aus der behördlichen Einvernahme des Beschwerdeführers zum Schluss kommen kann, dass insgesamt "nicht der Eindruck gewonnen werden [konnte], dass die beschwerdeführende Partei über Erlebtes referierte, sondern sich lediglich einer einstudierten Geschichte bediente". Gerade vor diesem Hintergrund wäre in der vorliegenden Konstellation die Durchführung einer mündlichen Verhandlung geboten gewesen, um sich einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens zu verschaffen (zu den Erfordernissen einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Minderjährigen s. auch VwGH 15.10.2020, Ra 2020/18/0223 mwN).

3.4. Es ist somit davon auszugehen, dass – entgegen den Ausführungen im Erkenntnis zum Entfall einer mündlichen Verhandlung – die mündliche Erörterung eine weitere Klärung des Sachverhaltes erwarten ließe. Das Bundesverwaltungsgericht durfte daher nicht durch bloßes Aktenstudium davon ausgehen, dass der Sachverhalt hinsichtlich der Glaubhaftigkeit des Fluchtvorbringens geklärt ist, und es hätte folglich nicht von einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen. Der Beschwerdeführer ist daher in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art47 Abs2 GRC verletzt worden (vgl zuletzt VfGH 11.6.2024, E173/2024 mwN).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art47 Abs2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

4. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

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