JudikaturBVwG

W608 2295693-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
21. Mai 2025

Spruch

W608 2295693-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Isabella FOUCHS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geboren am XXXX , StA Afghanistan, gesetzlich vertreten durch das Land XXXX als Kinder- und Jugendhilfeträger, vertreten durch den Magistrat der Stadt XXXX , dieser vertreten durch die Caritas XXXX Flüchtlingshilfe, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.05.2024, Zahl 1342184202-230273702, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.02.2025 und am 28.03.2025 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der minderjährige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 04.02.2023 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 05.02.2023 wurde der Beschwerdeführer durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt, wobei er als Fluchtgrund angab, sein Vater sei bei der „Special Force“ gewesen und als die Taliban gekommen seien, habe er nach Pakistan fliehen müssen. Er sei der älteste Sohn der Familie, deswegen sei auch sein Leben in Gefahr. Außerdem wolle er eine bessere schulische Ausbildung und ein besseres Leben haben. Ansonsten habe er keine Fluchtgründe.

3. Mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 03.08.2023 wurde Rechtsanwalt XXXX zum Abwesenheitskurator für die Eltern des Beschwerdeführers bestellt.

4. Mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 08.09.2023 wurde die Obsorge für den Beschwerdeführer dem Kinder- und Jungendhilfeträger Land XXXX , vertreten durch den Magistrat der Stadt XXXX , übertragen.

5. Am 21.03.2024 fand im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu die niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, seine Familie sei gefährdet, weil sein Vater für die Regierung gearbeitet habe. Im Jahr 2020 sei das Haus der Familie von den Taliban überfallen worden, er und seine Mutter seien geschlagen und festgehalten worden. Die Taliban hätten sie nicht mitnehmen können, weil die Stadt damals von der Regierung kontrolliert worden sei. Er sei auch von den Stiefcousins seines Vaters mit dem Tod bedroht worden.

6. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 08.05.2024 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den gegenständlichen Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm wurde eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer eine individuelle Bedrohung durch die Taliban nicht glaubhaft habe machen können. Daraus, dass sein Vater Grund gehabt habe, das Land zu verlassen, ergebe sich noch keine Gefährdung der Person des Beschwerdeführers. Dass der Beschwerdeführer auf dem Schulweg von Mitgliedern der Taliban angesprochen worden und verbal angegriffen worden sei, stelle keine individuelle Verfolgung dar. Zudem sei davon auszugehen, dass die Mutter des Beschwerdeführers ihn sofort zu seinem Vater nach Pakistan geschickt hätte, wäre eine tatsächliche Flucht vonnöten gewesen.

7. Am 19.06.2024 brachte der Beschwerdeführer fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des im Spruch genannten Bescheides ein. In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass die Behörde in ihrer Beweiswürdigung dem Umstand der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers keine erkennbare Beachtung geschenkt habe und ihren besonderen Manuduktions- und Sorgfaltspflichten nicht nachgekommen sei. Darüber hinaus habe die Behörde bezüglich des Vorbringens des Beschwerdeführers, er habe Afghanistan aufgrund der militärischen Aktivitäten seines Vaters verlassen, keine Ermittlungen durchgeführt. Der Beschwerdeführer sei zu zahlreichen Umständen nicht oder nur mangelhaft befragt worden. Für den Beschwerdeführer sei nicht erkennbar gewesen, dass die Behörde nach wie vor Zweifel an seiner Verfolgung habe, somit sei er im Recht auf Parteiengehör verletzt worden.

8. Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 16.07.2024 vorgelegt.

9. Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 13.08.2024 wurde die gegenständliche Rechtssache am 02.09.2024 der Gerichtsabteilung W608 neu zugewiesen.

10. Am 27.02.2025 und am 28.03.2025 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht in Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtlichen Vertretung und eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt. Die belangte Behörde nahm an den Verhandlungen nicht teil. In der Verhandlung am 28.03.2025 wurde der Onkel des Beschwerdeführers, XXXX , geboren am XXXX , als Zeuge befragt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger Afghanistans, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und Moslem sunnitischer Ausrichtung.

Die Identität des Beschwerdeführers steht nicht fest.

Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Paschtu.

Er wurde in Afghanistan in der Provinz Nangarhar im Dorf XXXX , Bezirk XXXX , geboren. Im Alter von drei Jahren übersiedelte die Familie des Beschwerdeführers in die Stadt XXXX , wo er bis zu seiner Ausreise im Familienverband lebte. Die Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers befinden sich zum Entscheidungszeitpunkt im Iran. Der Beschwerdeführer steht in regelmäßigem Kontakt zu seiner Familie. Drei Onkel mütterlicherseits des Beschwerdeführers leben in Afghanistan, in Kabul.

Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos.

Der Beschwerdeführer stellte am 04.02.2023 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet.

Mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 08.09.2023 wurde die Obsorge für den Beschwerdeführer dem Kinder- und Jungendhilfeträger Land XXXX , vertreten durch den Magistrat der Stadt XXXX , übertragen.

In Österreich befindet sich ein Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers, XXXX . Dieser reiste im Jahr 2012 aus Afghanistan aus. Der Beschwerdeführer hat gelegentlich Kontakt zu seinem in Österreich aufhältigen Onkel.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

Er ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den geltend gemachten Fluchtgründen:

Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt. Umstände, die eine Verfolgung oder sonstige Gefährdung des Beschwerdeführers im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen, wurden vom Beschwerdeführer nicht glaubhaft gemacht und sind auch sonst nicht hervorgekommen.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der BFA-Staatendokumentation, Afghanistan, Version 12, Stand 31.01.2025:

Regionen Afghanistans

Letzte Änderung 2025-01-30 08:04

Karte Afghanistan aufgeteilt in fünf Regionen. Hauptverkehrswege sowie internationale Flughäfen dargestellt

Quelle: STDOK-OSIF 7.9.2023a

Afghanistan verfügt über 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.230 Quadratkilometern (CIA 25.11.2024) leben ca. 35 (NSIA 7.2024) bis 40,1 Millionen Menschen (CIA 25.11.2024). Es grenzt an sechs Länder: China (91 km), Iran (921 km) Pakistan (2.670 km), Tadschikistan (1.357 km), Turkmenistan (804 km), Usbekistan (144 km) (CIA 25.11.2024). Seit der beinahe kampflosen Einnahme Kabuls am 15.8.2021 steht Afghanistan nahezu vollständig unter der Kontrolle der Taliban (AA 12.7.2024; vgl. EUAA 1.11.2024).

Quelle: NSIA 7.2024

Kabul-Stadt

Letzte Änderung 2025-01-30 08:05

Karte von Kabul-Stadt mit Unterteilung in Bezirke sowie Darstellung der Hauptverkehrswege und des Flughafens Quelle: STDOK-OSIF 7.9.2023b

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und verfügt über eine geschätzte Einwohnerzahl zwischen 4,589.000‬ (CIA 25.11.2024) und ca. 5,766.181 Personen (NSIA 7.2024). Die Stadt ist aufgeteilt in 22 Bezirke und verfügt über einen internationalen Flughafen, der sich im 15. Stadt-Bezirk befindet (AAN 2019). Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus sowie Kutschi (PAN o.D.; vgl. NPS o.D.a).

3.5. Ost-Afghanistan

Letzte Änderung 2025-01-30 08:06

Quelle: STDOK-OSIF 8.9.2023d

Der Osten Afghanistans grenzt an Pakistan und ist ein wichtiger Teil des paschtunischen Heimatlandes, dessen Stammeseinfluss sich bis nach Westpakistan erstreckt. Jalalabad, die Hauptstadt der Provinz Nangarhar, liegt auf halbem Weg zwischen Torkham (Ende des Khyber-Passes/Grenze zu Pakistan) und Kabul. Sie gilt als die wichtigste afghanische Stadt im Osten und als das Tor nach Afghanistan vom Khyber-Pass aus. Berge und Täler (oft sehr abgelegen) dominieren die Region (NPS o. D.d). In der östlichen Region liegt die durchschnittliche Temperatur im Winter bei etwa 10 Grad (IOM 02.12.2024).

Distrikte nach Provinz (NSIA 4.2022)

Kabul: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara, Surubi/Surobi/Sarobi

Kapisa: Alasay, Hesa Awal Kohistan, Hesa Duwum Kohistan, Koh Band, Mahmud Raqi, Nijrab, Tagab

Khost: Ali Sher (Tirzayee), Baak, Gurbuz, Jaji Maidan, Khost (Matun), Manduzay (Esmayel Khil), Muza Khel, Nadir Shah Kot, Qalandar, Sabari (Yaqubi), Shamul, Spera, Tanay

Kunar: Bar Kunar (auch Asmar), Chapa Dara, Sawkay (auch Chawkay), Dangam, Dara-e-Pech (auch Manogi), Ghazi Abad, Khas Kunar, Marawara, Narang wa Badil, Nari, Noorgal, Sar Kani, Shigal, Watapoor sowie der temporäre Distrikt Sheltan

Laghman: Alingar, Alishing, Dawlat Shah, Mehtarlam, Qarghayi, Bad Pash (also Bad Pakh)

Logar: Azra, Baraki Barak, Charkh, Khar War, Khushi, Mohammad Agha, Pul-e-Alam

Nangarhar: Achin, Bati Kot, Behsud, Chaparhar, Dara-e-Nur, Deh Bala (auch Haska Mena), Dur Baba, Goshta, Hesarak, Jalalabad, Kama, Khugyani, Kot, Kuzkunar, Lalpoor, Muhmand Dara, Nazyan, Pachiragam, Rodat, Sher Zad, Shinwar, Surkh Rud

Paktia: Ahmadaba, Jaji, Dand Patan, Gardez, Jani Khel, Laja Ahmad Khel (auch Laja Mangel), Samkani (auch Chamkani, Tsamkani), Sayyid Karam (auch Mirzaka), Shwak, Wuza Zadran, Zurmat sowie die vier temporären Distrikte Laja Mangel, Mirzaka, Garda Siray, Rohany Baba

Paktika: Barmal, Dila Wa Khushamand, Gomal, Giyan, Jani Khel, Mata Khan, Nika (Naka), Omna, Surobi, Sar Rawzah, Sharan, Turwo, Urgoon, Wazakhwah, Wormamay, Yahya Khel, Yosuf Khel, Zarghun Shahr (auch Khairkot), Ziruk sowie die vier temporären Distrikte Shakeen, Bak Khil, Charbaran, Shakhil Abad […]

Erreichbarkeit

Letzte Änderung 2025-01-30 08:09

Straßen sind die wichtigsten Transportwege in Afghanistan, das über ein Straßennetz von etwa 3.300 km regionalen Fernstraßen, 4.900 km nationalen Fernstraßen, 9.700 km Provinzstraßen, 17.000-23.000 km ländlichen Straßen und etwa 3.000 km städtischen Straßen, darunter 1.060 km in Kabul-Stadt, verfügt. 7 % der Straßen in Afghanistan sind asphaltiert (TSI 19.6.2022). Die ca. 2.300 km lange sogenannte "Ring Road" verbindet die vier größten Städte Afghanistans, nämlich Kabul, Kandahar, Herat und Mazar-e Sharif (TSI 19.6.2022; vgl. RTP 6.4.2022). 700 km grenzüberschreitende Straßen verbinden die Ring Road mit den Nachbarländern (TSI 19.6.2022).

Medien berichten weiterhin von Taliban-Kontrollpunkten an den Straßen (IOM 22.2.2024; vgl. VOA 14.8.2022, AP 3.5.2023, UN-AFGH 7.3.2023) und in den Grenzregionen Afghanistans (8am 24.7.2022; vgl. RFE/RL 19.2.2022), beispielsweise zwischen dem Flughafen Kabul und Kabul-Stadt (NPR 9.6.2022; vgl. VOA 12.5.2022). Einem ehemaligen afghanischen Militärkommandanten zufolge überprüfen Taliban-Kräfte die Namen und Gesichter von Personen an Kontrollpunkten anhand von "Listen mit Namen und Fotos ehemaliger Armee- und Polizeiangehöriger" (HRW 30.3.2022). Meistens handelt es sich um Routinekontrollen (IOM 22.2.2024), bei denen nur wenig kontrolliert wird (SIGA 25.7.2023). Wenn jedoch ein Kontrollpunkt aus einem bestimmten Grund eingerichtet wird, kann diese Durchsuchung darauf abzielen, bestimmte Gegenstände wie Drogen, Waffen oder Sprengstoff aufzuspüren. Kontrollpunkte, die von den Taliban besetzt sind, sind über ganz Afghanistan verteilt und befinden sich in der Regel entlang der Hauptversorgungsrouten und in der Nähe der Zugänge zu größeren Städten. Die Haltung und der Umfang der Durchsuchungen an diesen Kontrollpunkten variieren je nach Sicherheitslage. Darüber hinaus werden je nach Bedarf Kontrollpunkte und Straßensperren für Suchaktionen, Sicherheitsvorfälle oder VIP-Bewegungen eingerichtet (IOM 22.2.2024). Ein Analyst aus Afghanistan gab an, dass die Intensität und Genauigkeit der Sicherheitskontrollen der Taliban in Städten wie Kabul und Herat abgenommen hätten. Während die Taliban in der Vergangenheit jedes Auto gestoppt und Fragen gestellt hätten, so sind die Posten nun häufig unbesetzt (VQ AFGH 3 1.10.2024). Im Vergleich zur Zeit vor der Machtübernahme der Taliban wurden Hunderte Checkpoints an Straßen und Autobahnen abgebaut, weil die Taliban nicht genügend Personal haben, um sie aufrechtzuerhalten, und weil sie in den ländlichen Dörfern, in denen ihre Kämpfer während des jahrzehntelangen Aufstands stationiert waren, keine größere Bedrohung sehen (EAR 24.10.2023; vgl. ICG 12.8.2022).

Nach der Machtübernahme der Taliban sind die Treibstoffpreise zunächst gestiegen (IOM 12.1.2023; vgl. WEA 17.7.2022). Im Februar 2023 kostete ein Liter Diesel in Kabul ca. 48 AFN (WFP 21.8.2023), mit September 2024 lag der Preis für Treibstoff in Kabul zwischen 63 AFN (WFP 27.9.2024) und 70 AFN (IOM 17.9.2024) und mit Dezember 2024 weiterhin bei 63 AFN (WFP 3.1.2025).

Transportwesen

Alle Provinzen Afghanistans sind mit Bussen oder Taxi erreichbar. Es gibt Dutzende privater Transportunternehmen, die auf den Hauptstrecken, wie z. B. Kabul-Herat, Kabul-Mazar-e Sharif und Kabul-Kandahar, tätig sind. Diese Busse verkehren in der Regel täglich oder mehrmals pro Woche, und viele Unternehmen bieten ihre Dienste auf diesen Strecken an (RA KBL 4.12.2024).

Mit Stand Februar 2024 kosten eine Busfahrt von Kabul nach Mazar-e Sharif 850 AFN und ein Taxi 1.300 AFN (IOM 22.2.2024). Im Dezember 2024 gab eine weitere Quelle an, dass eine Fahrt von Kabul nach Mazar-e Sharif mit einem Premiumbus 1.200 AFN kosten würde. Der Preis für einen normalen Bus wird mit 700 AFN angegeben, während ein Taxi 1.000 AFN kosten würde. Zwischen Kabul und Herat kostet ein Premiumbus zwischen 2.000 und 2.200 AFN, ein normaler Bus zwischen 1.500 bis 1.700 AFN und ein Taxi 2.800 AFN pro Person (RA KBL 4.12.2024).

Flugverbindungen

Afghanistan verfügt über mehrere internationale und nationale Flughäfen, wie den internationalen Hamid-Karzai-Flughafen in Kabul, der mit Stand 22.11.2024 unter anderem Flüge zwischen Afghanistan und den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi Arabien, der Türkei, Russland, Pakistan und Indien anbietet (Flightradar 24 22.11.2024a), oder der internationale Flughafen in Mazar-e Sharif, der mit Stand 22.11.2024 die Türkei und Saudi Arabien anfliegt (Flightradar 24 22.11.2024b). Internationale Flüge werden auch auf den Flughäfen in Kandahar (Flightradar 24 22.11.2024c) und Herat angeboten (Flightradar 24 22.11.2024d). Die Flughäfen Bost, Chaghcharan, Farah, Jalalabad, Khost, Tarinkot und Zaranj bieten mit Stand 22.11.2024 derzeit nur Inlandsflüge innerhalb Afghanistans an (Flightradar 24 22.11.2024e).

Grenzübergänge

Die Taliban haben die Überquerung der Grenze nach Pakistan und Iran ohne gültige Papiere verboten (RFE/RL 3.6.2022b; vgl. USDOS 20.3.2023a) und man benötigt für das Verlassen von Afghanistan einen gültigen Reisepass und eine Einreiseerlaubnis des Ziellandes (RA KBL 11.3.2024). Jedoch wird dieses Verbot von Schmugglern durch Bestechung von Grenzbeamten umgangen (RFE/RL 3.6.2022b; vgl. RFE/RL 27.5.2022). Am Grenzübergang Chaman [Belutschistan – Kandahar] galt eine Ausnahmeregelung für Einwohner der benachbarten Grenzregionen, mit dem afghanischen Identitätsausweis Tazkira einzureisen (ExT 2.10.2023). Mit 1.11.2023 wurde diese Möglichkeit aufgehoben und es gilt nun für alle eine Pass- und Visa-Vorschrift zur Einreise (DAWN 13.11.2023; vgl. VOA 3.10.2023).

Berichten zufolge kam es in den ersten zwei Jahren seit der Machtübernahme der Taliban bis September 2023 zu mindestens 50 Zwischenfällen an den Grenzen Afghanistans zu Iran, Pakistan, Tadschikistan und Usbekistan (AT 4.9.2023). So kam es im Jahr 2022 beispielsweise zu Zusammenstößen zwischen Taliban und Grenzsoldaten an den Grenzen zwischen Afghanistan und Pakistan (AJ 13.12.2022; vgl. DAWN 22.11.2022, AA 26.6.2023, USDOS 20.3.2023a) sowie Afghanistan und Iran (REU 31.7.2022; vgl. AJ 31.5.2023, AA 26.6.2023), die sich im Jahr 2023 fortsetzten (AJ 31.5.2023; vgl. VOA 5.6.2023, UNGA 20.6.2023, UNGA 1.12.2023). Auch im Jahr 2024 kommt es zu Zusammenstößen an der Grenze zu Pakistan (DAWN 9.9.2024; vgl. AP 13.8.2024, RFE/RL 17.5.2024) und dem Iran (VOA 26.10.2024; vgl. IRINTL 25.4.2024). So wurden Berichten zufolge im Oktober 2024 mehr als 200 Afghanen durch die iranische Grenzpolizei getötet oder verletzt (REU 17.10.2024; vgl. NH 16.10.2024).

Es kommt zu temporären Schließungen pakistanischer (AJ 6.9.2023; vgl. AnA 16.8.2024) und iranischer Grenzübergange (TN 23.1.2023; vgl. AnA 23.1.2023, AJ 31.5.2023). Beispielsweise wurde am 6.9.2023 der Grenzübergang Torkham zwischen Afghanistan und Pakistan vorübergehend geschlossen, nachdem es zu einem Schusswechsel zwischen Sicherheitskräften beider Länder kam (AJ 6.9.2023; vgl. REU 7.6.2023, UNGA 1.12.2023), wobei der Grenzübergang neun Tage später wieder geöffnet wurde (REU 15.9.2023).

Im Jahr 2024 gaben die iranischen Behörden den Plan bekannt, eine Mauer an der Grenze zu Afghanistan zu errichten (DW 17.5.2024; vgl. IRINTL 16.2.2024). Im September waren 10 km fertiggestellt und es sind weitere 50 km geplant (IrWire 23.9.2024; vgl. TEHT 23.9.2024).

Politische Lage

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan haben sich mit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 grundlegend verändert (AA 26.6.2023). Die Taliban sind zu der ausgrenzenden, auf die Paschtunen ausgerichteten, autokratischen Politik der Taliban-Regierung der späten 1990er-Jahre zurückgekehrt (UNSC 1.6.2023b). Sie bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USIP 17.8.2022; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen. Seit ihrer Machtübernahme hat die Gruppe jedoch nur vage erklärt, dass sie im Einklang mit dem "islamischen Recht und den afghanischen Werten" regieren wird, und hat nur selten die rechtlichen oder politischen Grundsätze dargelegt, die ihre Regeln und Verhaltensweise bestimmen (USIP 17.8.2022). Die Verfassung von 2004 ist de facto ausgehebelt. Ankündigungen über die Erarbeitung einer neuen Verfassung sind bislang ohne sichtbare Folgen geblieben. Die Taliban haben begonnen, staatliche und institutionelle Strukturen an ihre religiösen und politischen Vorstellungen anzupassen. Im September 2022 betonte der Justizminister der Taliban, dass eine Verfassung für Afghanistan nicht notwendig sei (AA 26.6.2023).

Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan übernahmen die Taliban auch schnell staatliche Institutionen (USIP 17.8.2022) und erklärten Haibatullah Akhundzada zu ihrem obersten Führer (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. REU 7.9.2021a, VOA 19.8.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 8.9.2021; vgl. DIP 4.1.2023). Haibatullah hat sich dem Druck von außen, seine Politik zu mäßigen, widersetzt (UNSC 1.6.2023b) und baut seinen Einfluss auf Regierungsentscheidungen auf nationaler und subnationaler Ebene auch im Jahr 2023 weiter aus (UNGA 20.6.2023). Es gibt keine Anzeichen dafür, dass andere in Kabul ansässige Taliban-Führer die Politik wesentlich beeinflussen können. Kurz- bis mittelfristig bestehen kaum Aussichten auf eine Änderung (UNSC 1.6.2023b). Innerhalb weniger Wochen nach der Machtübernahme kündigten die Taliban "Interims"-Besetzungen für alle Ministerien bis auf ein einziges an, wobei die Organisationsstruktur der vorherigen Regierung beibehalten wurde (USIP 17.8.2022) - das Ministerium für Frauenangelegenheiten blieb unbesetzt und wurde später aufgelöst (USIP 17.8.2022; vgl. HRW 4.10.2021). Alle amtierenden Minister waren hochrangige Taliban-Führer; es wurden keine externen politischen Persönlichkeiten ernannt, die überwältigende Mehrheit war paschtunisch, und alle waren Männer. Seitdem haben die Taliban die interne Struktur verschiedener Ministerien mehrfach geändert und das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters wiederbelebt, das in den 1990er-Jahren als strenge "Sittenpolizei" berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.8.2022). Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (ICG 24.8.2021; vgl. USDOS 12.4.2022a), wobei weibliche Angestellte aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben (BBC 19.9.2021; vgl. Guardian 20.9.2021). Die für die Wahlen zuständigen Institutionen, sowie die Unabhängige Menschenrechtskommission, der Nationale Sicherheitsrat und die Sekretariate der Parlamentskammern wurden abgeschafft (AA 26.6.2023).

Der Ernennung einer aus 33 Mitgliedern bestehenden geschäftsführenden Übergangsregierung im September 2021 folgten zahlreiche Neuernennungen und Umbesetzungen auf nationaler, Provinz- und Distriktebene in den folgenden Monaten, wobei Frauen weiterhin gar nicht und nicht-paschtunische Bevölkerungsgruppen nur in geringem Umfang berücksichtigt wurden (AA 26.6.2023).

Darstellung der vorläufigen Regierung der Taliban mit Namen und politischen Positionen

Quelle: BBC 7.9.2021

Die Regierung der Taliban wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 8.9.2021; vgl. REU 7.9.2021b, Afghan Bios 18.7.2023).

Stellvertretende vorläufige Premierminister sind Abdul Ghani Baradar (AJ 7.9.2021; vgl. REU 7.9.2021b, Afghan Bios 16.2.2022), der die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten in Doha vertrat und das Abkommen mit ihnen am 29.2.2021 unterzeichnete (AJ 7.9.2021; vgl. VOA 29.2.2020), und Abdul Salam Hanafi (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 7.7.2022b), der unter dem ersten Taliban-Regime Bildungsminister war (Afghan Bios 7.7.2022b; vgl. UNSC o.D.a). Im Oktober 2021 wurde Maulvi Abdul Kabir zum dritten stellvertretenden Premierminister ernannt (Afghan Bios 27.11.2023; vgl. 8am 5.10.2021, UNGA 28.1.2022).

Weitere Mitglieder der vorläufigen Taliban-Regierung sind unter anderem Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerkes (Afghan Bios 4.3.2023; vgl. JF 5.11.2021) als Innenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 4.3.2023) und Amir Khan Mattaqi als Außenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 14.12.2023), welcher die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinten Nationen vertrat und im ersten Taliban-Regime unter anderem den Posten des Kulturministers innehatte (Afghan Bios 14.12.2023; vgl. UNSC o.D.b). Der Verteidigungsminister der vorläufigen Taliban-Regierung ist Mohammed Yaqoob (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 6.9.2023), dem 2020 der Posten des militärischen Leiters der Taliban verliehen wurde (Afghan Bios 6.9.2023; vgl. RFE/RL 29.8.2020).

Sah es in den ersten sechs Monaten ihrer Herrschaft so aus, als ob das Kabinett unter dem Vorsitz des Premierministers die Regierungspolitik bestimmen würde, wurden die Minister in großen und kleinen Fragen zunehmend vom Emir, Haibatullah Akhundzada, überstimmt (USIP 17.8.2022). Diese Dynamik wurde am 23.3.2022 öffentlich sichtbar, als der Emir in letzter Minute die lange versprochene Rückkehr der Mädchen in die Oberschule kippte (USIP 17.8.2022; vgl. RFE/RL 24.3.2022, UNGA 15.6.2022). Seitdem ist die Bildung von Mädchen und Frauen und andere umstrittene Themen ins Stocken geraten, da pragmatische Taliban-Führer dem Emir nachgeben, der sich von ultrakonservativen Taliban-Klerikern beraten lässt. Ausländische Diplomaten haben begonnen, von "duellierenden Machtzentren" zwischen den in Kabul und Kandahar ansässigen Taliban zu sprechen (USIP 17.8.2022) und es gibt auch Kritik innerhalb der Taliban, beispielsweise als im Mai 2022 ein hochrangiger Taliban-Beamter als erster die Taliban-Führung offen für ihre repressive Politik in Afghanistan kritisierte (RFE/RL 3.6.2022a). Doch der Emir und sein Kreis von Beratern und Vertrauten in Kandahar kontrollieren nicht jeden Aspekt der Regierungsführung. Mehrere Ad-hoc-Ausschüsse wurden ernannt, um die Politik zu untersuchen und einen Konsens zu finden, während andere Ausschüsse Prozesse wie die Versöhnung und die Rückkehr politischer Persönlichkeiten nach Afghanistan umsetzen. Viele politische Maßnahmen unterscheiden sich immer noch stark von einer Provinz zur anderen des Landes. Die Taliban-Beamten haben sich, wie schon während ihres Aufstands, als flexibel erwiesen, je nach den Erwartungen der lokalen Gemeinschaften. Darüber hinaus werden viele Probleme nach wie vor über persönliche Beziehungen zu einflussreichen Taliban-Figuren gelöst, unabhängig davon, ob deren offizielle Position in der Regierung für das Problem verantwortlich ist (USIP 17.8.2022).

In seiner traditionellen jährlichen Botschaft zum muslimischen Feiertag Eid al-Fitr im Jahr 2023 sagte Haibatullah Akhundzada, sein Land wünsche sich positive Beziehungen zu seinen Nachbarn, den islamischen Ländern und der Welt, doch dürfe sich kein Land in deren innere Angelegenheiten einmischen. Er vermied es, direkt auf das Bildungsverbot von Mädchen und die Beschäftigungseinschränkungen von Frauen einzugehen, sagte jedoch, dass die Taliban-Regierung bedeutende Reformen in den Bereichen Kultur, Bildung, Wirtschaft, Medien und anderen Bereichen eingeleitet hat, und "die schlechten intellektuellen und moralischen Auswirkungen der 20-jährigen Besatzung" dabei seien, zu Ende zu gehen (AnA 18.4.2020; vgl. BAMF 30.6.2023).

Anfang Juni 2023 wurde berichtet, dass es Anzeichen dafür gibt, dass die Taliban die Stadt Kandahar zu ihrem Stützpunkt machen würden. Dies wir als ein Zeichen für den schwindenden Einfluss der gemäßigteren Taliban-Mitglieder in der Hauptstadt Kabul gesehen, während das Regime seine repressive Politik weiter verschärft. In den letzten Monaten haben Vertreter des Regimes Delegationen aus Japan und Katar nach Kandahar eingeladen, anstatt sich mit anderen Beamten in Kabul zu treffen. Der oberste Sprecher der Taliban, Zabihullah Mujahid, und ein zweiter Informationsbeauftragter aus Nordafghanistan, Inamullah Samangani, wurden von ihren Büros in Kabul nach Kandahar verlegt (WP 5.6.2023; vgl. BAMF 30.6.2023).

Im Mai 2023 traf sich der Außenminister der Taliban mit seinen Amtskollegen aus Pakistan und China in Islamabad. Im Mittelpunkt des Treffens stand die Einbeziehung Afghanistans in den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor (CPEC) sowie die Situation von Frauen in Afghanistan (AnA 5.5.2023; vgl. VOA 6.5.2023).

Am 22.11.2023 verkündeten die Taliban den Abschluss einer zweitägigen Kabinettssitzung in der Provinz Kandahar unter der Leitung von Hebatullah Akhundzada. Auffallend war, dass Themen wie das Recht der Frauen auf Arbeit und Zugang zu Bildung sowie ihre Teilhabe an der Gesellschaft nicht Gegenstand der Beratungen waren. Es wurden Gespräche über Themen wie die Rückführung von Migranten, die Entwicklung diplomatischer Beziehungen zur Bewältigung bestehender Probleme, Import-Export- und Transitfragen sowie die Beibehaltung der Geldpolitik der Taliban geführt (AT 22.11.2023; vgl. AMU 22.11.2023).

Internationale Anerkennung der Taliban

Mit Anfang 2024 hat noch kein Land die Regierung der Taliban anerkannt (TN 9.1.2024; vgl. VOA 10.12.2023) dennoch sind Vertreter aus Indien, China, Usbekistan, der Europäischen Union, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten in Kabul präsent (TN 30.10.2022). Im März 2023 gab der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid bekannt, dass Diplomaten in mehr als 14 Länder entsandt wurden, um die diplomatischen Vertretungen im Ausland zu übernehmen (PBS 25.3.2023; vgl. OI 25.3.2023). Im November 2023 sagte der stellvertretende Taliban-Außenminister, dass derzeit 20 Botschaften in Nachbarländern aktiv wären (TN 29.11.2023), einschließlich der afghanischen Botschaft in Teheran (TN 27.2.2023) und des strategisch wichtigen Generalkonsulats in Istanbul (Afintl 27.2.2023; vgl. KP 23.2.2023). Berichten zufolge nahm auch die Türkei im Oktober 2023 einen neuen von den Taliban ernannten Diplomaten in der afghanischen Botschaft in Ankara auf (Afintl 14.2.2024). Eine Reihe von Ländern verfügt auch weiterhin über offizielle Botschafter in Afghanistan. Dazu gehören China und andere Nachbarländer wie Pakistan, Iran und die meisten zentralasiatischen Republiken, aber auch Russland, Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Japan (AAN/Ruttig 7.12.2023). Aber auch westliche Länder (mit Ausnahme Australiens) haben weder ihre Botschaften in Kabul offiziell geschlossen noch die diplomatischen Beziehungen offiziell abgebrochen. Vielmehr unterhalten sie kein diplomatisches Personal im Land. Einige Länder haben immer noch amtierende Botschafter oder nachrangige Diplomaten, die nicht in Kabul ansässig sind, und es gibt auch eine (schrumpfende) Anzahl von Sonderbeauftragten für Afghanistan (im Rang eines Botschafters). Die meisten westlichen Kontakte mit Taliban-Beamten finden in Katars Hauptstadt Doha statt, wo Diplomaten unterhalb der Botschafterebene ihre Länder bei den Treffen vertreten (AAN/Ruttig 7.12.2023).

Am 24.11.2023 entsandten die Taliban ihren ersten Botschafter in die Volksrepublik China (KP 26.11.2023; vgl. AMU 25.11.2023). Dieser Schritt folgt auf die Ernennung eines Botschafters Chinas in Afghanistan zwei Monate zuvor, womit China das erste Land ist, das einen Botschafter nach Kabul unter der Taliban-Regierung entsandt hat (AMU 25.11.2023; vgl. VOA 10.12.2023). Nach Ansicht einiger Analysten sowie ehemaliger Diplomatinnen und Diplomaten bedeutet dieser Schritt die erste offizielle Anerkennung der Taliban-Übergangsregierung durch eine große Nation (VOA 31.1.2024; vgl. REU 13.9.2023). Nach Angaben des US-Außenministeriums prüfen die USA die Möglichkeit von konsularischem Zugang in Afghanistan. Dies solle keine Anerkennung der Taliban-Regierung bedeuten, sondern dem Aufbau funktionaler Beziehungen dienen, um eigene Ziele besser verfolgen zu können (USDOS 31.10.2023). Ebenso am 24.11.2023 wurde die afghanische Botschaft in Neu-Delhi, die von loyalen Diplomaten der Vor-Taliban-Regierung geleitet wurde, endgültig geschlossen. Einige Tage später erklärten Taliban-Vertreter, dass die Botschaft bald wieder eröffnet und von ihren Diplomaten geleitet werden wird (Wilson 12.12.2023; vgl. VOA 29.11.2023).

Drogenbekämpfung

Im April 2022 verfügte der oberste Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada, dass der Anbau von Mohn, aus dem Opium, die wichtigste Zutat für die Droge Heroin, gewonnen werden kann, streng verboten ist (BBC 6.6.2023).

Die vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) im Jahr 2023 durchgeführte Opiumerhebung in Afghanistan ergab, dass der Schlafmohnanbau nach einem von den Taliban-Behörden im April 2022 verhängten Drogenverbot um schätzungsweise 95 % zurückgegangen ist (UNODC 11.2023; vgl. UNGA 1.12.2023), wobei ein anderer Experte den Rückgang des Mohnanbaus zwischen 2022 und 2023 auf 80 % schätzt (BBC 6.6.2023). Der Opiumanbau ging in allen Teilen des Landes von 233.000 Hektar auf 10.800 Hektar im Jahr 2023 zurück, was zu einem Rückgang des Opiumangebots von 6.200 Tonnen im Jahr 2022 auf 333 Tonnen im Jahr 2023 führte. Der drastische Rückgang hatte unmittelbare humanitäre Folgen für viele gefährdete Gemeinschaften, die auf das Einkommen aus dem Opiumanbau angewiesen sind. Das Einkommen der Bauern aus dem Verkauf der Opiumernte 2023 an Händler sank um mehr als 92 % von geschätzten 1,36 Milliarden Dollar für die Ernte 2022 auf 110 Millionen Dollar im Jahr 2023 (UNODC 11.2023; vgl. UNGA 1.12.2023). Der weniger rentable Weizenanbau hat den Mohn auf den Feldern verdrängt - und viele Landwirte berichten, dass sie finanziell darunter leiden (BBC 6.6.2023).

Am 30.9.2023 veröffentlichte der Oberste Gerichtshof der Taliban eine Reihe von Drogenstrafverfahren, die Strafen für den Anbau, den Verkauf, den Transport, die Herstellung und den Konsum von Mohn, Marihuana und anderen Rauschmitteln vorsehen. Die vorgeschriebenen Freiheitsstrafen reichen von einem Monat bis zu sieben Jahren ohne die Möglichkeit, eine Geldstrafe zu zahlen (UNGA 1.12.2023).

Anfang 2024 verkündete der amtierende Verteidigungsminister der Taliban, dass im Zuge der Bekämpfung der Drogenproduktion im Jahr 2023 4.472 Tonnen Rauschgift vernichtet, 8.282 an der Produktion und am Schmuggel beteiligte Personen verhaftet und 13.904 Hektar Mohnanbaufläche gerodet wurden. Experten gehen jedoch davon aus, dass die Armut in den ländlichen und landwirtschaftlichen Gemeinden wieder zum Mohnanbau führen könnte (VOA 3.1.2024). So gab ein Farmer, dessen Feld von den Taliban wegen Mohnanbaus zerstört wurde an, dass er durch Weizenanbau nur einen Bruchteil dessen verdienen würde, was er mit Mohn verdienen könnte (BBC 6.6.2023).

Sicherheitslage

Letzte Änderung 2025-01-31 16:37

Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes zurückgegangen (AI 24.4.2024; vgl. UNAMA 27.6.2023). Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es beispielsweise weniger konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) (UNGA 28.1.2022) sowie eine geringere Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung (UNAMA 27.6.2023; vgl. UNAMA 7.2022). Die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) und Amnesty International (AI) haben jedoch weiterhin ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern (AI 24.4.2024; vgl. UNAMA 27.6.2023) durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs) dokumentiert (UNAMA 27.6.2023).

Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Machtübernahme der Taliban folgendermaßen:

19.8.2021 - 31.12.2021: 985 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 91 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.1.2022)

1.1.2022 - 21.5.2022: 2.105 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 467 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 15.6.2022)

22.5.2022 - 16.8.2022: 1.642 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 77,5 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 14.9.2022)

17.8.2022 - 13.11.2022: 1.587 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 23 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 7.12.2022)

14.11.2022 - 31.1.2023: 1.088 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 10 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 27.2.2023)

1.2.2023 - 20.5.2023: 1.650 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 20.6.2023)

20.5.2023 - 31.7.2023: 1.259 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 18.9.2023)

1.8.2023 - 21.10.2023: 1.414 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 2 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 1.12.2023)

1.11.2023 - 10.1.2023: 1.508 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 38 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.2.2024)

1.2.2024 - 13.5.2024: 2.505 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 55 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 13.6.2024)

14.5.2024 - 31.7.2024: 2.127 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 53 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 9.9.2024)

Nachfolgende Grafik zeigt den Verlauf der sicherheitsrelevanten Vorfälle zwischen Jänner 2023 und Dezember 2024 laut ACLED an. Unterteilt wurde diese vom OSIF-Projekt der Staatendokumentation erstellte Grafik in die Vorfallsarten battles, explosions/remote violence sowie violence against civilians. [für weitere Informationen zu Datenerfassung und Methodologie von ACLED sei auf die entsprechende Passage im Kapitel Länderspezifische Anmerkungen verwiesen]:

Entwicklung der Sicherheitsrelevanten Vorfälle laut ACLED für die Jahre 2023 und 2024

Quelle: erstellt vom Projekt OSIF der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED (ACLED 13.1.2025)

Wie den oben aufgeführten Daten von ACLED (ACLED 13.1.2025) und den Vereinten Nationen zu entnehmen ist, sind die sicherheitsrelevanten Vorfälle in Afghanistan im Jahr 2024 angestiegen. Dies hängt laut den Vereinten Nationen vor allem mit vermehrten Zwischenfällen im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln (UNGA 9.9.2024; vgl. UNGA 13.6.2024, UNGA 28.2.2024) und Grundstückstreitigkeiten zusammen (UNGA 9.9.2024; vgl. UNGA 13.6.2024) und war zum Teil auf die Bemühungen der Taliban-Behörden zurückzuführen, das Verbot des Mohnanbaus durchzusetzen (UNGA 13.6.2024).

Sicherheitsrelevante Vorfälle sowie Vorfälle des ISKP betreffend nach Daten des UCPD Quelle: erstellt vom Projekt OSIF der Staatendokumentation basierend auf Daten des Uppsala Conflict Data Program (UCDP) (UCDP 9.12.2024)

Auch die vom Uppsala Conflict Data Program (UCDP) erfassten Vorfälle zeigen dieses Bild. Mit Beginn des Jahres 2022 gehen die sicherheitsrelevanten Vorfälle deutlich zurück. In der ersten Jahreshälfte 2024 ist jedoch wieder ein Anstieg zu verzeichnen. Bei jenen sicherheitsrelevanten Vorfällen, die den ISKP betreffen, erkennt man einen Rückgang im Laufe der letzten Jahre, wobei auch hier ein leichter Anstieg in der ersten Jahreshälfte 2024 zu erkennen ist (UCDP 9.12.2024). [Für weitere Informationen zu Datenerfassung und Methodologie von UCDP sei auf die entsprechende Passage im Kapitel Länderspezifische Anmerkungen verwiesen]:

Laut Angaben der Vereinten Nationen hatten sich die Aktivitäten des ISKP nach der Machtübernahme der Taliban zunächst verstärkt (UNGA 28.1.2022; vgl. UNGA 15.6.2022, UNGA 14.9.2022, UNGA 7.12.2022). Im Lauf der Jahre 2022 (UNGA 7.12.2022; vgl. UNGA 27.2.2023) und in 2023 nahmen diese Aktivitäten jedoch wieder ab (UNGA 20.6.2023; vgl. UNGA 18.9.2023, UNGA 1.12.2023). Ein Trend, der sich auch 2024 fortsetzt (UNGA 28.2.2024). Ziele der Gruppierung sind die schiitischen Hazara (AI 24.4.2024; vgl. UNAMA 22.1.2024, UNGA 13.6.2024, UNGA 28.2.2024), ausländische Staatsbürger (UNGA 9.9.2024) sowie Mitglieder der Taliban (UNGA 9.9.2024; vgl. UNGA 13.6.2024, UNGA 28.2.2024). Die Taliban führen weiterhin Operationen gegen den ISKP durch (UNGA 13.6.2024), unter anderem in Nangarhar (UNGA 9.9.2024).

Ende 2022 und während des Jahres 2023 nehmen die Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppierungen und den Taliban weiter ab (UNGA 27.2.2023; vgl. UNGA 20.6.2023, UNGA 18.9.2023). Dieser Trend setzt sich auch im Jahre 2024 fort. Nach dem Dafürhalten der Vereinten Nationen stellt die bewaffnete Opposition mit 2024 weiterhin keine nennenswerte Herausforderung für die territoriale Kontrolle der Taliban dar (UNGA 9.9.2024; vgl. UNGA 13.6.2024, UNGA 28.2.2024). Die Nationale Widerstandsfront und die Afghanische Freiheitsfront gehen mit einer "Hit-and-Run"-Taktik gegen die Taliban-Sicherheitskräfte vor, greifen deren Posten und Fahrzeuge an und verübten Hinterhalte und gezielte Tötungen (UNGA 9.9.2024).

Mit Verweis auf das United Nations Department of Safety and Security (UNDSS) berichtet IOM (International Organization for Migration), dass organisierte Verbrechergruppen in ganz Afghanistan an Entführungen zur Erlangung von Lösegeld beteiligt sind. 2023 wurden 21 Entführungen dokumentiert, 2024 waren es, mit Stand Februar 2024, zwei. Anscheinend werden nicht alle Entführungen gemeldet, und oft zahlen die Familien das Lösegeld. Die meisten Entführungen (soweit Informationen verfügbar waren) fanden in oder in der Nähe von Wohnhäusern statt und nicht auf der Straße. Von den 21 im Jahr 2023 gemeldeten Entführungen ereigneten sich vier in Kabul. Zwei der Vorfälle in Kabul betrafen die Entführung ausländischer Staatsangehöriger, wobei nur wenige Einzelheiten über die Umstände der Entführungen bekannt wurden. Die Taliban-Sicherheitskräfte reagierten aktiv auf Entführungsfälle. Im Juni 2023 leiteten die Taliban beispielsweise in Kabul eine erfolgreiche Rettungsaktion eines entführten ausländischen Staatsangehörigen. In der Provinz Balkh führte eine Reaktion der Taliban gegen die Entführer im Februar 2023 zum Tod eines Entführers und zur Festnahme von zwei weiteren Personen (IOM 22.2.2024).

In einem Interview durchgeführt von EUAA in Kooperation mit dem schwedischen Migrationsamt (Migrationsverket), der Staatendokumentation und Landinfo gab ein afghanischer Forscher befragt zur Sicherheitslage an, dass die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Afghanistan zurückgegangen ist. Es gibt, seiner Einschätzung nach, keine Region in Afghanistan, in welcher oppositionelle Gruppen offen die Kontrolle haben. In Provinzen wie Panjsher, Baghlan, Badakhshan, Kunduz und Takhar, in denen es in der Vergangenheit zu Kämpfen zwischen den Taliban und verschiedenen Gruppierungen gekommen ist, verlief der Verkehr normal und Einheimische in der Region erzählten dem Forscher, dass es keine Zwischenfälle geben würde. Betreffend die Kapazitäten des NRF hatte er nur wenig Informationen, er schreibt dem ISKP jedoch zumindest die Möglichkeit operativer Aktivitäten zu, wobei er anfügt, dass die Taliban immer effizienter bei der Aushebung von ISKP-Zellen zu werden scheinen. Dies zeigt sich in einer entspannteren Sicherheitslage in beispielsweise Kabul und Herat. Der Forscher schließt daraus, dass weder der ISKP noch andere Gruppierungen aktuell wirklich ein Problem für die Taliban sind (VQ AFGH 3 1.10.2024).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul-Stadt, Herat-Stadt und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 70,7 % bzw. 79,7 % der Befragten an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.1.2022).

Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt. Diesmal ausschließlich in Kabul-Stadt. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 3.2.2023).

Sicherheitsrelevante Vorfälle und zivile Opfer nach Provinzen (25.11.2023 - 25.11.2024)

Letzte Änderung 2025-01-31 16:37

Sicherheitsrelevante Vorfälle laut ACLED und zivile Todesopfer laut UCDP zwischen November 2023 und November 2024

Quelle: erstellt vom Projekt-OSIF der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED (ACLED 13.1.2025) und UCDP (UCDP 9.12.2024)

Laut den von ACLED erfassten Daten fanden in allen drei angeführten Bereichen die meisten der Vorfälle in Ost-Afghanistan statt, wobei hier vor allem in Kabul ein Großteil der sicherheitsrelevanten Vorfälle stattfand (ACLED 13.1.2025).

Im Zeitraum zwischen 25.11.2023 und 25.11.2024 gab es die meisten zivilen Opfer (mehr als 60 %), gemäß UCDP, in Nord-Afghanistan. Ca. ein Viertel (100) gab es in Ost-Afghanistan. 30 Todesopfer gab es in Zentralafghanistan, 17 in West-Afghanistan und 2 in Süd-Afghanistan. Auf Provinzebene gab es die meisten Todesopfer in Badakhshan (168), gefolgt von Kabul (56) und Baghlan (44) (UCDP 9.12.2024).

Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Letzte Änderung 2025-01-14 16:00

Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitsbehörden abzusehen (AA 26.6.2023; vgl. USDOS 20.3.2023a), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer "schwarzen Liste" der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021b; vgl. DW 20.8.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 1.11.2021; vgl. NYT 29.8.2021), unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.8.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Irisscans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.3.2022). So wurde beispielsweise berichtet, dass ein ehemaliger Militäroffizier nach seiner Abschiebung von Iran nach Afghanistan durch ein biometrisches Gerät identifiziert wurde und danach von den Taliban gewaltsam zum Verschwinden gebracht wurde. Ein weiterer Rückkehrer aus Iran berichtet, dass im Zuge der Abschiebung aus Iran Daten der Rückkehrer vom iranischen Geheimdienst an die Taliban weitergegeben werden (KaN 18.10.2023).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung nutzt soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.8.2021; vgl. BBC 20.8.2021b, 8am 14.11.2022), was dazu führt, dass Afghanen seit der Machtübernahme der Taliban in den sozialen Medien Selbstzensur verüben, aus Angst und Unsicherheit (Internews 12.2023). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 9.1.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021). Ein hochrangiges Mitglied der ehemaligen Streitkräfte berichtet, dass ihm vor seiner Rückkehr verschiedene Versprechen gemacht wurden, er bei Ankunft auf dem Flughafen in Kabul jedoch wie ein Feind behandelt wurde. Er wurde sofort erkannt, da die Taliban sein Bild und weitere Informationen zu seiner Person über die sozialen Medien verbreiteten. Mit Stand Oktober 2023 lebt er in Kabul, sein Haus wurde mehrfach durch die Taliban durchsucht und sein Bankkonto gesperrt. Ein anderes Mitglied der ehemaligen Streitkräfte gab an, dass seine Informationen vor seiner Rückkehr auf Twitter [Anm.: jetzt X] verbreitet wurden und ein weiterer Rückkehrer berichtete, dass er eine biometrische Registrierung durchlaufen musste (KaN 18.10.2023).

Im Sommer 2023 wurde berichtet, dass die Taliban ein groß angelegtes Kameraüberwachungsnetz für afghanische Städte aufbauen (AI 5.9.2023; vgl. VOA 25.9.2023), das die Wiederverwendung eines Plans beinhalten könnte, der von den Amerikanern vor ihrem Abzug 2021 ausgearbeitet wurde, so ein Sprecher des Taliban-Innenministeriums. Die Taliban-Regierung hat sich auch mit dem chinesischen Telekommunikationsausrüster Huawei über eine mögliche Zusammenarbeit beraten, sagte der Sprecher (VOA 25.9.2023; vgl. RFE/RL 1.9.2023), wobei Huawei bestritt, beteiligt zu sein (RFE/RL 1.9.2023). Beobachter befürchten jedoch, dass die Taliban ihr Netz von Überwachungskameras auch dazu nutzen werden, abweichende Meinungen zu unterdrücken und ihre repressive Politik durchzusetzen (RFE/RL 1.9.2023), einschließlich der Einschränkung des Erscheinungsbildes der Afghanen, der Bewegungsfreiheit, des Rechts zu arbeiten oder zu studieren und des Zugangs zu Unterhaltung und unzensierten Informationen (RFE/RL 1.9.2023).

Zentrale Akteure

Taliban

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe (CFR 17.8.2022), die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.8.2022; vgl. USDOS 20.3.2023a). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USDOS 20.3.2023a; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.8.2022).

Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.8.2022; vgl. PJIA/Rehman 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. CFR 17.8.2022, PJIA/Rehman 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022; vgl. Afghan Bios 7.7.2022a, REU 7.9.2021a).

Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban sich von "einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität" zu entwickeln (EUAA 8.2022; vgl. NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021) und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022; vgl. REU 10.9.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021).

Haqqani-Netzwerk

Das Haqqani-Netzwerk hat seine Wurzeln im Afghanistan-Konflikt der späten 1970er-Jahre. Mitte der 1980er-Jahre knüpfte Jalaluddin Haqqani, der Gründer des Haqqani-Netzwerks (GSSR 12.11.2023), eine Beziehung zum Führer von al-Qaida, Osama bin Laden (UNSC o.D.c; vgl. FR24 21.8.2021). Jalaluddin schloss sich 1995 der Taliban-Bewegung an (UNSC o.D.c; vgl. ASP 1.9.2020), behielt aber seine eigene Machtbasis an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan (UNSC o.D.c). Der Kern der Ideologie der Gruppe ist eine antiwestliche, regierungsfeindliche und "sunnitisch-islamische Deobandi"-Haltung, die an die Einhaltung orthodoxer islamischer Prinzipien glaubt, die durch die Scharia geregelt werden, und die den Einsatz des Dschihad zur Erreichung der Ziele der Gruppe befürwortet. Die Haqqanis lehnen äußere Einflüsse innerhalb des Islams strikt ab und fordern, dass die Scharia das Gesetz des Landes ist (GSSR 12.11.2023).

Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 übernahm Jalaluddins Sohn, Sirajuddin Haqqani, die Kontrolle über das Netzwerk (UNSC o.D.c, vgl. VOA 4.8.2022). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.8.2021; vgl. UNSC o.D.c). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom (FR24 21.8.2021), auch wenn es den Taliban angehört (UNSC 21.11.2023; vgl. FR24 21.8.2021).

Das Netzwerk unterhält Verbindungen zu al-Qaida und, zumindest zeitweise bis zur Machtübernahme der Taliban, der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) (VOA 30.8.2022; vgl. UNSC 26.5.2022). Es wird angemerkt, dass nach der Machtübernahme und der Eskalation der ISKP-Angriffe kein Raum mehr für Unklarheiten in der strategischen Konfrontation der Taliban mit ISKP bestand und es daher nicht im Interesse der Haqqanis lag, solche Verbindungen zu pflegen (UNSC 26.5.2022). Zudem wird vermutet, dass auch enge Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst (VOA 30.8.2022; vgl. DT 7.5.2022) und den Tehreek-e-Taliban (TTP), den pakistanischen Taliban, bestehen (UNSC 26.5.2022).

Anti-Taliban-Widerstandsgruppen / politische Opposition

Letzte Änderung 2024-04-05 15:37

Eine formelle, organisierte politische Opposition im Land ist nicht vorhanden (AA 26.6.2023; vgl. TN 16.8.2023, FH 9.3.2023). Eine Reihe ehemaliger politischer Akteure, sowohl aus ehemaligen Regierungskreisen als auch aus der ehemaligen politischen Opposition, befinden sich im Ausland (AA 26.6.2023). Der Kampf gegen die Taliban ist unter ehemaligen afghanischen Amtsträgern zu einem umstrittenen Thema geworden, auch wenn die politische Opposition gegen das Machtmonopol der Taliban und ihre extremistische Politik stärker geworden ist (VOA 6.12.2023). Auch wenn die politische Opposition im Ausland als zersplittert gilt, wurde diese jedoch aktiver und fordert die Taliban in innen- und außenpolitischen Fragen heraus (UNGA 1.12.2023). Einige prominente Politiker, wie der ehemalige Vorsitzende des Hohen Rates für Nationale Versöhnung, Abdullah Abdullah, und der ehemalige Präsident Hamid Karzai, befinden sich weiterhin in Kabul. Ihr Aktionsradius ist äußerst eingeschränkt, ihre öffentlichen Äußerungen sind von großer Zurückhaltung geprägt (AA 26.6.2023). Karzai und auch der andere ehemalige Präsident, Ashraf Ghani, haben sich beide gegen einen Sturz der Taliban durch Krieg ausgesprochen und plädieren stattdessen für eine friedliche Lösung (VOA 6.12.2023). Die ehemalige Bürgermeisterin von Maidan Shar, Zarifa Ghafari, ist eine der wenigen Politikerinnen, die seit der Machtübernahme temporär nach Kabul zurückgekehrt ist (AA 26.6.2023). Abdul Hakim Sharai, amtierender Justizminister der Taliban, untersagte am 16.8.2023 auf einer Pressekonferenz jegliche politische Betätigung von Parteien im Land. Er sagte, dass die Existenz politischer Parteien im Land weder auf der Scharia basiere, noch für die Nation von Vorteil sei (BAMF 31.12.2023; vgl. TN 16.8.2023).

In Afghanistan gibt es eine Reihe verschiedener Gruppierungen, die sich der Taliban-Herrschaft widersetzen (EUAA 12.2023). Auch wenn diese ähnliche oder identische Ziele verfolgen, findet zwischen diesen Gruppierungen wenig bis gar keine Koordinierung bzw. Zusammenarbeit statt (EUAA 12.2023; vgl. FP 14.12.2023, VOA 28.4.2022). Obwohl das Taliban-Regime international geächtet und für seine frauenfeindliche Politik verurteilt wird, hat bisher kein Land die Unterstützung für einen Krieg gegen die Taliban angeboten und auch die Vereinigten Staaten, die die Taliban 20 Jahre lang bekämpft haben, haben davon abgesehen, die Anti-Taliban-Aufständischen zu unterstützen. Die Taliban haben den bewaffneten Aufstand heruntergespielt (VOA 6.12.2023) und auch internationale Experten gehen nicht davon aus, dass die bewaffneten Gruppen, die in Afghanistan aktiv sind und gegen die Taliban kämpfen, eine tatsächliche Gefahr für das Regime darstellen (EUAA 12.2023; vgl. AA 26.6.2023, UNGA 1.12.2023). Ein Experte gab an, dass die Aufständischen zumindest in naher Zukunft nicht über genügend Kräfte verfügen, um die Taliban zu stürzen, aber sie scheinen das islamistische Regime vor politische und ordnungspolitische Herausforderungen zu stellen. Auch haben viele Länder, obwohl sie keine der Kriegsparteien in Afghanistan unterstützen, die Anführer der aufständischen Anti-Taliban-Gruppen und andere afghanische Politiker, die gegen die Taliban sind, eingeladen. Die Taliban haben öffentlich ihre Frustration gegenüber Ländern geäußert, die ihre Gegner empfangen, während die meisten Taliban-Führer aufgrund von Sanktionen der Vereinten Nationen nicht reisen können (VOA 6.12.2023).

Im Jahr 2023 ging die Zahl der Angriffe der bewaffneten Opposition und der bewaffneten Zusammenstöße mit den Taliban-Behörden im Vergleich zum Vorjahr zurück (UNGA 1.12.2023; vgl. UNGA 20.6.2023). UNAMA verzeichnete Angriffe, zu denen sich die drei wichtigsten in Afghanistan tätigen bewaffneten Widerstandsgruppen bekannten. Die National Resistance Front (NRF), die Afghanistan Freedom Front (AFF) und das Afghanistan Liberation Movement (ALM) übernahmen die Verantwortung für Angriffe in acht Provinzen. Die Sicherheitskräfte, die dem Taliban-Verteidigungsministerium unterstehen, führten weiterhin Operationen gegen Oppositionskämpfer durch (UNGA 20.6.2023).

Sicherheitsrelevante Vorfälle nach Widerstandsgruppen in 2023

Quelle: ACAPS 1.10.2023

In den ersten drei Monaten des Jahres 2023 operierten die vorgenannten Gruppen in den Provinzen Badakhshan, Balkh, Helmand, Jawzjan, Kabul, Kandahar, Kapisa, Nangarhar, Nuristan, Parwan, Samangan und Takhar. Bis September führten sie Operationen in fünf weiteren Provinzen durch (Baghlan, Ghazni, Kunduz, Laghman und Paktika). Die Zahl der Angriffe stieg von 23 (Jänner-März) auf 57 (Juni-August). Obwohl die militärischen Fähigkeiten dieser Gruppen insgesamt unklar sind, haben die Taliban immer wieder signalisiert, dass sie die von ihnen ausgehende Bedrohung ernst nehmen, indem sie eine große Zahl von Truppen und Militärführern in den nördlichen Provinzen stationiert haben (ACAPS 1.10.2023).

Die AFF war im dritten Quartal 2023 die aktivste Gruppe, auch wenn ihre Angriffe weiterhin von geringem Umfang waren, während die NRF deutlich weniger aktiv war als 2022 und in ihrer traditionellen Hochburg Panjsher keine Angriffe verübte (UNGA 1.12.2023).

National Resistance Front (NRF)

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Im Panjsher-Tal, rund 145 km von Kabul entfernt (DIP 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 die National Resistance Front (NRF) (AA 26.6.2023; vgl. LWJ 6.9.2021, ANI 6.9.2021). Die Gruppierung wird von Ahmed Massoud angeführt (REU 29.9.2023; vgl. Afintl 20.2.2024).

Die NRF besteht Berichten zufolge aus Zivilisten, ehemaligen ANDSF-Mitarbeitern (SIGAR 30.4.2022; vgl. RFE/RL 13.5.2022) und ehemaligen Mitgliedern der Regierung sowie politischen Opposition (UNGA 28.1.2022). Die meisten Mitglieder der Gruppe sind ethnische Tadschiken (RFE/RL 19.5.2022; vgl. AJ 17.10.2022). Die NRF besteht auch aus mehreren regionalen Einheiten, deren Kommandeure loyal zu Massoud sind (VOA 28.4.2022; vgl. REU 30.11.2022). Unter den Kämpfern sind auch Einheiten der ehemaligen afghanischen Armee (BBC 16.5.2022; vgl. BAMF 10.2022).

Im Jahr 2022 berichteten Medien von mehreren Angriffen, die vor allem auf Kontrollpunkte und Außenposten der Taliban abzielten und der NRF zugeschrieben wurden (NYT 4.3.2022), wobei von verstärkten Kämpfen im Jänner/Februar (ACLED/APW 4.2022; vgl. 8am 25.5.2022, 8am 17.1.2022) sowie im Mai 2022 berichtet wurde (RFE/RL 19.5.2022; vgl. 8am o.D.). Aus dem Panjsher-Tal wurde berichtet, dass Angriffe auf Taliban-Stellungen regelmäßig stattfanden und Dutzende von Menschen, sowohl Taliban-Kämpfer (VOA 14.9.2022; vgl. Telegraph 12.5.2022) als auch Mitglieder der Widerstandsbewegung, getötet worden waren (VOA 14.9.2022; vgl. AMU 14.9.2022, AN 18.10.2022). Auch in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 gingen die Kämpfe zwischen NRF und den Taliban weiter. Zusammenstöße gibt es in den Provinzen Panjsher (Afintl 15.8.2022; vgl. AJ 14.9.2022, 8am 13.10.2022, AMU 13.12.2022), Takhar (8am 14.8.2022; vgl. Aamaj 21.8.2022, 8am 23.10.2022), Baghlan (8am 17.8.2022; vgl. KP 21.8.2022, Afintl 12.12.2022), Khost (8am 13.8.2022), Kapisa (Aamaj 24.8.2022; vgl. 8am 21.11.2022) und Badakhshan (Afintl 11.10.2022b; vgl. AMU 13.12.2022, Afintl 26.12.2022).

Auch wenn die Angriffe der NRF im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr abnahmen (UNGA 20.6.2023; vgl. UNGA 1.12.2023), kam es weiterhin zu Zusammenstößen mit den Taliban. So kam es nach Angaben der NRF zu Kämpfen beispielsweise in Baghlan (Afintl 18.7.2023; vgl. KaN 18.7.2023), Kabul (Afintl 5.8.2023), Badakhshan (KaN 8.8.2023; vgl. Afintl 8.8.2023), Parwan, Kapisa und Nuristan (KaN 8.8.2023). Im November 2023 haben die NRF und die AFF, nach eigenen Erklärungen auf X, mindestens 50 Talibankämpfer getötet (VOA 6.12.2023).

Weitere Widerstandsbewegungen

Letzte Änderung 2025-01-14 16:00

Afghanistan Freedom Front (AFF)

Die AFF erklärte ihre Gründung am 11.3.2022 (SIGA 7.4.2022; vgl. VOA 28.4.2022). Zwar gab die Gruppierung ihre Führungspersönlichkeiten nicht offiziell bekannt, jedoch wird vermutet, dass General Yasin Zia, ein ehemaliger Verteidigungsminister und Generalstabschef, zu den Anführern der Gruppe gehört (VOA 28.4.2022). Eigenen Angaben zufolge zählt die AFF "Tausende Kämpfer" und ist "in allen 34 Provinzen Afghanistans aktiv", wobei diese Behauptungen nicht durch andere Quellen belegt werden können. Die Gruppe veröffentliche regelmäßig Videos von Anschlägen, die sie für sich reklamiert, unter anderem in den Provinzen Kapisa, Parwan, Takhar, Baghlan, Sar-e Pul, Badakhshan und Kandahar, wobei auch hier eine unabhängige Überprüfung dieser Behauptungen schwierig ist (SIGA 7.4.2022). Die AFF scheint aus einzelnen Milizen zu bestehen, die sich zu der Front zusammengeschlossen haben (BAMF 10.2022). So wurden im August 2022 Videos von drei Gruppen in den Provinzen Farah (BAMF 10.2022; vgl. 8am 20.8.2022), Ghor und Faryab gepostet, die ihren Kampf gegen die Taliban als Teil der AFF ankündigten (BAMF 10.2022). Ein Angriff der AFF auf eine Polizeistation in Takhar am 23.3.2022 wurde von den Taliban bestätigt (SIGA 7.4.2022).

Die AFF verübte im August 2023 nach eigenen Angaben einen Angriff auf einen Taliban-Stützpunkt in Parwan, bei dem fünf Taliban-Mitglieder getötet und drei weitere verletzt wurden (KaN 15.8.2023; vgl. Afintl 15.8.2023). Berichten zufolge wurden bei einem Angriff der AFF in Laghman am 3.9.2023 zwei Taliban getötet und vier weitere verletzt (KaN 3.9.2023). Darauf erfolgte ein Gegenangriff der Taliban gegen die AFF in verschiedenen Regionen des Distriktes Dawlat Shah in Laghman (Afintl 31.8.2023). Im November haben die NRF und die AFF, nach eigenen Erklärungen auf X [Anm.: ehemals Twitter], mindestens 50 Talibankämpfer getötet (VOA 6.12.2023).

Afghanistan Liberation Movement (ALM)

Das Afghanistan Liberation Movement (auch Afghanistan Islamic National and Liberation Movement) (ALM) (CT 29.11.2022) gab seine Gründung Mitte Februar 2022 bekannt. Es wird angenommen, dass es die bislang einzige Anti-Taliban-Bewegung ist, die zum größten Teil aus Paschtunen besteht. Sie wird von Abdul Matin Suleimankhel angeführt, einem Kommandeur der ehemaligen ANA Special Operations Corps (SIGA 7.4.2022; vgl. VOA 14.9.2022). Mitte März 2022 gab die Gruppierung an, dass sie über "Tausende Kämpfer" in mehr als zwei Dutzend Provinzen verfügen würde, wobei sich ihre Aktivitäten offenbar hauptsächlich auf die von Paschtunen bewohnten südlichen und östlichen Teile des Landes konzentrieren (Helmand, Kandahar, Paktika und Nangarhar) (SIGA 7.4.2022). Experten zufolge sind die Kapazitäten und Fertigkeiten der Gruppe begrenzter als von ihr behauptet (SIGA 7.4.2022; vgl. VOA 28.4.2022). Die Gruppierung beansprucht verschiedene Angriffe auf die Taliban in den Jahren 2022 (SIGA 7.4.2022) und 2023 für sich (UNGA 20.6.2023; vgl. ACAPS 1.10.2023).

Weitere Gruppierungen

Zu den anderen Widerstandsgruppen, die ihre Präsenz angekündigt haben, gehören die Turkestan Freedom Tigers, die Berichten zufolge am 7.2.2022 einen kleinen Angriff auf einen Kontrollpunkt der Taliban in der Nähe der Stadt Sheberghan (Provinz Jawzjan) verübt haben (ISW 13.1.2023), der National Resistance Council (dem angeblich eine Reihe prominenter Anti-Taliban-Persönlichkeiten aus dem Exil wie Ata Mohammad Noor und Abdul Rashid Dostum angehören), die Liberation Front of Afghanistan, die Unknown Soldiers of Hazaristan, die angeblich aus Hazara bestehende Freedom and Democracy Front und eine Gruppe namens Freedom Corps (angeblich in Teilen der Provinz Takhar aktiv) (SIGA 7.4.2022; vgl. VOA 28.4.2022). Über die Führung und die Fähigkeiten dieser Gruppen ist wenig bekannt (VOA 28.4.2022). Im Dritten Quartal 2023 gaben vier weitere Widerstandsgruppen ihre Existenz bekannt - die Afghanistan National Guard Front, die National Mobilization Front, die National Battle Front und die Afghanistan United Front - wobei sich die beiden letztgenannten Gruppen, mit Stand November 2023, zu keinen Anschlägen bekannten (UNGA 1.12.2023).

Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh) bzw. Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) in Afghanistan gehen auf die Jahre 2014/2015 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015, MEE 27.8.2021). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP), wobei "Khorasan" die historische Bezeichnung einer Region ist, welche Teile des heutigen Iran, Zentralasiens, Afghanistans und Pakistans umfasst (EB 3.1.2023; vgl. MEE 27.8.2021). Zu seinen Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.8.2017).

Während die Taliban bereits in der Vergangenheit behaupteten, sie hätten den Aufstand des ISKP im Land unter Kontrolle gebracht und fast besiegt (AOV 20.3.2022; vgl. ICCT 30.1.2024), sehen externe Beobachter hingegen diesen häufig auf dem Vormarsch (ICCT 30.1.2024). So bewerten die Vereinten Nationen und das United States Institute of Peace den ISKP aktuell als die schwerwiegendste terroristische Bedrohung in Afghanistan und der gesamten Region (UNSC 25.7.2023; vgl. USIP 7.6.2023, VOA 6.12.2023). Der ISKP hat schätzungsweise 4.000 bis 6.000 Mitglieder, einschließlich Familienangehörige. Sanaullah Ghafari (alias Shahab al-Muhajir) wird als der Anführer des ISKP angesehen (UNSC 25.7.2023), jedoch wurde im Juni 2023 berichtet, dass Ghafari in Afghanistan getötet worden ist (VOA 9.6.2023; vgl. UNSC 25.7.2023).

Das "Kerngebiet" des ISKP bleibt Afghanistan und Pakistan. Obwohl der ISKP zunächst als ein von Pakistan dominiertes Netzwerk auftrat, konzentrierte es sich bald auf Afghanistan. Dort hat es seine Strategie von der Kontrolle des Territoriums auf die Führung eines urbanen Krieges umgestellt. Es stellte eine ernsthafte Sicherheitsbedrohung für die frühere afghanische Regierung dar und versucht nun, die Regierungsbemühungen der Taliban zu stören (USIP 7.6.2023). Die Kernzellen des ISKP in Afghanistan befinden sich vor allem in den östlichen Provinzen Kunar, Nangarhar und Nuristan in Afghanistan, wobei eine große Zelle in Kabul und Umgebung aktiv ist. Kleinere Gruppen wurden in den nördlichen und nordöstlichen Provinzen Badakhshan, Faryab, Jawzjan, Kunduz, Takhar und Balkh entdeckt. Da Balkh eine der wirtschaftlich am weitesten entwickelten Provinzen im Norden ist, ist sie für den ISKP nach wie vor von vorrangigem Interesse in Hinblick auf die Erzielung von Einnahmen (UNSC 13.2.2023).

Die Gruppe geht bei ihren Anschlägen gegen die Taliban und internationale Ziele immer raffinierter vor und konzentriert sich auf die Durchführung einer Strategie mit öffentlichkeitswirksamen Anschlägen, um die Fähigkeit der Taliban zur Gewährleistung der Sicherheit zu untergraben. Insgesamt zeigten die Angriffe des ISKP starke operative Fähigkeiten in den Bereichen Aufklärung, Koordination, Kommunikation, Planung und Ausführung. Darüber hinaus haben die Anschläge gegen hochrangige Taliban-Persönlichkeiten in den Provinzen Balkh, Badakhshan und Baghlan die Moral des ISKP gestärkt und die Rekrutierung gefördert (UNSC 25.7.2023). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara (UNGA 1.12.2023; vgl. HRW 12.1.2023, UNGA 18.9.2023).

Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die Angriffe des ISKP seit der Machtübernahme der Taliban folgend:

19.8.2021 - 31.12.2021: 152 Angriffe in 16 Provinzen (20 Angriffe in 5 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 28.1.2022)

1.1.2022 - 21.5.2022: 82 Angriffe in 11 Provinzen (192 Angriffe in 6 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 15.6.2022)

22.5.2022 - 16.8.2022: 48 Angriffe in 11 Provinzen (113 Angriffe in 8 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 14.9.2022)

17.8.2022 - 13.11.2022: 30 Angriffe in 6 Provinzen (121 Angriffe in 14 Provinzen im Jahr davor (UNGA 7.12.2022)

14.11.2022 - 31.1.2023: 16 Angriffe in 4 Provinzen (53 Angriffe in 6 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 27.2.2023)

1.2.2023 - 20.5.2023: 11 Angriffe in 5 Provinzen (62 Angriffe in 12 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 20.6.2023)

21.5.2023 - 31.7.2023: 5 Angriffe in 3 Provinzen (34 Angriffe in 8 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 18.9.2023)

1.8.2023 - 7.11.2023: 8 Angriffe in 3 Provinzen (27 Angriffe in 6 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 1.12.2023)

Seit Mitte 2022 gehen die Angriffe des ISKP zurück (UNGA 7.12.2022), ein Trend, der sich auch im Jahr 2023 fortsetzt (ICCT 30.1.2024; vgl. UNGA 27.2.2023, UNGA 20.6.2023, UNGA 18.9.2023, UNGA 1.12.2023). Im April und Mai 2023 gab es keinen einzigen bestätigten Anschlag. Von Juni bis September konnte der ISKP nur ein oder zwei Anschläge pro Monat verüben, darunter auch Schüsse auf Taliban-Patrouillen. Ab Oktober kam es zu einem bescheidenen Wiederaufschwung, aber selbst dann gab es nur vier bestätigte Anschläge in diesem Monat, darunter zwei mit Sprengstoff (ICCT 30.1.2024).

Ein Bericht verweist im Zusammenhang mit den abnehmenden Aktivitäten des ISKP einerseits auf erfolgreiche Razzien der Taliban gegen die Gruppierung (ICCT 30.1.2024; vgl. UNSC 29.1.2024) und andererseits auf fehlende finanzielle Mittel (ICCT 30.1.2024).

Beispiele für Angriffe des ISKP seit der Machtübernahme der Taliban

Der ISKP bekannte sich zu Selbstmordanschlägen auf eine sunnitische Moschee in Kabul am 3.10.2021 (UNGA 28.1.2022; vgl, REU 4.10.2021a) und auf zwei schiitische Moscheen in den Städten Kunduz am 8.10.2021 (UNGA 28.1.2022; vgl. TN 9.10.2021) und Kandahar am 15.10.2021 (UNGA 28.1.2022; vgl. KP 16.10.2021) sowie zu einem Anschlag auf ein Militärkrankenhaus in Kabul am 2.11.2021 (UNGA 28.1.2022; vgl. 8am 3.11.2021).

Im April 2022 führte der ISKP Anschläge in einem Erholungsgebiet in Herat (UNGA 15.6.2022), auf eine schiitische Moschee in Mazar-e Sharif (UNGA 15.6.2022; vgl. DW 21.4.2022) sowie auf eine Madrassa in Kunduz durch (UNGA 15.6.2022; vgl. PAN 23.4.2022). Außerdem gab es Angriffe auf zwei Kleinbusse in Mazar-e Sharif (UNGA 15.6.2022; vgl. AJ 28.4.2022) und auf einen Kleinbus in Kabul (UNGA 15.6.2022; vgl. FR24 1.5.2022).

Am 22.5.2022 kam es zu Anschlägen auf eine Zeremonie zum Jahrestag des Todes von Mullah Akhtar Mohammad Mansour in Kabul und am 25.5.2022 auf drei Kleinbusse in Mazar-e Sharif (UNGA 14.9.2022; vgl. AJ 25.5.2022). Am 18.6.2022 griff der ISKP einen Sikh-Tempel in Kabul an (UNGA 14.9.2022; vgl. TN 18.6.2022) und am 4.7.2022 einen Bus mit Taliban-Sicherheitskräften in Herat (UNGA 14.9.2022; vgl. Afintl 5.7.2022).

Im August kam es zu einer Reihe von Angriffen durch den ISKP in Kabul. Am 8.8.2022 beispielsweise wurden bei einem Bombenanschlag auf eine schiitische Moschee in Kabul mindestens acht Menschen getötet (VOA 5.8.2022; vgl. REU 5.8.2022). In der Vorwoche führten die Sicherheitskräfte der Taliban eine Razzia gegen eine ISKP-Zelle in der afghanischen Hauptstadt durch, bei der sie vier Kämpfer töteten und einen weiteren bei dem anschließenden Feuergefecht gefangen nahmen. Die Taliban sagten in einer Erklärung nach der Razzia, dass der ISKP "Anschläge auf unsere schiitischen Landsleute während der laufenden Muharram-Rituale" geplant hatten (VOA 5.8.2022). Am 11.8.2022 wurde ein prominenter afghanischer Geistlicher bei einem Selbstmordanschlag durch den ISKP getötet (BBC 11.8.2022; vgl. VOA 11.8.2022). Am 18.8.2022 kam es zu einem weiteren Anschlag auf eine Moschee in Kabul, bei dem mindestens 21 Personen getötet und 33 verletzt wurden. Auch hier war ein prominenter afghanischer Geistlicher unter den Opfern (AP 18.8.2022; vgl. BBC 18.8.2022).

Des Weiteren beansprucht der ISKP einen Selbstmordanschlag auf die russische Botschaft in Kabul am 5.9.2022 für sich (UNGA 7.12.2022; vgl. KP 6.9.2022). Zu Angriffen auf Sicherheitskräfte der Taliban, bei denen auch Zivilisten getötet wurden, kam es am 10.10.2022 in Laghman (UNGA 7.12.2022; vgl. Afintl 11.10.2022a) und am 27.10.2022 in Herat (UNGA 7.12.2022; vgl. 8am 27.10.2022).

Am 22.10.2022 haben die Taliban eine Zelle des ISKP in Kabul ausgehoben, dabei gab es mehrere Explosionen und Schusswechsel. Sechs Mitglieder des ISKP wurden dabei getötet. Nach Angaben der Taliban waren sie in die Anschläge auf die Wazir Akbar Khan Moschee und die Bildungseinrichtung im September beteiligt (REU 22.10.2022; vgl. VOA 22.10.2022).

Bei einer Explosion außerhalb des Militärflughafens von Kabul wurden am 1.1.2023 mehrere Menschen getötet oder verletzt (REU 1.1.2023; vgl. RFE/RL 1.1.2023). Nach Angaben der Taliban war für den Angriff der ISKP verantwortlich. Am 5.1.2023 kam es zu Razzien in Kabul und Nimroz, die gegen die Verantwortlichen der Attacke gerichtet waren. Acht ISKP-Mitglieder wurden getötet und neun weitere verhaftet (AP 5.1.2023; vgl. AJ 5.1.2023).

Nach Angaben der Taliban-Behörden wurden bei einem Selbstmordanschlag vor dem Außenministerium am 27.3.2023 in Kabul mindestens sechs Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt (VOA 27.3.2023; vgl. AJ 27.3.2023). Der ISKP bekannte sich zu dem Anschlag (VOA 27.3.2023). Am 13.10.2023 kam es zu einer Explosion zum Freitagsgebet in der schiitischen Imam Zaman Moschee in der Hauptstadt Pul-e Khumri in Baghlan (Afintl 13.10.2023; vgl. RFE/RL 14.10.2023). Berichten zufolge sollen bis zu 30 Personen getötet worden sein (BAMF 31.12.2023). Der Islamische Staat bekannte sich zu der Tat (BAMF 31.12.2023; vgl. RFE/RL 14.10.2023).

Am 26.10.2023 kam es zu einem Bombenanschlag auf einen Sportklub im vornehmlich von Hazara besiedelten Distrikt Dasht-e Barchi. Dabei sollen mehrere Personen getötet und verletzt worden sein. Der Islamische Staate bekannte sich zu der Tat (FR24 27.10.2023; vgl. VOA 28.10.2023, UNGA 1.12.2023).

Al-Qaida und weitere bewaffnete Gruppierungen

Letzte Änderung 2025-01-14 15:59

Al-Qaida

Es gibt Berichte über Spannungen zwischen Taliban und hochrangigen al-Qaida-Mitgliedern, die sich über Kontrollversuche ärgern, aber die Beziehungen sind nach wie vor eng (UNSC 29.1.2024), wobei al-Qaida das von den Taliban verwaltete Afghanistan als sicheren Hafen betrachtet. Al-Qaida ist nach wie vor bestrebt, ihre Position in Afghanistan zu stärken, und interagiert mit den Taliban, indem sie das Regime unterstützt und hochrangige Taliban-Persönlichkeiten schützt (UNSC 1.6.2023a). Am 1.8.2022 gab der US-Präsident bekannt, dass der Anführer von al-Qaida, Ayman Mohammed Rabie al-Zawahiri, bei einem Drohnenangriff in der Innenstadt von Kabul getötet wurde (BBC 2.8.2022; vgl. VOA 2.8.2022). Berichten zufolge befindet sich der neue de facto Anführer von al-Qaida, Saif al-Adel mit Stand Februar 2024 in Iran (IRINTL 8.3.2024; vgl. KP 27.2.2024). Die Taliban-Führung gab an, sie habe keine Informationen darüber, dass al-Zawahiri nach Kabul gezogen sei und sich dort aufgehalten habe, während er sich nach Angaben von US-Beamten in einer Wohnung von Sirajuddin Haqqani [Anm.: dem Innenminister der Taliban-Übergangsregierung] aufhielt (FR24 4.8.2022; vgl. Guardian 5.8.2022).

Die Zahl der al-Qaida-Kernmitglieder in Afghanistan blieb mit 30 bis 60 stabil, wobei es sich hauptsächlich um hochrangige Persönlichkeiten in Kabul, Kandahar, Helmand und Kunar handelte. Die Anzahl der Kämpfer (ca. 400), deren Familienmitglieder und Unterstützer werden auf ca. 2.000 geschätzt, die im Süden (Provinzen Helmand, Zabul und Kandahar), im Zentrum (Ghazni, Kabul und Parwan) und im Osten (Kunar, Nangarhar und Nuristan) Afghanistans operieren (UNSC 1.6.2023a).

Berichten zufolge hält sich "al-Qaeda in the Indian Subcontinent" (AQIS), eine der Kernorganisation von al-Qaida untergeordnete Organisation, auch innerhalb Afghanistans auf (UNSC 26.5.2022), wobei die Anzahl ihrer Kämpfer auf ca. 180 bis 400 geschätzt wird (UNSC 1.6.2023b; vgl. CRS 19.4.2022), die in den Provinzen Kandahar, Nimroz, Farah, Helmand und Herat stationiert sein sollen. Ihr Anführer Osama Mahmood und sein Stellvertreter Atif Yahya Ghouri sollen sich beide in Afghanistan aufhalten (UNSC 1.6.2023b). Einem Report des UN-Sicherheitsrates zufolge unterstützt AQIS die Tehreek-e Taliban Pakistan (TTP) bei Operationen und arbeitet an der Verbesserung von deren Fähigkeiten (UNSC 29.1.2024).

Laut einem Bericht des UN-Sicherheitsrates vom Jänner 2024 hat al-Qaida in Afghanistan bis zu acht neue Ausbildungslager eingerichtet, darunter vier in den Provinzen Ghazni, Laghman, Parwan und Uruzgan, sowie einen neuen Stützpunkt zur Lagerung von Waffen im Panjsher-Tal. Einige Lager könnten vorübergehend sein. Fünf al-Qaida-Madrasas operieren dem Bericht zufolge in den Provinzen Laghman, Kunar, Nangarhar, Nuristan und Parwan; die Gruppe unterhält sichere Unterkünfte in den Provinzen Herat, Farah und Helmand, um den Verkehr zwischen Afghanistan und der Islamischen Republik Iran zu erleichtern, sowie weitere sichere Unterkünfte in Kabul (UNSC 29.1.2024).

Tehreek-e Taliban Pakistan (TTP)

Die TTP, auch bekannt als pakistanische Taliban, ist eine militante Gruppe, deren Ziele sich gegen die pakistanische Regierung richten. Sie hat sich jedoch auch in der Vergangenheit mit den afghanischen Taliban an Operationen gegen die afghanische Regierung in Afghanistan beteiligt (CRS 19.4.2022) und wird einem Bericht des UN-Sicherheitsrates vom Jänner 2024 zufolge von al-Qaida unterstützt (UNSC 29.1.2024). Die Vereinten Nationen schätzten im Mai 2022, dass die Gruppe über 3.000 bis 4.000 bewaffnete Kämpfer in den afghanisch-pakistanischen Grenzgebieten verfügt (UNSC 1.6.2023b), während ein unabhängiger afghanischer Analyst im Jahr 2022 schätzte, dass die TTP rund 10.000 Mitglieder in Afghanistan hat (EUAA 8.2022). Die Gruppe operiert von Stützpunkten in Afghanistan aus (UNSC 29.1.2024) und ist vor allem in den östlichen Provinzen Nangarhar, Kunar, Logar, Paktika, Paktia und Khost stationiert, wobei ihre Anführer, Mufti Noor Wali Mehsud, und sein Stellvertreter, Qari Amjad Ali, nach Informationen der Vereinten Nationen vom Juni 2023 in den Provinzen Paktika bzw. Kunar aufhältig sind (UNSC 1.6.2023b). TTP ist zunehmend in Pakistan präsent; im Jahr 2021 eskalierte sie ihre Angriffe gegen pakistanische Sicherheitskräfte und chinesische Einrichtungen in Pakistan. Nach der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan erneuerte der TTP-Führer Noor Wali Mehsud öffentlich sein Treuegelöbnis gegenüber dem obersten Führer der afghanischen Taliban. Darüber hinaus signalisierte al-Qaida, dass sie weiterhin mit der TTP zusammenarbeitet (CRS 19.4.2022). Nach dem Treuegelöbnis der Gruppe konnte man nach Angaben eines unabhängigen afghanischen Analysten beobachten, dass sich die TTP-Mitglieder in den afghanischen Großstädten "frei bewegen" konnten, im Gegensatz zur Situation vor der Machtübernahme, als die TTP Zufluchtsorte in abgelegenen Gebieten hatte (EUAA 8.2022). Auch ein weiterer Experte stellte fest, dass die Rückkehr der afghanischen Taliban die Macht die Gruppierung gestärkt hat. Nachdem die afghanischen Taliban Hunderte von TTP-Mitgliedern aus den Gefängnissen in Kabul freigelassen hatten (CEIP 21.12.2021), startete die TTP zahlreiche Anschläge und Operationen in Pakistan (UNSC 26.5.2022). Mitte Februar 2022 griff das pakistanische Militär mit Artillerie TTP-Stellungen in den Distrikten Naray und Sarkano (Provinz Kunar) an, nachdem TTP-Mitglieder pakistanische Grenzposten angegriffen hatten. Nach den pakistanischen Angriffen schickte die Taliban-Regierung Berichten zufolge Verstärkung in das Gebiet (ISW 13.1.2023). Anfang Juni 2022 kündigte die TTP nach geheimen Gesprächen zwischen TTP- und pakistanischen Militärvertretern einen Waffenstillstand mit Pakistan für die Dauer von drei Monaten an. Diese Gespräche waren von den afghanischen Taliban vermittelt worden (USIP 21.6.2022). Neben der Lieferung von Waffen und Ausrüstung unterstützten Taliban-Kader, al-Qaida und AQIS-Kämpfer die TTP-Kräfte bei grenzüberschreitenden Angriffen. Obwohl die Taliban die TTP-Kämpfer angewiesen haben, sich nicht an Operationen außerhalb Afghanistans zu beteiligen, haben viele von ihnen dies ohne erkennbare Folgen getan. Einige Taliban-Mitglieder schlossen sich auch der TTP an, da sie sich aus religiösen Gründen verpflichtet sahen, diese zu unterstützen (UNSC 29.1.2024).

Eastern (oder East) Turkistan Islamic Movement (ETIM)

Das Eastern Turkistan Islamic Movement (ETIM), auch bekannt als "Turkistan Islamic Party" (TIP), strebt die Schaffung eines unabhängigen islamischen Staates für die turksprachigen Uiguren an, die im Westen Chinas leben (CRS 19.4.2022). Laut einem Bericht der Vereinten Nationen ist die ETIM weiterhin in Afghanistan aktiv und die Schätzungen zur Größe der Gruppe reichen von 300 bis zu 1.200 Mitgliedern (UNSC 1.6.2023b). Nach der Machtübernahme durch die Taliban wurden Berichten zufolge einige ETIM-Mitglieder aus der Provinz Badakhshan in Provinzen verlegt, die weiter von der chinesischen Grenze entfernt sind (UNSC 26.5.2022; vgl. RFE/RL 5.10.2021), unter anderem in die Provinz Nangarhar (RFE/RL 5.10.2021), als Teil der Versuche der Taliban, einerseits die Gruppe zu schützen und andererseits ihre Aktivitäten einzuschränken (UNSC 26.5.2022). Im Jahr 2023 wird berichtet, dass die ETIM weiterhin Waffen erwirbt und neue Stützpunkte in Afghanistan errichtet. Einige ETIM-Mitglieder sollen im Jahr 2022 afghanische Pässe und Tazkira erhalten haben, die ihnen die Infiltration in Nachbarländer ermöglichen. Die Gruppe hat ihren Aktionsradius aktiv ausgeweitet und in der Provinz Baghlan Operationsbasen und Waffenlager errichtet, während sie in den Provinzen Badakhshan, Takhar, Kunduz, Baghlan, Logar und Sar-e Pul weiterhin präsent bleibt. ETIM-Kämpfer unterstützen die Taliban im Kampf gegen Anti-Taliban-Elemente (UNSC 1.6.2023b).

Nach dem Umzug aus der Provinz Badakhshan hat die ETIM/TIP nun ihren Hauptsitz in der Provinz Baghlan und verfügt über operative Netzwerke, die sich auf mehrere Provinzen erstrecken. Die Gruppe konzentriert sich auf die Ausbildung von Jugendlichen in Reservekräften und verstärkt die Rekrutierung und Ausbildung von Frauen. Es wird über Zusammenarbeit der Gruppierung mit der TTP sowie al-Qaida berichtet und einige Mitglieder sollen zum ISKP übergelaufen sein (UNSC 29.1.2024).

Jamaat Ansarullah (JA)

Jamaat Ansarullah ist eine Gruppe, die eng mit al-Qaida verbunden ist und eine symbiotische Beziehung zu den Taliban unterhält. Sie kämpfte an der Seite von deren Spezialeinheiten in zahlreichen Offensiven gegen die Nationale Widerstandsfront, unter anderem im Oktober 2022 in der Provinz Badakhshan. Die Gruppe verfügt über etwa 100 bis 250 Kämpfer, die sich hauptsächlich in den Provinzen Badakhshan, Kunduz und Takhar aufhalten und unter dem Kommando ihres neuen Anführers Asliddin Khairiddinovich Davlatov (alias Mawlawi Ibrahim) stehen. Die Taliban setzten JA-Kämpfer in Badakhshan ein, die von Mohammad Sharifov (alias Mahdi Arsalon), einem tadschikischen Staatsangehörigen, angeführt werden. Es wurde berichtet, dass dieser im September 2022 in Kabul getötet wurde und dass die Taliban dem Anführer der JA und 30 ihrer Kämpfer afghanische Pässe ausgestellt hätten (UNSC 26.5.2022). Der UN-Sicherheitsrat berichtet im Jänner 2024, dass die Finanzierung der Jamaat Ansarullah von den Taliban und al-Qaida stammt. JA-Kämpfer sind die Haupttruppe von Lashkar-e Mansoori, dem Taliban-Spezialbataillon der Selbstmordattentäter. Kürzlich sollen sich mehrere JA-Befehlshaber in den Provinzen Nangarhar und Kunar den Reihen des ISKP angeschlossen haben (UNSC 29.1.2024).

Weitere Gruppierungen

Das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU) verfügt über 150 bis 550 Kämpfer, die von dem neuen Emir Mamasoli Samatov (alias Abu Ali), einem usbekischen Staatsangehörigen, angeführt werden. Khatiba Imam al-Bukhari hat etwa 80 bis 100 Kämpfer unter der Führung von Dilshod Dekhanov in den Provinzen Badghis, Badakhshan, Faryab und Jawzjan, während die Gruppe Islamischer Dschihad unter der Führung von Ilimbek Mamatov in Badakhshan, Baghlan, Kunduz und Takhar mit etwa 200 bis 250 Mitgliedern vertreten ist. Die Vereinten Nationen bewerteten sowohl Khatiba Imam al-Bukhari als auch die Islamische Dschihad-Gruppe als den Taliban untergeordnet. Die im Juni 2022 gegründeten Tehrik-e-Taliban-Tadschikistan, deren Ziel es ist, die Scharia in Tadschikistan einzuführen und gleichzeitig die säkulare Regierung Tadschikistans zu stürzen, verfügt über rund 140 Kämpfer, die sich aus tadschikischen Staatsangehörigen und afghanischen Tadschiken zusammensetzen und in den nördlichen Provinzen Afghanistans stationiert sind. Die Vereinten Nationen berichten, die Gruppe arbeite unter der JA (UNSC 1.6.2023b).

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung 2025-01-14 15:59

Unter der vorherigen Regierung beruhte die afghanische Rechtsprechung auf drei parallelen und sich überschneidenden Rechtssystemen oder Rechtsquellen: dem formellen Gesetzesrecht, dem Stammesgewohnheitsrecht und der Scharia (Hakimi/Sadat 2020). Informelle Rechtssysteme zur Schlichtung von Streitigkeiten waren weit verbreitet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Dies ist nach wie vor der Fall, auch wenn die Taliban seit ihrer Machtübernahme versucht haben, einige lokale Streitbeilegungspraktiken zu kontrollieren (FH 24.2.2022; vgl. STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Nach 23 Jahren Krieg (1978-2001) und dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 konnte Afghanistan 2004 eine neue Verfassung verkünden, die sowohl islamische als auch modern-progressive Werte enthält. Die juristischen und politikwissenschaftlichen Fakultäten sowie die Scharia waren zwei Institutionen, die zur Ausbildung des Justizpersonals beitrugen, indem sie Hunderte von jungen Männern und Frauen ausbildeten, die später als Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte tätig waren. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die internationale Gemeinschaft zahlreiche Entwicklungsprogramme durchgeführt, die auf den Wiederaufbau des afghanischen Rechtssystems und den Ausbau der Kapazitäten des Personals der Justizbehörden abzielen. Darüber hinaus hat die [Anm.: frühere] afghanische Regierung ein Justizverwaltungssystem eingeführt, das alle Justizeinrichtungen dazu verpflichtet, ihre Fälle und Verfahren aufzuzeichnen und zu dokumentieren (STDOK/Nassery 4.2024).

Nach ihrem Sturz im Jahr 2001 gelang es den Taliban, in den von ihnen kontrollierten, meisten ländlichen, Gebieten Gerichte einzurichten und den Menschen den Zugang zur Rechtsprechung auf lokaler Ebene zu erleichtern. Dies geschah zu einer Zeit, als die staatlichen Justizorgane aufgrund der weitverbreiteten Korruption ihre Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung weitgehend verloren hatten. Daher zogen die Menschen es vor, sich an die Gerichte der Taliban zu wenden, anstatt an die Gerichte der Regierung (STDOK/Nassery 4.2024; vgl. AA 22.10.2021). In den vergangenen zwanzig Jahren gelang es dem Justizsystem der Taliban, mit seinen praktischen Maßnahmen das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Die Taliban-Richter fungierten sowohl als Richter im juristischen Bereich als auch als Gelehrte (ulama) im religiösen Bereich. Die Taliban-Richter absolvierten ihre Ausbildung an Deobandi-Schulen in Pakistan und Afghanistan, die sich hauptsächlich auf die hanafitische Rechtsprechung stützten (STDOK/Nassery 4.2024).

Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 übernahmen sie die vollständige Kontrolle über das Justizsystem des Landes (Rawadari 4.6.2023; vgl. AA 26.6.2023) und setzten die Verfassung von 2004 außer Kraft (UNGA 28.1.2022). Bisher haben sich die Taliban noch nicht zu den Gesetzen geäußert, insbesondere nicht zu den Strafgesetzen, zur nationalen Sicherheit und zu den Gerichten (STDOK/Nassery 4.2024). Ein Experte für islamisches Recht schließt aus den Äußerungen der Taliban, dass sie diese Gesetze und Rechtsvorschriften in den meisten Bereichen, insbesondere Strafrecht, Familienrecht, Jugend- und Frauenrechte, ignorieren und erwartet, auch als Folge der Auflösung unabhängiger Institutionen wie der Association of Defense Lawyers und der Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC), weitere schwerwiegende Probleme für die Rechtsprechung in Afghanistan (STDOK/Nassery 4.2024).

Den Taliban zufolge bildet die hanafitische Rechtsprechung die Grundlage für das Rechtssystem (USDOS 15.5.2023; vgl. STDOK/Nassery 4.2024), und derzeit verfügt das Land nicht über einen klaren und kohärenten Rechtsrahmen, ein Justizsystem oder Durchsetzungsmechanismen. Den Taliban zufolge bleiben Gesetze, die unter der Regierung vor August 2021 erlassen wurden, in Kraft, sofern sie nicht gegen die Scharia verstoßen (USDOS 15.5.2023; vgl. AA 26.6.2023). Die Taliban-Führer zwingen den Bürgern ihre Politik weitgehend durch Leitlinien oder Empfehlungen auf, in denen sie akzeptable Verhaltensweisen festlegen (USDOS 15.5.2023; vgl. Rawadari 4.6.2023), die sie aufgrund ihrer Auslegung der Scharia und der vorherrschenden kulturellen Normen, die die Taliban für akzeptabel halten, rechtfertigen (USDOS 15.5.2023).

Einem Experten für islamisches Recht zufolge betrafen die Änderungen im afghanischen Justizsystem seit der Machtübernahme der Taliban vor allem formale und administrative Bereiche, aber keine konkreten Änderungen in der Rechtsprechung der Gerichte (STDOK/Nassery 4.2024). So wurden beispielsweise Richter und Verwaltungsangestellte der Gerichte durch Angehörige der Taliban ersetzt, von denen die meisten nicht über ausreichend juristische Kenntnisse und Erfahrungen mit der Arbeit an den Gerichten verfügten (STDOK/Nassery 4.2024; vgl. AA 26.6.2023). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Rawadari sind die meisten Richter und "Muftis" an Taliban-Gerichten Studenten oder Absolventen religiöser Koranschulen, vor allem in Pakistan. Einige der derzeitigen Richter waren während des Krieges als Richter in den von den Taliban kontrollierten Gebieten tätig. Nur wenige Richter, beispielsweise in den Provinzen Herat und Panjsher, verfügen über eine formale Hochschulausbildung und haben an juristischen oder Scharia-Fakultäten von Universitäten studiert (Rawadari 4.6.2023).

Des weiteren kam es zur Absetzung von Richterinnen und Anwältinnen und es werden keine Lizenzen mehr an Strafverteidigerinnen vergeben (STDOK/Nassery 4.2024).

Die Taliban haben zwar nicht ausdrücklich behauptet, bestimmte Gesetze außer Kraft zu setzen, aber sie haben immer wieder betont, dass sie im Einklang mit der Scharia regieren und jedes Gesetz ablehnen, das ihr zuwiderläuft (USDOS 15.5.2023; vgl. AA 26.6.2023). Taliban-Mitglieder haben erklärt, dass sie nur die Teile der Verfassungen von 2004 und 1964 befolgen, die nicht im Widerspruch zur Scharia stehen. Einige Beobachter weisen auch darauf hin, dass keine der beiden Verfassungen in vollem Umfang in Kraft ist, sodass sie nur begrenzte Bedeutung für den geltenden Rechtsrahmen haben. Diesen Beobachtern zufolge wäre jede Abweichung von der Verfassung von 2004 insofern von Bedeutung, als diese besagt, dass Anhänger anderer Religionen als des Islams "ihren Glauben frei ausüben und ihre religiösen Riten innerhalb der Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen vollziehen können", eine Bestimmung, die die Taliban ablehnen (USDOS 15.5.2023).

Die Taliban haben Anfang Juli 2023 ein Tonband veröffentlicht, das dem Emir Hibatullah Akhundzada zugeschrieben wird, der offenbar eine Predigt nach dem Eid al-Adha-Gebet am Mittwoch in Kandahar gehalten hat. Darin verkündet dieser, dass ein neues Rechtssystem auf der Grundlage der Scharia und Hanafi-Rechtsprechung von den entsprechenden Ministerien und der Talibanführung ausgearbeitet wird. Damit werden die unter der ehemaligen Verfassung geltenden Gesetze, u. a. auch gesonderte schiitische Rechtsprechung, ersetzt. Er erklärte, in Afghanistan gebe es jetzt ein vollständiges islamisches System, die Sicherheit sei gewährleistet, und in keinem Teil des Landes herrsche Unordnung oder Ungehorsam. Die meisten Angelegenheiten des Landes werden nun auf der Grundlage von Richtlinien und Dekreten geregelt, die dem Emir zugeschrieben werden. Er sagte, „unter der Herrschaft des Islamischen Emirats wurden konkrete Maßnahmen ergriffen, um Frauen von vielen traditionellen Unterdrückungen zu befreien“. In der Paschto- und Dari-Fassung der Botschaft begrüßt der oberste Taliban-Führer auch die Einführung von Scharia-Gerichten und -Praktiken, einschließlich Qisas (z. B. Auspeitschungen oder Hinrichtungen), die die Öffentlichkeit mit eigenen Augen sieht (BAMF 31.12.2023).

Im November 2022 ordnete Taliban-Staatsoberhaupt Emir Hibatullah Akhundzada die Umsetzung der Scharia inklusive Körperstrafen wieder an (AA 26.6.2023). Seitdem wurden zahlreiche öffentliche Auspeitschungen vorgenommen (AP 20.6.2023; vgl. AI 23.2.2024, AA 26.6.2023). Diese Strafe wurde u. a. für Drogen- und Alkoholkonsum (AA 26.6.2023) oder für "moralische" Verbrechen verhängt (AMU 12.7.2023; vgl. BAMF 31.12.2023). Am 7.12.2022 kam es zur ersten öffentlichen Hinrichtung durch die Taliban seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan (AI 7.12.2022) und im Juni 2023 (AP 20.6.2023; vgl. AJ 20.6.2023) sowie im Februar 2024 kam es zu weiteren Hinrichtungen (AI 23.2.2024; vgl. ABC News 26.2.2024).

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung 2024-04-04 11:36

Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.8.2022) und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Milizen-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte der Taliban-Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen (AA 26.6.2023; vgl. CPJ 1.3.2022). Dem Taliban-Stabschef der Streitkräfte zufolge bestünde die Armee mit Stand März 2023 aus 150.000 Taliban-Kämpfern und solle kommendes Jahr auf 170.000 vergrößert werden. Angestrebt sei eine 200.000 Mann starke Armee (AA 26.6.2023). Der Geheimdienst (General Directorate for [Anm.: auch "of"] Intelligence, GDI), ein Nachrichtendienst, der früher als "National Directorate of Security" (NDS) bekannt war (CPJ 1.3.2022; vgl. AA 26.6.2023), wurde dem Taliban-Staatsoberhaupt Emir Hibatullah Akhundzada direkt unterstellt. Das Innenministerium der Taliban-Regierung hat wiederholt angekündigt, Polizisten, u. a. im Bereich der Verkehrspolizei, zu übernehmen. Dies ist nach Angaben von UNAMA zumindest in Kabul teilweise erfolgt. Es zeichnet sich ab, dass die Taliban mit Ausnahme der Luftwaffe (hier sollen laut afghanischen Presseangaben fast die Hälfte der ehemaligen Soldaten zurückgekehrt sein) von den bisherigen Kräften nur vereinzelt Fachpersonal übernehmen. Eine breit angelegte Integration der bisherigen Angehörigen der Sicherheitskräfte hat bisher nicht stattgefunden (AA 26.6.2023) und auch ein internationaler Analyst führte an, dass die Zahl der rekrutierten ehemaligen Sicherheitskräfte begrenzt sei und es sich im Allgemeinen um Spezialisten handele (EUAA 12.2023). Experten zufolge sind die Taliban jedoch noch weit davon entfernt, eine funktionierende Luftwaffe zu verwirklichen, die den Luftraum im Falle ausländischer Übergriffe oder inländischer Aufstände sichern könnte. Der Bestand an Hubschraubern und Fluggeräten gilt als veraltet und es gibt zumindest fünf bestätigte Unfälle in der Militärluftfahrt seit der Machtübernahme, wobei Pilotenfehler als wahrscheinlichste Ursache gelten. Nach Ansicht eines Afghanistan-Experten, müssten die Taliban in erheblichem Umfang Piloten ausbilden und Strategien für die Kommunikation und Koordination mit den Bodentruppen entwickeln, um eine funktionsfähige Luftwaffe aufzubauen. Zwar versuchen die Taliban, Piloten auszubilden, veröffentlichen jedoch keine Zahlen über die Anzahl ihrer Piloten und Techniker und auf Grundlage von Fotos und Videos wird mit Stand Mai 2023 von etwa 50 einsatzfähigen Flugzeugen und Hubschraubern ausgegangen (RFE/RL 25.5.2023).

Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung 2024-04-05 15:38

Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen durch die Taliban (AA 26.6.2023, vgl. HRW 11.1.2024). Die Vereinten Nationen berichten über Folter und Misshandlungen von ehemaligen Sicherheitskräften bzw. ehemaligen Regierungsbeamten (UNAMA 22.8.2023; vgl. HRW 11.1.2024). Auch über Gewalt gegen Journalisten und Medienschaffende (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023) sowie gegen Frauenrechtsaktivisten (AA 26.6.2023 vgl. HRW 11.1.2024, AI 7.12.2023) auch in Gefängnissen wird berichtet (AA 26.6.2023; vgl. HRW 11.1.2024). Amnesty International berichtet beispielsweise über kollektive Strafen gegen Bewohner der Provinz Panjsher, darunter Folter und andere Misshandlungen (AI 8.6.2023).

Es gibt Berichte über öffentliche Auspeitschungen durch die Taliban in mehreren Provinzen, darunter Zabul (UNGA 1.12.2023), Maidan Wardak (8am 10.7.2023; vgl. BAMF 31.12.2023), Kabul (ANI 12.7.2023; vgl. AMU 12.7.2023), Kandahar (KaN 17.1.2023; vgl. KP 17.1.2023) und Helmand (KP 2.2.2023; vgl. KaN 2.2.2023). Der oberste Taliban-Führer, Emir Hibatullah Akhundzada, begrüßte die Einführung von Scharia-Gerichten und -Praktiken, einschließlich Qisas (z. B. Auspeitschungen oder Hinrichtungen), die die Öffentlichkeit mit eigenen Augen sieht (BAMF 31.12.2023).

Korruption

Letzte Änderung 2025-01-14 15:59

Mit einer Bewertung von 20 Punkten (von 100 möglichen Punkten - 0 = highly corrupt und 100 = very clean), belegt Afghanistan auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2023 von Transparency International von 180 untersuchten Ländern den 162. Platz (TI o.D.a), was eine Verschlechterung um zwölf Ränge im Vergleich zum Jahr davor darstellt (TI o.D.b).

Die Taliban kündigten nach ihrer Übernahme von Kabul im August 2021 Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung an, darunter die Einrichtung von Kommissionen zur Ermittlung korrupter oder krimineller Taliban. Außerdem haben die Taliban über ihr Verteidigungsministerium eine Kommission eingesetzt, die Mitglieder ermitteln soll, die sich nicht an die Richtlinien der Bewegung halten. Ein Sprecher der Gruppe erklärte, dass im Jänner 2022 2.840 Taliban-Mitglieder wegen Korruption und Drogenkonsums entlassen worden seien. Der grenzüberschreitende Handel ist Berichten zufolge unter der Führung der Taliban viel einfacher geworden, da die "Geschenke", die normalerweise für Zollbeamte erforderlich sind, abgeschafft wurden (USDOS 20.3.2023a). Anfang 2024 erklärte ein Sprecher der Taliban Afghanistan zu einem korruptionsfreien Land (BNA 1.2.2024). Ein Experte warnt auch davor, dass die Versprechen der Taliban, gegen Korruption vorzugehen, nicht von Dauer sein könnten (BBC 18.7.2023).

Es gab dennoch zahlreiche Berichte über Korruption durch die Taliban (USDOS 20.3.2023a; vgl. DIP 17.1.2024), beispielsweise in den Passämtern der Taliban, wobei Antragsteller nach Angaben lokaler Quellen zwischen 1.000 und 3.500 Dollar für einen Pass zahlen mussten (USDOS 20.3.2023a). Einem Bericht zufolge haben die Taliban seit der Wiedererlangung der Macht die staatliche Bürokratie genutzt, um Arbeitsplätze an Taliban-Mitglieder und ihre Familien zu vergeben und von der afghanischen Bevölkerung und dem Privatsektor Steuern, Bestechungsgelder und wertvolle Dienstleistungen zu erpressen (DIP 17.1.2024).

Internationale Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die unter der Bedingung der Anonymität sprachen, weil sie nicht befugt waren, mit den Medien zu sprechen, sagten im Februar 2022, die Taliban hätten die Korruption in den letzten sechs Monaten reduziert. Das hat zu höheren Einnahmen in einigen Sektoren geführt, auch wenn die Geschäfte rückläufig sind. So seien beispielsweise die Zolleinnahmen gestiegen, obwohl die neue Taliban-Regierung weniger Geschäfte mache (AP 15.2.2022). Auch ein britischer Abgeordneter, dessen Beobachtungen auf Unterhaltungen mit Afghanen vor Ort beruhen, berichtet von einer Reduktion der Korruption in Afghanistan. Während Transparency International eine leichte Verbesserung gegenüber 2021 sieht, weisen Experten darauf hin, dass die leichte Verbesserung darauf zurückzuführen ist, dass der massive Zustrom von Militärhilfe und ausländischen Hilfsgeldern gestoppt wurde, die nach Ansicht mancher die Korruption vor Ort angeheizt haben (BBC 18.7.2023).

Im Juli 2022 kündigten die Taliban an, dass sie ehemalige afghanische Beamte nicht für die massive Korruption zur Rechenschaft ziehen werden, die in Zusammenhang mit Entwicklungshilfeprojekten stehen. Ehemalige Beamte, die der Korruption verdächtigt werden, müssen sich nur dann vor Gericht verantworten, wenn sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten Privateigentum oder öffentliches Vermögen an sich gerissen haben (VOA 6.7.2022).

Wehrdienst und Zwangsrekrutierung

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.8.2022) und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Milizen-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte der Taliban-Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen (AA 26.6.2023; vgl. CPJ 1.3.2022). Dem Taliban-Stabschef der Streitkräfte zufolge bestünde die Armee mit Stand März 2023 aus 150.000 Taliban-Kämpfern und solle kommendes Jahr auf 170.000 vergrößert werden. Angestrebt sei eine 200.000 Mann starke Armee (AA 26.6.2023). Eine breit angelegte Integration der bisherigen Angehörigen der Sicherheitskräfte hat bisher nicht stattgefunden (AA 26.6.2023) und auch ein internationaler Analyst führte an, dass die Zahl der rekrutierten ehemaligen Sicherheitskräfte begrenzt sei und es sich im Allgemeinen um Spezialisten handele (EUAA 12.2023).

Ein Afghanistan-Analyst und ein internationaler Journalist gaben in Interviews mit EUAA zwischen Juni und Oktober 2023 an, dass ihnen keine Fälle von Zwangsrekrutierung bekannt wären. Sie beschrieben die Situation als das Gegenteil von Zwangsrekrutierung, da es in einer Wirtschaft ohne andere Beschäftigungsmöglichkeiten sehr beliebt ist, Teil der Taliban-Sicherheitsstruktur zu sein. In diesem Zusammenhang wurde auch auf den Mangel an anderen Beschäftigungsmöglichkeiten hingewiesen und erklärt, dass die Taliban über genügend Männer verfügen und dass viele bereit sind, auf freiwilliger Basis zu dienen, auch ohne Bezahlung (EUAA 12.2023).

Der einzige aktuelle Bericht, der über Zwangsrekrutierung, durch Taliban, ISKP oder andere bewaffnete Gruppen, gefunden wurde, war der Bericht von USDOS über die Menschenrechtslage in Afghanistan, in dem es heißt, dass die gesellschaftliche Diskriminierung von Hazara "in Form von Erpressung von Geld durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung und Zwangsarbeit, körperlicher Misshandlung und Inhaftierung" stattgefunden hat (EUAA 12.2023; vgl. USDOS 20.3.2023a). Genau diese Aussage findet sich seit 2010 in jedem Jahresbericht von USDOS über die Menschenrechtslage in Afghanistan (EUAA 12.2023).

Vor ihrer Machtübernahme wurden Kinder durch die Taliban rekrutiert (HRW 20.9.2021), und einige Quellen berichten, dass es auch nach der Machtübernahme zu Zwangsrekrutierungen von Kindern kam (TBP 23.9.2022; vgl. USDOS 15.6.2023a). Einem afghanischen Analysten zufolge haben die Taliban eine Kommission gebildet, um Kindersoldaten aus ihren Reihen zu entfernen, und heute vermeiden die Taliban in der Regel die Rekrutierung zu junger Personen, indem sie Kinder ohne Bart ablehnen (EUAA 12.2023). Berichten zufolge hat auch der ISKP Kinder rekrutiert (USDOS 15.6.2023a).

Was die Rekrutierung durch den Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) betrifft, so wurden Berichten zufolge die Salafi-Gemeinschaft und Taliban-Fußsoldaten zur Unterstützung der Gruppe aufgerufen (USIP 7.6.2023). Der Afghanistan-Experte Antonio Giustozzi veröffentlichte einen Forschungsartikel, in dem er feststellte, dass zwei wichtige Quellen für die Rekrutierung in Afghanistan die Salafi-Gemeinschaft und Universitätsstudenten waren. In Interviews, die der Autor mit ISKP-Rekrutern in Afghanistan geführt hat, wird die Vorgehensweise des ISKP beschrieben. Hierbei werden "die religiösesten Studenten, die das größte Interesse an religiösen Fragen und insbesondere am Salafismus haben, ausgesucht und ins Visier genommen". Sobald ein Student als Ziel identifiziert ist, wird versucht, seine Handynummer zu bekommen. Dann übernimmt die Abteilung "Medien und Kultur" die Arbeit. Die Aufgabe des Medien- und Kulturteams, das seinen Sitz außerhalb der Universität und sogar in Europa hat, besteht darin, Videos mit Propagandamaterial an potenzielle Rekruten zu senden. Bei einer negativen Reaktion wird der "Eingeladene", den Interviews zufolge, sofort von der Nachrichtenübermittlung abgeschnitten. Ist die Reaktion positiv, werden WhatsApp und andere Social-Media-Apps genutzt. Das Medien- und Kulturteam fügt außerdem gezielte Studenten zu verschiedenen ISKP-Telegram-Konten hinzu, von denen einige für die Aktivitäten des ISKP werben, während andere negative Propaganda gegen die Taliban verbreiten (RUSI/Giustozzi 3.2023). Auch die Vereinten Nationen berichten, dass sich der ISKP auf die Rekrutierung von mehr gebildeten Personen konzentriert, aber Rekrutierungen auch außerhalb der Salafi-Gemeinschaft betreibt (UNSC 1.6.2023a).

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung 2025-01-14 15:59

Die in der Vergangenheit von Afghanistan unterzeichneten oder ratifizierten Menschenrechtsabkommen werden von der Taliban-Regierung, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt anerkannt; es wird ein Islamvorbehalt geltend gemacht, wonach islamisches Recht im Falle einer Normenkollision Vorrang hat (AA 26.6.2023).

Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban die Menschenrechte und Grundfreiheiten der afghanischen Bevölkerung zunehmend und in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt. Insbesondere Frauen und Mädchen wurden in ihren Rechten massiv eingeschränkt und aus den meisten Aspekten des täglichen und öffentlichen Lebens verdrängt (UNICEF 9.8.2022; vgl. AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023).

Die Taliban-Führung hat ihre Anhänger verschiedentlich dazu aufgerufen, die Bevölkerung respektvoll zu behandeln (AA 26.6.2023). Es gibt jedoch Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023, USDOS 20.3.2023a, UNGA 1.12.2023), darunter Hausdurchsuchungen (AA 26.6.2023), Willkürakte und Hinrichtungen (AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023). Es kommt zu Gewalt und Diskriminierung gegenüber Journalisten (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.1.2023, AfW 15.8.2023) und Menschenrechtsaktivisten (FH 1.2023; vgl. FIDH 12.8.2022, AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023). Auch von gezielten Tötungen wird berichtet (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023). Menschenrechtsorganisationen berichten auch über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 26.6.2023; vgl. HRW 11.1.2024, AfW 15.8.2023). Weiterhin berichten Menschenrechtsorganisationen von Rache- und Willkürakten im familiären Kontext - also gegenüber Familienmitgliedern oder zwischen Stämmen/Ethnien, bei denen die Täter den Taliban nahestehen oder Taliban sind. Darauf angesprochen, weisen Taliban-Vertreter den Vorwurf systematischer Gewalt zurück und verweisen wiederholt auf Auseinandersetzungen im familiären Umfeld. Eine nachprüfbare Strafverfolgung findet in der Regel nicht statt (AA 26.6.2023). Die NGO Afghan Witness berichtet im Zeitraum vom 15.1.2022 bis Mitte 2023 von 3.329 Menschenrechtsverletzungen, die sich auf Verletzungen des Rechts auf Leben, des Rechts auf Freiheit von Folter, der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Rechte der Frauen und mehr beziehen. Für denselben Zeitraum gibt es auch immer wieder Berichte über die Tötung und Inhaftierung ehemaliger ANDSF-Mitglieder. Hier wurden durch Afghan Witness 112 Fälle von Tötungen und 130 Inhaftierungen registriert, wobei darauf hingewiesen wurde, dass angesichts der hohen Zahl von Fällen, in denen Opfer und Täter nicht identifiziert wurden, die tatsächliche Zahl wahrscheinlich höher ist (AfW 15.8.2023).

Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen. Es kam zum Einsatz von scharfer Munition (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.10.2022, Guardian 2.10.2022) und es gibt auch Berichte über Todesopfer bei Protesten (FH 24.2.2022, AI 15.8.2022).

Afghan Witness konnte zwischen dem ersten und zweiten Jahr der Taliban-Herrschaft einige Unterschiede erkennen. So gingen die Taliban im ersten Jahr nach der Machtübernahme im August 2021 hart gegen Andersdenkende vor und verhafteten Berichten zufolge Frauenrechtsaktivisten, Journalisten und Demonstranten. Im zweiten Jahr wurde hingegen beobachtet, dass sich die Medien und die Opposition im Land aufgrund der Restriktionen der Taliban und der Selbstzensur weitgehend zerstreut haben, obwohl weiterhin über Verhaftungen von Frauenrechtsaktivisten, Bildungsaktivisten und Journalisten berichtet wird. Frauen haben weiterhin gegen die Restriktionen und Erlasse der Taliban protestiert, aber die Proteste fanden größtenteils in geschlossenen Räumen statt - offenbar ein Versuch der Demonstranten, ihre Identität zu verbergen und das Risiko einer Verhaftung oder Gewalt zu verringern. Trotz dieser Drohungen sind Frauen weiterhin auf die Straße gegangen, um gegen wichtige Erlasse zu protestieren (AfW 15.8.2023).

Haftbedingungen

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 wurden Gefängnisse, Jugendrehabilitationszentren und andere Haftanstalten von unterschiedlichen Organisationen verwaltet: Das General Directorate of Prisons and Detention Centers (GDPDC), ein Teil des Innenministeriums (MoI), war verantwortlich für alle zivil geführten Gefängnisse, sowohl für weibliche als auch männliche Häftlinge, inklusive des nationalen Gefängniskomplexes in Pul-e Charkh. Das National Directorate of Security (NDS) war verantwortlich für Kurzzeit-Haftanstalten auf Provinz- und Distriktebene, die in der Regel mit den jeweiligen Hauptquartieren zusammenarbeiten. Das Verteidigungsministerium betrieb die Nationalen Haftanstalten Afghanistans in Parwan (USDOS 12.4.2022a). Die Überbelegung der Gefängnisse war auch unter der ehemaligen Regierung ein ernstes und weitverbreitetes Problem. Nach der Übernahme Kabuls durch die Taliban haben sich viele Gefängnisse geleert, da fast alle Gefangenen entkamen oder freigelassen wurden (USDOS 12.4.2022a; vgl. UNHRC 8.3.2022).

Trotz anhaltender Bemühungen, die Zahl der Inhaftierten zu reduzieren (UNGA 1.12.2023), gab der stellvertretende Leiter der Gefängnisverwaltung im Jänner 2024 bekannt, dass die Gefängnispopulation 19.300 Personen erreicht habe, von denen 800 Frauen sind (UNAMA 1.5.2024). Im September 2024 gab die Generaldirektion für Gefängnisse und Haftanstalten der Taliban bekannt, dass etwa 23.000 Personen in Afghanistan inhaftiert sind (SWN 2.9.2024). Einen Tag zuvor hatten Beamte des Direktorats noch angegeben, dass 11.000 Personen in afghanischen Gefängnissen inhaftiert wären, wovon 2.000 Frauen und Kinder wären (KP 1.9.2024; vgl. SWN 2.9.2024). Dies wurde insofern richtiggestellt, als darauf hingewiesen wurde, dass neben den ca. 11.000 schon verurteilten Inhaftierten etwa 12.000 Personen in Haftanstalten auf Gerichtsurteile warten (SWN 2.9.2024).

Die Situation in den Gefängnissen in Afghanistan wird von den Vereinten Nationen als sehr schlecht bezeichnet, kann jedoch aufgrund von nur punktuellem Zugang für Menschenrechtsorganisationen nicht abschließend beurteilt werden (AA 12.7.2024). Es scheint keine landesweiten Haftstandards und keinen Mechanismus zu geben, um die Haftbedingungen anzufechten (AHR 29.4.2024). Finanzielle Engpässe und die Einstellung der Finanzierung durch Geber wirkten sich weiterhin auf die Fähigkeit der Gefängnisverwaltung aus, internationale Standards zu erfüllen (UNGA 1.12.2023), einschließlich der systematischen Bereitstellung angemessener Nahrungsmittel, Hygieneartikel (UNGA 1.12.2023; vgl. AHR 29.4.2024), der beruflichen Aus- und Weiterbildung sowie der medizinischen Versorgung (UNGA 1.12.2023).

UNAMA berichtet von Fällen, in denen Personen zum Zeitpunkt der Festnahme nicht über die Gründe für ihre Festnahme informiert wurden. Des Weiteren werden laut UNAMA Inhaftierte auch weder über ihre Rechte, noch darüber informiert, wie sie während der Haft Beschwerden vorbringen können. Es wurden auch Fälle dokumentiert, in denen Inhaftierte nicht über ihr Recht auf einen Anwalt informiert wurden oder ihnen die Kontaktaufnahme mit ihrer Familie verwehrt wurde (UNAMA 1.9.2023). Viele Strafverteidiger haben von Schwierigkeiten beim Zugang zu ihren Mandanten berichtet (AHR 29.4.2024). Zwischen 1.1.2022 und 31.7.2023 dokumentierte UNAMA über 1.600 Menschenrechtsverletzungen (11 % betrafen Frauen) durch die Taliban-Behörden im Zusammenhang mit der Festnahme und anschließenden Inhaftierung von Personen. Knapp 50 % dieser Verstöße betrafen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Diese Vorfälle ereigneten sich in 29 der 34 Provinzen Afghanistans (UNAMA 1.9.2023). Inhaftierte Personen beschreiben verschiedene Formen der Folter, wie z. B. Schläge, kopfüber aufgehängt zu werden, Elektroschocks, Ersticken (AHR 29.4.2024) und Gewalteinwirkung im Genitalbereich. Einem Bericht zufolge sollen seit der Machtübernahme der Taliban 87 Personen in Taliban-Gefängnissen an den Folgen von Folter gestorben sein (Afintl 8.8.2024).

Es existieren Berichte über Folter an Journalisten, Anwälten, Frauenrechtsaktivistinnen und -aktivisten und ihren Verwandten, Demonstrierenden und ehemaligen Sicherheitskräften (AA 12.7.2024) bzw. Gefangene, die mit der ehemaligen Regierung in Verbindung standen (USDOS 20.3.2023a). Des Weiteren sollen festgenommene Frauenrechtsaktivistinnen psychologischer und physischer Folter sowie sexueller Gewalt durch Taliban-Sicherheitskräfte ausgesetzt worden sein. Verifiziert sind zudem mehrere Fälle, in denen festgesetzte Journalisten geschlagen wurden (AA 12.7.2024).

Der Verhaltenskodex der Taliban zur Reform des Gefängnissystems sieht keine unverzügliche medizinische Untersuchung bei der Einweisung in eine Haftanstalt vor. Er sieht vor, dass in den Gefängnissen Erste-Hilfe-Einrichtungen und -Vorräte zur Verfügung stehen müssen und dass für die notwendige Behandlung von Schwerkranken rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zu treffen sind. Mehrere Taliban-Polizeibehörden bestätigten gegenüber UNAMA, dass die Personen vor ihrer Einlieferung in die Polizeieinrichtungen von einem Arzt untersucht und bei Bedarf in ein Krankenhaus gebracht werden. Allerdings dokumentierte UNAMA keinen Fall, bei dem eine Person bei der Inhaftierung oder vor einer Befragung medizinisch untersucht wurde, wobei eingeräumt wird, dass insbesondere in abgelegenen Gebieten nicht immer Ärzte zur Verfügung stehen (UNAMA 1.9.2023).

Todesstrafe

Letzte Änderung 2024-04-09 12:24

Die Gesetze aus der Zeit vor der Machtergreifung der Taliban im August 2021 sehen die Verhängung der Todesstrafe in bestimmten Fällen vor (AA 26.6.2023; vgl. UNAMA 8.5.2023). Zwischen 2001 und dem 15.8.2021 hat die Regierung der Islamischen Republik Afghanistan Berichten zufolge mindestens 72 Personen hingerichtet (UNAMA 8.5.2023).

Seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan am 15.8.2021 haben die Taliban de facto die Körperstrafen und die Todesstrafe eingeführt (UNAMA 8.5.2023). Die Taliban haben hierzu bisher keine gesetzlichen Regelungen erlassen. Die sowohl während des ersten Taliban-Regimes, als auch vor dem Zusammenbruch der Republik in von den Taliban kontrollierten Gebieten angewandte Rechtspraxis auf Grundlage ihrer Auslegung der Scharia, sieht die Todesstrafe vor (AA 26.6.2023). Ende November 2022 ordnete der oberste Führer der Taliban, Haibatullah Akhundzada, allerdings Richtern an, Strafen zu verhängen, die öffentliche Hinrichtungen, öffentliche Amputationen und Steinigungen umfassen können (BBC 14.11.2022; vgl. Guardian 14.11.2022, UNAMA 8.5.2023).

Am 7.12.2022 fand die erste öffentliche Hinrichtung der Taliban in Afghanistan seit der Machtübernahme im August 2021 statt (AA 26.6.2023; vgl. BBC 7.12.2022, REU 7.12.2022). Der Hingerichtete soll gestanden haben, vor fünf Jahren bei einem Raubüberfall einen Mann mit einem Messer getötet und dessen Motorrad und Telefon gestohlen zu haben (RFE/RL 7.12.2022; vgl. BBC 7.12.2022, REU 7.12.2022). Im Juni 2023 wurde in Laghman ein Mann durch die Taliban hingerichtet, der für schuldig befunden wurde, im vergangenen Jahr fünf Menschen ermordet zu haben (AP 20.6.2023; vgl. AJ 20.6.2023). Im Februar 2024 vollstreckten die Taliban eine Doppelhinrichtung in Ghazni, bei der Angehörige der Opfer von Messerstechereien vor Tausenden von Zuschauern mit Gewehren auf zwei verurteilte Männer schossen (AI 23.2.2024; vgl. ABC News 26.2.2024).

Ethnische Gruppen

Letzte Änderung 2025-01-14 15:59

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 34,3 (NSIA 4.2022) und 38,3 Millionen Menschen (8am 30.3.2022; vgl. CIA 1.2.2024). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 1.2.2024), da die Behörden des Landes nie eine nationale Volkszählung durchgeführt haben. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass keine der ethnischen Gruppen des Landes eine Mehrheit bildet, und die genauen prozentualen Anteile der einzelnen Gruppen an der Gesamtbevölkerung Schätzungen sind und oft stark politisiert werden (MRG 5.1.2022).

Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42 %), Tadschiken (ca. 27 %), Hazara (ca. 9-20 %) und Usbeken (ca. 9 %), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2 %) (AA 26.6.2023).

Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 20.3.2023a).

Die Taliban gehören mehrheitlich der Gruppe der Paschtunen an. Seit der Machtübernahme der Taliban werden nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert. So gibt es in der Taliban-Regierung z. B. nur wenige Vertreter der usbekischen und tadschikischen Minderheit sowie lediglich einen Vertreter der Hazara (AA 26.6.2023).

Die Taliban haben wiederholt erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Aber selbst auf lokaler Ebene werden Minderheiten, mit Ausnahmen in ethnisch von Nicht-Paschtunen dominierten Gebieten vor allem im Norden, kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt, da diese v. a. paschtunischen Taliban-Mitgliedern vorbehalten sind. Darüber hinaus lässt sich keine klare, systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die Taliban-Regierung feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren (AA 26.6.2023).

Paschtunen

Letzte Änderung 2024-04-10 20:16

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 42 % der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans (MRG 05.02.2021a; vgl. AA 26.06.2023). Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime und leben hauptsächlich im Süden und Osten des Landes (MRG 05.02.2021a; vgl. Print 21.09.2021). Sie teilen sich in zwei große Gruppen auf - Durrani und Gheljai (auch Ghilzai or Ghilzay) - und in weitere Untergruppen von mehr als hundert kleineren Stämmen. Die Durrani sind vor allem in den südlichen Provinzen des Landes wie Kandahar, Zabul, Helmand, Uruzgan, sowie verstreut in anderen Provinzen verbreitet, während die Gheljai eher in Provinzen wie Paktia, Logar, Khost, Paktika, Maidan Wardak und anderen anzutreffen sind (STDOK/VQ AFGH 4.2024). Traditionell waren die Paschtunen nomadisierende oder halbnomadische Viehzüchter, Ackerbauern und Händler. Seit langer Zeit sind sie in Städten ansäßig geworden, wo sie verschiedensten Tätigkeiten nachgehen. Paschtunische Stämme waren stets die militärische Stütze des afghanischen Königshauses und wurden dafür mit einigen Privilegien (Steuervergünstigungen, weitgehende Autonomie in inneren Angelegenheiten u. a.) versehen (STDOK 01.07.2016).

Bei den Paschtunen haben Familienstand, Stammeseinfluss, Besitz und Einfluss einen hohen Stellenwert. Ein hoher Anteil von Männern in paschtunischen Familien gilt als ein Zeichen der Stärke. Aufgrund der bedeutenden Rolle der Familie kann individuelles Fehlverhalten auch der Familie schaden und unschuldige Familienmitglieder zu Opfern machen. Die meisten Paschtunen bevorzugen Ehen mit anderen Paschtunen und sind ggf. mit der Heirat von nahen Verwandten einverstanden. Ehen zwischen Paschtunen und Mitgliedern anderer Ethnien wie Hazara, Usbeken oder Tadschiken sind selten (STDOK/VQ AFGH 4.2024). [...]

Paschtunwali

Letzte Änderung 2024-04-10 20:16

Die Sozialstruktur der Paschtunen basiert auf dem Paschtunwali-Kodex (oder Pukhtunwali-Kodex) (MRG 05.02.2021a; vgl. STDOK/VQ AFGH 4.2024, STDOK 7.2016), der als Verhaltens- und Moralsystem angesehen werden kann. Obwohl die paschtunischen Stämme unterschiedliche Sitten und Gebräuche haben, ist der gemeinsame Nenner all dieser Stämme der Paschtunwali-Kodex, und alle Paschtunen sind verpflichtet, ihn zu befolgen. Paschtunwali umfasst bestimmte Verhaltensgrundsätze, die sich im Laufe der Geschichte herausgebildet haben und die von Generation zu Generation durch Jirgas, Volksversammlungen (Marakas) und traditionelle Erziehung weitergegeben werden (STDOK/VQ AFGH 4.2024). Obwohl es nicht schriftlich niedergelegt oder genau definiert ist, stellt es den Kern der sozialen Verhaltensregeln der Paschtunen dar (STDOK 01.07.2016).

Die Einhaltung der Grundsätze des Paschtunwali sind den Paschtunen sehr wichtig, und jede Missachtung wird mit harten Strafen geahndet. Das Paschtunwali umfasst Verhaltensregeln, in denen Macht, Stolz und Ehre einen besonderen Platz einnehmen, und im Prinzip wird Macht eingesetzt, um Ehre und Stolz zu bewahren. Während die paschtunische Sprache eine hohe Bedeutung hat, sind Dinge wie Alkohol, Glückspiel oder Ehebruch laut Paschtunwali verboten (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Das Paschtunwali umfasst Verhaltensregeln, durch deren Umsetzung die Rechte des Einzelnen in gewisser Weise gesichert werden, z. B. die Achtung des Eigentums anderer, das Verbot der Vergewaltigung, die Bestrafung von Mördern, der Schutz der Dorfbewohner, die finanzielle Hilfe für arme Menschen sowie der Schutz gefährdeter Menschen. Doch gleichzeitig hat ein Teil der bestehenden Gesetze im Rahmen des Paschtunwali negative Auswirkungen und kann die soziale Stabilität bedrohen, wie z. B. Rache, Verbot der Ausbildung von Mädchen, Zwangsehe, Fortbestehen von Feindschaft über lange Zeit und damit einhergehende bewaffnete Auseinandersetzungen (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Obwohl die ehemalige afghanische Regierung in den zwanzig Jahren vor der Machtübernahme der Taliban 2021 zahlreiche Einrichtungen für den Zugang der Menschen zur Justiz und zu den Justizbehörden geschaffen hat, haben die Menschen aufgrund der unsicheren Lage in einigen Gebieten und der weitverbreiteten Korruption im Justizsystem kein Vertrauen in diese Behörden [Anmerkung: der ehemaligen Regierung] (STDOK/Nassery 4.2024). Vor allem in ländlichen Gebieten lösen Paschtunen Probleme und Streitigkeiten meist mit den Mechanismen des Paschtunwali (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Auch wenn die Umsetzung des Paschtunwali und seiner speziellen Gesetze in den Zentren der Großstädte nachgelassen haben, so bedeutet dies jedoch nicht das völlige Verschwinden des Paschtunwali in diesen Regionen. Zwar sind Paschtunen in ländlicheren Gebieten generell eher gegen die (höhere) Bildung von Mädchen, während die Bewohner von größeren Städten dem eher offen gegenüberstehen. Andere Bereiche des Paschtunwali haben aber nach wie vor große Bedeutung für alle Paschtunen, auch jene, die in den städtischen Zentren des Landes leben (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Im Folgenden werden die wichtigsten Teile des Paschtunwali erörtert:

Jirga und Maraka

Jirgas und Marakas sind Versammlungen zwischen Ältesten der jeweiligen Gemeinschaften und den Konfliktparteien, um Streitigkeiten zu lösen, wobei Marakas eher bei kleineren Differenzen angewandt werden. Marakas werden auch abgehalten, um Freundschaften zu schließen und die Gemeinschaft zu fördern. Eine Jirga hat qualitativ und quantitativ einehöhere Wertigkeit als eine Maraka und wird angewandt, um größere Probleme und Konflikte (wie zum Beispiel Mord, Land- oder Ehestreitigkeiten) zu lösen. So ist die Loya Jirga beispielsweise die größte Jirga des Landes, die auch dafür genutzt wurde, die Verfassung der ehemaligen Regierung zu beschließen. Die Ältesten bzw. die Gelehrten der Gemeinschaft fungieren hierbei als Richter und entscheiden in den einzelnen Fällen, was Tage, aber auch Wochen oder Monate dauern kann (STDOK/VQ AFGH 4.2024: vgl. STDOK 01.07.2016).

Ein afghanischer Journalist gab an, dass die Taliban seit ihrer Machtübernahme versuchen, den Jirga-Mechanismus unter die Verwaltung ihrer Regierung zu bekommen, um ethnische Konflikte zu lösen. Die Taliban versuchen hierbei, einen Waffenstillstand zu verhandeln, notfalls mit Gewalt, um im Anschluss durch Gespräche und Vermittlung zwischen den Parteien im Rahmen einer Jirga Frieden zu schließen und den Konflikt beizulegen. So reisten Taliban-Regierungsbeamte beispielsweise mehrfach in die Provinzen Khost, Paktia und Paktika, um Streitigkeiten im Rahmen von Jirgas zu lösen (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Bad o Por (Blutpreis)

Der Preis, um gewisse Feindschaften und Streitigkeiten zu lösen, nennt sich Bad o Por. Wenn eine Person, oder ein Mitglied einer Familie, die Rechte anderer verletzt oder gegen die Grundsätze des Paschtunwali verstößt, muss sie den Preis bzw. Bad o Por zahlen. Je nach Art und Bedeutung der Streitigkeit kommt es hierbei zur Zahlung eines Geldbetrages, der Ausrichtung eines Festes oder einer Entschuldigung. Bei größeren Streitigkeiten werden jedoch auch umstrittene Handlungen wie das „Verschenken“ von Frauen an die Gegenseite angewandt, um den Konflikt beizulegen (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Vor allem Streitigkeiten, die die Ehre (der Familie) betreffen, sind sehr heikel. Dazu gehören beispielsweise das unerlaubte Fortlaufen eines Mädchens von zu Hause oder vorehelicher Geschlechtsverkehr. So erklärt ein paschtunischer Stammesältester, dass, wenn ein Mann mit einer Frau unerlaubt flieht, er zwei Möglichkeiten hat: Entweder er kehrt nie wieder zurück oder er zahlt Bad o Por. Hier muss im Rahmen einer Jirga entschieden werden, dass die Frau zu ihm gehört, und er muss den Vater des Mädchens auszahlen. Dann kann er der Ehemann der Frau werden. Die Frau hingegen wird aus ihrer Familie ausgestoßen, und ihr wird auch das Erbrecht entzogen (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Als die Taliban die Macht in Afghanistan übernahmen, wurde mittels speziellen Erlasses die Zwangsverheiratung von Frauen (STDOK/VQ AFGH 4.2024; vgl. Independent 19.01.2024) und die Abgabe von Mädchen für Bad o Por verboten. Die Taliban fügten hinzu, dass Stämme, die sich nicht an diesen Erlass hielten, mit schweren Strafen belegt würden (STDOK/VQ AFGH 4.2024). Die Zwangsverheiratung von Mädchen zur Beilegung von Feindseligkeiten ist unter den Paschtunen in den Provinzen jedoch immer noch weit verbreitet (STDOK/VQ AFGH 4.2024; vgl. AA 26.06.2023, AI 07.08.2023).

Badal (Vergeltung, Blutfehden) und Nanawatai (Abbitte leisten)

Badal, bedeutet in Paschto „Vergeltung“ und soll die Gerechtigkeit wiederherstellen oder an den Übeltätern Rache nehmen (STDOK 01.07.2016). Die Feindschaft zwischen Familien und Stämmen beginnt manchmal mit sehr kleinen Vorfällen und entwickelt sich schließlich zu einer großen Feindschaft. Zu diesen Fällen gehören beispielsweise verbale Auseinandersetzungen um Land, Spannungen um die Stammesführung oder körperliche Auseinandersetzungen zwischen den Jugendlichen zweier Stämme (STDOK/VQ AFGH 4.2024), die nach und nach größer und größer werden und Jahre oder auch Generationen andauern können (STDOK/VQ AFGH 4.2024; vgl. STDOK 01.07.2016). So führt ein paschtunischer Ältester aus, dass die Strafe für Mord der Tod ist, und dass sich daraus eine Feindschaft entwickeln kann, der Dutzende andere Menschen zum Opfer fallen können. Feindseligkeiten können durch Jirgas (oder im Falle „kleiner“ Streitigkeiten durch Marakas) beendet werden, und es kommt, wie bereits ausgeführt, weiterhin zur "Schenkung" von Frauen, um Feindseligkeiten zu beenden (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Eine längere Blutfehde kann jedoch auch durch Versöhnung, genannt Nanawatai (Abbitte leisten) vermieden werden. Hinter Nanawatai steht der Gedanke, dass sich jemand seinem Gegner vollständig unterwirft und ausliefert, ihn um Verzeihung bittet und um den Erlass des Badal, das von ihm eingefordert werden soll. Wer Abbitte leistet, muss dann um jeden Preis geschützt werden. Außerdem muss Flüchtigen vor der Justiz Zuflucht gewährt werden, bis die Lage nach dem Paschtunwali entschieden ist. Nanawatai wird jedoch in Fällen von Namoos (Bewahrung der Keuschheit der Frauen) abgelehnt oder wenn jemand anderer als der Ehemann einer Frau beischlief (STDOK 01.07.2016).

Gastfreundschaft (Mailmastia oder Melmastiya) und Schutz (Panah)

Die paschtunische Kultur betrachtet den Gast als eine ehrenwerte und wichtige Person und bezeichnet ihn sogar als einen Freund Gottes. Mailmastia bedeutet, allen Besuchern Gastfreundschaft und tief empfundenen Respekt entgegenzubringen, unabhängig von Rasse, Religion, nationaler Zugehörigkeit und wirtschaftlichem Status und ohne Erwartung einer Belohnung oder von Vorteilen. Die Paschtunen haben großen Respekt vor ihren Gästen und bemühen sich sehr, sie glücklich und zufrieden zu machen. In der paschtunwalischen Kultur wird dem Gast ein gutes Essen zubereitet, eine Unterkunft geboten, und er darf nicht belästigt werden. Gastfreundschaft spielt eine besondere Rolle, wenn es darum geht, Feindschaften zu überwinden, Freundschaften zu schließen und Stammesherausforderungen zu meistern. Mit einem Fest oder einer Bewirtung wollen die Familien ihre wirtschaftliche Stärke und ihr familiäres Können unter Beweis stellen. Wenn der Gast mit dem Essen, der Gastfreundschaft und der Unterstützung des Gastgebers zufrieden ist, ist der Gastgeber ebenso stolz und zufrieden (STDOK/VQ AFGH 4.2024; vgl. STDOK 01.07.2016).

Die Paschtunen legen besonderen Wert auf Schutz und Sicherheit. Bei den Paschtunen ist es verboten, jemandem zu schaden, der bei einer Familie oder einem Stamm Zuflucht gesucht hat. Nachdem sie jemandem Zuflucht gewährt haben, halten die Paschtunen kleine Marakas ab, um über das Schicksal der Person zu entscheiden. Es sollte jedoch klargestellt werden, dass die Aufnahme einer Person, die ein Verbrechen wie Mord begangen hat, von den paschtunischen Stämmen nicht akzeptiert wird und dazu führt, dass der Asylsuchende nach einer kurzen Jirga wieder aus dem Stamm verstoßen wird (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Relevante Bevölkerungsgruppen

Mitglieder der ehemaligen Regierung / Streitkräfte / ausländischer Organisationen

Letzte Änderung 2024-03-29 09:57

Die Taliban haben offiziell eine "Generalamnestie" für Angehörige der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräfte angekündigt (AA 26.6.2023; vgl. UNAMA 22.8.2023). Hochrangige Taliban, auch das Oberhaupt der Bewegung, Emir Haibatullah Akhundzada, haben die Taliban-Kämpfer wiederholt zur Einhaltung der Amnestie aufgefordert und angeordnet, von Vergeltungsmaßnahmen abzusehen (AA 26.6.2023; vgl. UNAMA 22.8.2023). Berichte über Verstöße gegen diese Amnestie wurden von den Taliban-Behörden zurückgewiesen und erklärt, dass diese Verstöße auf "persönlicher Feindschaft oder Rache" beruhten und nicht auf einer offiziellen Anweisung zu solchen Handlungen (UNAMA 22.8.2023). Außerhalb offizieller Kommunikation jedoch verbreiten Taliban-Offizielle bzw. ihnen nahestehende Kommentatoren, u. a. in den sozialen Medien, das Narrativ, dass ehemalige Regierungsmitglieder bzw. -angestellte, aber auch Personen, die mit ausländischen Regierungen gearbeitet haben, Verräter am Islam und an Afghanistan sind (AA 26.6.2023). Es wird berichtet, dass sich die Kampagnen der Taliban auch gegen die Familienmitglieder ehemaliger Militär- und Polizeikräfte richten (KaN 18.10.2023).

Während zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte, oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen, bislang nicht nachgewiesen werden konnten (AA 26.6.2023), berichten Menschenrechtsorganisationen allerdings über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.1.2023). Diese Fälle lassen sich zumindest teilweise eindeutig Taliban-Sicherheitskräften zuordnen. Inwieweit diese Taten politisch angeordnet wurden, ist nicht zu verifizieren. Sie wurden aber durch die Taliban-Regierung trotz gegenteiliger Aussagen mindestens toleriert bzw. nicht juristisch verfolgt (AA 26.6.2023).

Im März 2022 gründeten die Taliban die Kommission für die Verbindungsaufnahme und Rückführung afghanischer Persönlichkeiten (KaN 18.10.2023; vgl. SIGAR 2.2023), um mit hochrangigen ehemaligen Beamten und Spitzenmilitärs über ihre Rückkehr ins Land zu verhandeln und ihnen Sicherheit und Schutz zu versprechen. Die Rückkehrer erhalten "Immunitätskarten", um sicherzustellen, dass sie nicht aufgrund ihrer früheren Tätigkeit inhaftiert werden. Einige müssen sich die Karten nach ihrer Rückkehr besorgen, was sich als äußerst schwierig erweist, da die Taliban keine speziellen Registrierungszentren bekannt gegeben haben und der Zugang zur Kommission nach wie vor schwierig ist. Die Kommission wird von Shahabuddin Delawar, dem Taliban-Minister für Bergbau und Erdöl, geleitet und umfasst sechs weitere hochrangige Taliban-Mitglieder aus Militär und Geheimdienst (KaN 18.10.2023; vgl. TN 17.3.2022). Seit ihrer Gründung ist es der Kommission gelungen, eine Reihe ehemaliger Beamter, darunter hochrangige Militär- und Polizeibeamte, zur Rückkehr in das Land zu bewegen. Während einige von ihnen der Rückkehr zugestimmt haben, haben viele aus Angst vor den "falschen Versprechungen" der Taliban beschlossen, nicht zurückzukehren. Die Taliban haben sich jedoch jeden prominenten Rückkehrer zunutze gemacht, indem sie ihn auf dem Flughafen von Kabul gefilmt und die Videos dann in den sozialen Medien als Werbematerial verbreitet haben. Die meisten Rückkehrer werden später zu Taliban-Unterstützern, befürworten ihre Ideologie und fordern weltweite Anerkennung. Manche sehen diese Rückkehr als eine Treueerklärung an die Taliban. Einige Mitglieder der ehemaligen Streitkräfte, die nach Versprechungen der Taliban nach Afghanistan zurückgekehrt waren, gaben an, wie Feinde behandelt worden zu sein, und dass ihre persönlichen Daten über Social-Media verbreitet wurden. Während einer angab, dass er kurzfristig verhaftet und verhört und sein Haus im Anschluss mehrfach von den Taliban durchsucht wurde, gab ein anderer Rückkehrer an, dass er zusätzlich einen Taliban-Beamten mit 50.000 AFN bestechen musste, um eine "Immunitätskarte" zu erhalten. Zusätzlich mussten Rückkehrer einen Treueid auf die Taliban leisten (KaN 18.10.2023).

Die Vereinten Nationen (VN) (UNAMA 22.1.2023), Nichtregierungsorganisationen (NGOs) (HRW 11.1.2024) sowie Medien (Afintl 3.2.2024; vgl. RFE/RL 13.11.2023, KaN 18.10.2023, 8am 23.7.2023) berichten von Entführungen und Ermordungen von ehemaligen Regierungs- und Sicherheitskräften seit August 2021 (AA 26.6.2023; vgl. ACLED 11.8.2023). Täter können davon ausgehen, dass auch persönlich motivierte Taten gegen diesen Personenkreis nicht geahndet werden (AA 26.6.2023).

Für den Zeitraum vom 16.8.2021 - 30.5.2023 verzeichnet ACLED über 400 Gewalttaten gegen ehemalige Regierungs- und Sicherheitsbeamte, von denen 290 von den Taliban verübt wurden (siehe nachstehende Grafik). Bei vielen Angriffen, die von nicht identifizierten Angreifern verübt wurden, haben lokale Quellen oder Familien der Opfer die Taliban beschuldigt, dafür verantwortlich zu sein (ACLED 11.8.2023).

Angriff auf ehemalige Mitglieder der Regierung Zeitachse August 2021 bis Juni 2023

Quelle: ACLED 11.8.2023

UNAMA dokumentiert für denselben Zeitraum (15.8.2021 - 30.6.2023) sogar mindestens 800 Menschrechtsverletzungen gegen ehemalige Regierungs- und Sicherheitsbeamte, darunter außergerichtliche Tötungen, gewaltsames Verschwinden, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen sowie Drohungen (UNAMA 22.8.2023).

Darstellung von Berichten über Menschenrechtsverletzungen von ehemaligen Mitarberitern der Regierung und ehemaigen ANDSF Mitglieder

Quelle: UNAMA 22.8.2023

Nach Angaben von UNAMA sind ehemalige Angehörige der afghanischen Nationalarmee am stärksten von Menschenrechtsverletzungen bedroht, gefolgt von der Polizei (sowohl der afghanischen Nationalpolizei (ANP) als auch der afghanischen Lokalpolizei (ALP)) und Beamten der National Directorate of Security (NDS). Menschenrechtsverletzungen gegen ehemalige Regierungsbeamte und Angehörige der ANDSF wurden in allen 34 Provinzen registriert, wobei die meisten Verletzungen in den Provinzen Kabul, Kandahar und Balkh verzeichnet wurden. Die oben genannten Gruppen sind zwar in allen Provinzen gefährdet, doch scheint es in einigen Gegenden zu einer verstärkten gezielten Gewalt zu kommen. So dokumentierte UNAMA mindestens 33 Menschenrechtsverletzungen gegen ehemalige ANP-Mitglieder in Kandahar (mehr als ein Viertel aller Menschenrechtsverletzungen gegen ehemalige ANP-Mitglieder im ganzen Land) und mindestens elf Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Khost gegen ehemalige Mitglieder der Khost Protection Force (KPF), darunter außergerichtliche Tötungen, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen sowie Folter und Misshandlungen (UNAMA 22.8.2023).

Für die meisten der von UNAMA berichteten Verstöße liegen nur begrenzte Informationen über die Maßnahmen vor, die von den Taliban-Behörden ergriffen wurden, um die Vorfälle zu untersuchen und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. In einigen Fällen hat UNAMA Berichte erhalten, dass die mutmaßlichen Täter von Vorfällen, die sich gegen ehemalige Regierungsbeamte und ANDSF-Mitglieder richteten, festgenommen wurden. Die Taliban-Behörden haben auch öffentlich ihre Absicht angekündigt, bestimmte Vorfälle zu untersuchen (UNAMA 22.8.2023).

Personen denen vorgeworfen wird, von westlichen Werten beeinflusst zu sein

Letzte Änderung 2024-04-09 06:30

Berichten zufolge haben die Taliban das Ziel, die afghanische Gesellschaft zu "reinigen" (JS 20.4.2023; vgl. WP 18.2.2023) und "ausländischen" Einfluss aus Afghanistan zu vertreiben (CTC Sentinel 9.8.2022). Die afghanische Gesellschaft soll von allem "gesäubert" werden, was die Taliban als "westliche" Werte ansehen, einschließlich Bildung für Mädchen, Beschäftigung und Bewegungsfreiheit für Frauen sowie Meinungs- und Versammlungsfreiheit (JS 20.4.2023).

Während einer vom Dänischen Flüchtlingsrat (DRC) am 28.11.2022 organisierten Konferenz gab Dr. Liza Schuster, Dozentin für Soziologie an der University of London, an, dass diejenigen, die nach 2021 ausgereist sind, von den Taliban oft als "Verräter" angesehen werden. Einzelne Taliban-Mitglieder erklären in weitverbreiteten Videoaufnahmen, dass es eine Sünde sei, Afghanistan zu verlassen, und diejenigen, die gehen, werden als Sünder bezeichnen. Darüber hinaus erklärte Dr. Schuster, dass die Taliban Profile in den sozialen Medien kontrollieren und Personen deshalb der moralischen Korruption bezichtigt wurden. Familienangehörige von Ausgereisten wurden laut Dr. Schuster auch von Taliban-Beamten und Nachbarn schikaniert, unter anderem durch Vertreibungen und aggressive Verhöre (DRC 28.11.2022; vgl. EUAA 12.2023).

So haben sie in einigen Gegenden Anweisungen gegen das Kürzen von Bärten erlassen und Männern geraten, keine westliche Kleidung zu tragen (RFE/RL 17.6.2022). Obwohl keine allgemeine Kleiderordnung für Männer erlassen wurde (India Today 28.7.2023; vgl. EUAA 12.2023), finden sich auf Social Media Angaben von jungen afghanischen Männern, die von Taliban-Kämpfern geschlagen wurden, weil sie "westliche" Kleidung wie Jeans trugen (WION 27.7.2023). Auch wurde Regierungsangestellten angeordnet, sich einen Bart wachsen zu lassen und eine Kopfbedeckung zu tragen. Es wurde berichtet, dass in bestimmten Fällen gegen jene vorgegangen wurde, die sich nicht an diese Anordnungen gehalten haben (Afintl 1.3.2024; vgl. REU 28.3.2022). Ein Taliban-Beamter rief dazu auf, die Krawatte nicht mehr zu tragen, da sie ein Symbol für das christliche Kreuz sei (BAMF 31.12.2023; vgl. AT 26.7.2023), wobei die Taliban bereits im Jahr 2022 Studenten und Lehrende dazu aufriefen, keine Krawatten zu tragen (TN 15.4.2022).

Im Februar 2024 hielt ein hochrangiger Taliban Medienschaffende in Afghanistan dazu an, auf das Rasieren von Bärten und das Fotografieren zu verzichten. Er sagte weiter, dass der Bartwuchs im Islam obligatorisch sei und dass es eine große Sünde sei, ihn zu rasieren (KaN 21.2.2024; vgl. KP 21.2.2024). Zuvor hatte der Gouverneur der Taliban in Kandahar kürzlich eine schriftliche Anweisung an alle Institutionen und Behörden der Taliban in dieser Provinz herausgegeben, die das Fotografieren von formellen und informellen Treffen und Zeremonien verbietet (KP 21.2.2024; vgl. WION 19.2.2024). Im März 2024 gab ein Sprecher des Ministeriums für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern an, dass "dünne Kleidung" im Widerspruch zur Scharia und der afghanischen Kultur stehen würde, und forderte Händler auf, auf die Einfuhr solcher Kleidung zu verzichten (Afintl 1.3.2024).

Es gibt jedoch auch Berichte über Menschen, die in Kabul in bestimmten Teilen der Stadt T-Shirts und westliche Kleidung mit US-Motiven trugen (NYT 29.6.2023; vgl. SIGA 25.7.2023). Es wird auch darauf hingewiesen, dass man sich in Afghanistan praktisch alles kaufen kann, wenn man das Geld dazu hat (SIGA 25.7.2023). Außerdem berichtete die New York Times über Fast-Food-Restaurants und Bodybuilding-Fitnessstudios, die es in Kabul-Stadt gibt. Die Autoren erklären sich diese Dissonanz damit, dass in Kabul gemäßigtere Beamte tätig sind, als in der Kernzone der Taliban in Kandahar (NYT 29.6.2023).

Während einigen Quellen zufolge Musik in Afghanistan verboten ist (KP 6.2.2024; vgl. UNGA 9.9.2022), berichten andere, dass das Spielen von Musik in der Öffentlichkeit verboten sei (BBC 31.7.2023) und dass Taliban Veranstaltungen, bei denen Musik gespielt wird, unterbrechen und Menschen wegen des Spielens von Musik verhaften (Rukhshana 22.7.2022; vgl. KP 6.2.2024), während in einigen Lokalen in Kabul weiterhin Musik gespielt wird (SIGA 25.7.2023; vgl. NYT 29.6.2023). In Kandahar wurde durch das Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern das Spielen und Hören von Musik in der ganzen Stadt verboten (8am 27.6.2023) und in Kabul forderten die Taliban Besitzer von Hochzeitssälen auf, keine Musik zu spielen (RFE/RL 12.6.2023). Berichten zufolge konfiszieren Taliban Musikinstrumente und verbrennen sie öffentlich (DW 31.7.2023; vgl. RFE/RL 18.8.2023) und gehen auch gegen Personen vor, die Musik in Privatfahrzeugen oder auf Telefonen abspielen (Afintl 31.7.2023).

Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung 2025-01-14 15:59

Afghanistan befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban; Widerstandsgruppen gelingt es bislang nicht oder nur vorübergehend, effektive territoriale Kontrolle über Gebiete innerhalb Afghanistans auszuüben. Dauerhafte Möglichkeiten, dem Zugriff der Taliban auszuweichen, bestehen daher gegenwärtig nicht. Berichte über Verfolgungen machen deutlich, dass die Taliban aktiv versuchen "Ausweichmöglichkeiten" im Land zu unterbinden (AA 26.6.2023).

Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war der Reiseverkehr zwischen den Städten im Allgemeinen ungehindert möglich (USDOS 20.3.2023a). Die Taliban setzen jedoch Kontrollpunkte ein, um den Verkehr innerhalb des Landes zu regeln, und es wird berichtet, dass sie Reisende durchsuchen und nach bekannten oder vermeintlichen Regimegegnern fahnden. Außerdem werden Mobiltelefone und Social-Media-Aktivitäten der Reisenden überprüft (FH 9.3.2023). So wurde im Jahr 2022 berichtet, dass zwischen dem Flughafen von Kabul und der Stadt Kabul bewaffnete Taliban Kontrollpunkte besetzen und die Straßen patrouillierten (VOA 12.5.2022; vgl. NPR 9.6.2022). Einem ehemaligen afghanischen Militärkommandanten zufolge überprüfen Taliban-Kräfte die Namen und Gesichter von Personen an Kontrollpunkten anhand von "Listen mit Namen und Fotos ehemaliger Armee- und Polizeiangehöriger" (HRW 30.3.2022). Meistens handelt es sich um Routinekontrollen (IOM 22.2.2024), bei denen nur wenig kontrolliert wird (SIGA 25.7.2023). Wenn jedoch ein Kontrollpunkt aus einem bestimmten Grund eingerichtet wird, kann diese Durchsuchung darauf abzielen, bestimmte Gegenstände wie Drogen, Waffen oder Sprengstoff aufzuspüren. Kontrollpunkte, die von den Taliban besetzt sind, sind über ganz Afghanistan verteilt und befinden sich in der Regel entlang der Hauptversorgungsrouten und in der Nähe der Zugänge zu größeren Städten. Die Haltung und der Umfang der Durchsuchungen an diesen Kontrollpunkten variieren je nach Sicherheitslage. Darüber hinaus werden je nach Bedarf Kontrollpunkte und Straßensperren für Suchaktionen, Sicherheitsvorfälle oder VIP-Bewegungen eingerichtet (IOM 22.2.2024).

Seit Dezember 2021 ist es afghanischen Frauen untersagt, ohne einen Mahram Fernreisen zu unternehmen. Innerhalb besiedelter Gebiete konnten sich Frauen freier bewegen, obwohl es immer häufiger Berichte über Frauen ohne Mahram gab, die angehalten und befragt wurden (USDOS 20.3.2023a). Das Taliban-Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern hat es Fahrern verboten, allein reisende Frauen mitzunehmen (RFE/RL 19.1.2022; vgl. DW 26.12.2021). Zu darüber hinausgehenden Bewegungseinschränkungen liegen IOM-Afghanistan keine offiziellen Berichte vor. Es gab jedoch Fälle, in denen Bürger misshandelt wurden, weil sie sich nicht an die von den Taliban auferlegten üblichen Regeln hielten. IOM berichtet auch über eine steigende Anzahl von Vorfällen, bei denen UNSMS-Personal (United Nations Security Management System) vorübergehend angehalten wurde, wobei hier die Vorgehensweise der Taliban je nach Ort unterschiedlich ist (IOM 22.2.2024).

Rückkehr

Letzte Änderung 2025-01-30 11:56

Auch wenn es nur wenig Informationen zu Rückkehrern aus Europa nach Afghanistan gibt, berichten das österreichische BMI (Bundesministerium für Inneres) (BMI 27.3.2024) und andere Quellen (MEE 1.6.2022; vgl. AAN 20.1.2024, DRC 28.11.2022), dass es auch nach der Machtübernahme der Taliban zur freiwilligen Rückkehr afghanischer Staatsbürger kommt (MEE 1.6.2022; vgl. AAN 20.1.2024). Dem Afghanistan Analysts Network (AAN) zufolge kehren auch einige Mitarbeiter der ehemaligen Regierung und internationaler NGOs nach Afghanistan zurück, darunter ein Mitarbeiter einer NGO, der mit seiner Familie nach zwei Jahren Aufenthalt in Dänemark nach Afghanistan zurückkehrte (AAN 20.1.2024). Auch die Nachrichtenagentur Middle East Eye berichtet von der freiwilligen Rückkehr von Afghanen, darunter Mitarbeiter von internationalen NGOs (MEE 1.6.2022) und nach Angaben von EUAA gibt es auch freiwillige Rückkehrer aus den USA (EUAA 12.2023). Die Taliban haben am 16.3.2022 eine Kommission unter Leitung des Taliban-Ministers für Bergbau und Petroleum ins Leben gerufen, die Mitglieder der ehemaligen wirtschaftlichen und politischen Elite überzeugen soll, nach Afghanistan zurückzukehren. Im Rahmen dieser Bemühungen sollen inzwischen 200 mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten nach Afghanistan zurückgekehrt sein, darunter auch ehemalige Minister und Parlamentarier. Die Taliban-Regierung trifft widersprüchliche Aussagen darüber, ob es den Rückkehrern gestattet sein wird, sich politisch zu engagieren (AA 26.6.2023).

Am 30.8.2024 wurden erstmals seit der Machtübernahme der Taliban afghanische Staatsangehörige aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben. Nach Angaben der deutschen Bundesregierung handelt es sich dabei um "afghanische Straftäter, afghanische Staatsangehörige, die sämtlich verurteilte Straftäter waren, die kein Bleiberecht in Deutschland hatten und gegen die Ausweisungsverfügungen vorlagen" (Standard 30.8.2024; vgl. Spiegel 30.8.2024). Die insgesamt 28 abgeschobenen Afghanen wurden nach ihrer Rückkehr nach Kabul durch die Taliban angehalten und ins Gefängnis gebracht. Kurz darauf wurden sie nach Auskunft der Taliban wieder auf freien Fuß gesetzt (Spiegel 6.9.2024; vgl. AN 10.9.2024), nach einer schriftlichen Zusicherung, dass sie keine Verbrechen in Afghanistan begehen würden (AMU 8.9.2024). In einem Interview, welches am 16.9.2024 veröffentlicht wurde, bestätigte ein Taliban-Sprecher, dass alle aus Deutschland rückgeführten afghanischen Staatsbürger freigelassen wurden. Sie wurden mithilfe der Vermittlung eines Staates, mit dem die Taliban "freundschaftliche Beziehungen" führen, eingeflogen. Auch sind die Taliban laut dem Sprecher bereit, auch in Zukunft abgeschobene Afghanen aus Deutschland aufzunehmen (Fokus 16.9.2024).

IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.8.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden. IOM Afghanistan hält jedoch die Kommunikation mit ehemaligen Rückkehrern aufrecht, um humanitäre Hilfe anzubieten, die Stabilisierung der Gemeinschaft zu unterstützen und die interne Migration in Zusammenarbeit mit den Taliban-Behörden, humanitären Partnern und lokalen Gemeinschaften zu steuern. IOM Afghanistan wendet verschiedene Methoden an, um mit ehemaligen unterstützten Rückkehrern in Afghanistan in Kontakt zu bleiben. Dazu gehören das Engagement in den Gemeinden, eine zentralisierte Datenbank (Displacement Tracking Matrix [DTM]) und die direkte Kommunikation als Folgemaßnahme, insbesondere mit den Begünstigten, die von IOM direkt mit ihren Diensten durch Überwachungs- und Folgebesuche unterstützt wurden (IOM 22.2.2024; vgl. IOM 17.9.2024).

Das deutsche Auswärtige Amt geht davon aus, dass die Taliban zurückkehrende Personen im Rahmen ihrer allgemeinen Praxis im Umgang mit der Zivilbevölkerung behandeln. Die Bedrohung der persönlichen Sicherheit ist im Einzelfall das zentrale Hindernis für zurückkehrende Personen. Auch vor dem Hintergrund der faktischen Kontrolle der Taliban über alle Landesteile lässt sich die Frage einer möglichen Gefährdung im Einzelfall nicht auf einzelne Landesteile, etwaige Sicherheitsrisiken durch Terrorismus oder lokale Kampfhandlungen begrenzen. Entscheidend für die individuelle Sicherheit der Personen bleibt, nach dem Dafürhalten des Auswärtigen Amtes, vielmehr die Frage, wie die Person von der Taliban-Regierung und dritten Akteuren wahrgenommen wird (AA 12.7.2024).

Nach Einschätzung von UNAMA besteht die Möglichkeit, dass im Ausland straffällig gewordene Rückkehrende, wenn die Tat einen Bezug zu Afghanistan aufweist, in Afghanistan zum Opfer von Racheakten z. B. von Familienmitgliedern der Betroffenen werden können; auch eine erneute Verurteilung durch das von den Taliban kontrollierte Justizsystem ist nicht ausgeschlossen, wenn der Fall den Behörden bekannt würde (AA 12.7.2024). Im Hinblick auf jene verurteilten Straftäter, welche im August 2024 aus Deutschland nach Afghanistan rückgeführt wurden, sagte ein Sprecher der Taliban, dass gegen diese kein Strafverfahren in Afghanistan vorliegen würde. Sollte dies der Fall gewesen sein, wären sie einem Richter vorgeführt worden. Er gab weiters an, dass den Taliban keine Informationen über die in Deutschland begangenen Straftaten vorliegen (Fokus 16.9.2024).

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zu Staatsangehörigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit und Religionszugehörigkeit des Beschwerdeführers gründen sich auf die gleichbleibenden Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren.

Die Identität des Beschwerdeführers konnte mangels der Vorlage eines identitätsbezeugenden Dokuments im Original nicht festgestellt werden.

Die Feststellungen zum Herkunftsort sowie zu den Familienangehörigen des Beschwerdeführers konnten auf Basis der Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren ergehen.

Selbiges gilt für die Feststellung hinsichtlich der von ihm gesprochenen Sprache.

Dass der Beschwerdeführer ledig und kinderlos ist, ergibt sich aus seinen gleichbleibenden Angaben im Verfahren.

Die Feststellungen zu seiner Asylantragstellung in Österreich ergeben sich aus dem Akteninhalt.

Dass die Obsorge für den Beschwerdeführer mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 08.09.2023 dem Kinder- und Jungendhilfeträger Land XXXX , vertreten durch den Magistrat der Stadt XXXX , übertragen wurde, geht aus dem im Akt einliegenden Beschluss des Bezirksgerichts XXXX hervor.

Die Feststellungen zum in Österreich aufhältigen Onkel des Beschwerdeführers konnten auf Basis seiner Angaben beziehungsweise der Aussage des als Zeugen einvernommenen Onkels des Beschwerdeführers getroffen werden.

Dass der Beschwerdeführer gesund und arbeitsfähig ist, ergibt sich ebenso aus seinen Ausführungen im Verfahren. Der Beschwerdeführer hat keine medizinischen Unterlagen vorgelegt, aus welchen körperliche Beeinträchtigungen oder regelmäßige medizinische Behandlungen abzuleiten wären. Für seine Arbeitsfähigkeit spricht auch, dass er derzeit in Österreich eine Beschäftigung ausübt.

Seine strafgerichtliche Unbescholtenheit geht aus dem im Akt einliegenden aktuellen Strafregisterauszug hervor.

2.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

2.2.1. Zur vorgebrachten Verfolgungsgefahr in Afghanistan:

Die Feststellung, wonach der Beschwerdeführer eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft machen konnte, beruht auf folgenden Erwägungen:

Der Beschwerdeführer brachte vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sowie in der mündlichen Beschwerdeverhandlung im Wesentlichen vor, dass sein Vater Angehöriger des afghanischen Militärs gewesen sei, weswegen auch er das Land habe verlassen müssen. Die Familie sei zwei Mal von den Taliban überfallen worden. Der Beschwerdeführer und seine Mutter seien auch geschlagen worden.

Eingangs ist zu betonen, dass nicht verkannt wird, dass der Beschwerdeführer im Alter von fünfzehn Jahren in das österreichische Bundesgebiet einreiste und er auch im Entscheidungszeitpunkt noch minderjährig ist. Aufgrund seines jungen Alters kann naturgemäß von ihm nicht erwartet werden, dass er seine Erfahrungen auf dieselbe Weise schildern kann, wie es einem Erwachsenen zuzumuten ist, zumal nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit das Alter, der Entwicklungsstand, eine allfällige Unreife sowie Bildung und die kulturellen Hintergründe zu berücksichtigen sind (vgl. VfGH vom 27.06.2012, U 98/12). Auch unter Berücksichtigung des Alters des Beschwerdeführers erwiesen sich die Angaben zu seinen Fluchtgründen jedoch nicht als glaubhaft.

Bereits das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat in seiner Beweiswürdigung dargelegt, dass die vom Beschwerdeführer dargelegte Fluchtgeschichte beziehungsweise Bedrohungssituation nicht glaubhaft sei und somit als nicht den Tatsachen entsprechend gewertet werden müsse. Auch das erkennende Gericht kommt nach gesamtheitlicher Würdigung und insbesondere aufgrund des in der mündlichen Beschwerdeverhandlung gewonnenen Eindrucks zu der Überzeugung, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat nicht asylrelevant verfolgt wird:

Zunächst ist festzuhalten, dass sich die Ausführungen des Beschwerdeführers zur Berufstätigkeit seines Vaters auf vage Schilderungen beschränkten. So sprach der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen davon, dass sein Vater Mitglied einer afghanischen Spezialeinheit gewesen sei und „gefährliche Aufgaben“ gehabt habe. Er glaube, dieser habe als Kommandant 15 oder 20 Männer gehabt.

Zur Glaubhaftmachung der Tätigkeit des Vaters beim Militär legte der Beschwerdeführer drei Fotos, auf denen den Angaben des Beschwerdeführers zufolge sein Vater abgebildet sei, und zwei digitale Kopien von schlecht beziehungsweise teilweise unlesbaren Dokumenten vor. Die vorgelegten Fotos, die den Vater des Beschwerdeführers abbilden würden, waren schon deshalb nicht dazu geeignet, den Wahrheitsgehalt der vom Beschwerdeführer vorgetragenen Fluchtgeschichte zu belegen, zumal anhand der vorgelegten Fotos in keiner Weise verifizierbar ist, dass es sich bei der darauf abgebildeten Person tatsächlich um den Vater des Beschwerdeführers handelt. Hinsichtlich der übrigen vorgelegten Dokumente ist auszuführen, dass es sich dabei um keine Originale handelt und diese schon allein deshalb einer Überprüfung der Echtheit nicht zugänglich sind. Die vorgelegte Bestätigung, die insbesondere als Nachweis der Berufstätigkeit des Vaters dienen soll, betrifft einen Kursbesuch im Jahr 2012 und weist außer einem Vornamen keine Daten auf, die auf eine Personengleichheit mit dem Vater des Beschwerdeführers hindeuten würden. Es ist insgesamt nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer, der seinen eigenen Angaben zufolge in ständigem Kontakt mit seinem Vater stand und steht, keine anderen Belege für dessen angeblich von 2008 bis 2021 dauernde Tätigkeit beim Militär vorlegen konnte als eine Bestätigung eines Kursbesuchs im Jahr 2012. Hätte der Vater des Beschwerdeführers tatsächlich über Jahre beim Militär gearbeitet, so wäre davon auszugehen gewesen, dass der Beschwerdeführer noch weitere Dokumente oder Ausweise hätte vorlegen können.

Zudem traten im Verfahren mehrere Widersprüche und Unplausibilitäten auf, die – auch in Anbetracht des Alters des Beschwerdeführers – mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass er zu seinen Ausreisegründen nicht die Wahrheit angab:

So verwickelte sich der Beschwerdeführer hinsichtlich seines Wohnortes und der Aufenthaltsorte seines Vaters in Widersprüche. In der Erstbefragung gab der Beschwerdeführer zu seiner Wohnsitzadresse im Herkunftsland befragt XXXX in der Provinz Nangarhar an. Er brachte damals auch vor, dass sein Vater derzeit in Pakistan lebe. Vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führte er aus, mit zwei bis drei Jahren in die Stadt Nangarhar (in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 27.02.2025 gab die Rechtsvertreterin zu Protokoll, es sei die Stadt XXXX gemeint gewesen) übersiedelt zu sein und dort gelebt zu haben bis die Taliban Nangarhar erobert hätten. Danach habe sein Vater, der in Kabul gewesen sei, gemeint, der Beschwerdeführer, seine Mutter und seine Geschwister sollten auch dorthin kommen, anschließend sei sein Vater in den Iran ausgereist, der Beschwerdeführer, seine Mutter und die Geschwister seien von Kabul zurück nach Nangarhar gegangen; nach zwei Monaten sei der Beschwerdeführer von dort aus alleine in den Iran ausgereist.

In der Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 27.02.2025 änderte der Beschwerdeführer sein Vorbringen dahingehend ab, dass er nun davon sprach, er sei am Tag der Machtübernahme nur mit seinem Vater nach Kabul gegangen, dort zwei Monate verblieben und habe dann direkt von Kabul aus das Herkunftsland verlassen. Im Widerspruch zu seinen Ausführungen vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, wonach sein Vater in den Iran ausgereist sei, brachte der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vor, sein Vater und er seien nach Pakistan ausgereist.

Die Ausführungen des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, wonach es zu einem Missverständnis bei der Protokollierung gekommen sei und sie nach dem Sturz der Regierung nicht von Kabul zurück nach Nangarhar gegangen seien, sind als bloße Schutzbehauptung zu werten. Der Beschwerdeführer gab sowohl vor dem Bundesamt als auch in der mündlichen Beschwerdeverhandlung an, den Dolmetscher gut verstanden zu haben und führte auch aus, dass ihm die Niederschrift rückübersetzt wurde. Dass er sich am Tag der Einvernahme nicht gut konzentrieren konnte, geht aus dem Protokoll der Einvernahme vom 21.03.2024 nicht hervor, vielmehr bejahte der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde die Frage, ob er einvernahmefähig sei. Dass es zu einem Missverständnis bei der Protokollierung gekommen ist, ist auch schon deshalb unwahrscheinlich, da der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt mehrmals davon sprach, nach der Machtübernahme mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in Nangarhar gelebt zu haben. So gab er zunächst an, er sei, nachdem sie beim Vater in Kabul gewesen seien, nach Nangarhar zurückgegangen. Auf die Frage, wann er dann Nangarhar verlassen habe, führte er schließlich aus, mit seiner Mutter und den beiden Brüdern für zwei Monate in Nangarhar gewesen zu sein, wo sie von den Taliban wegen des Verbleibs des Vaters unter Druck gesetzt worden seien, weshalb der Beschwerdeführer dann schließlich noch im Jahr 2021 alleine aus Nangarhar ausgereist sei.

Würde man davon ausgehen, dass die Familie aufgrund der Berufstätigkeit des Vaters des Beschwerdeführers tatsächlich in Gefahr war, so erscheint es nicht plausibel, dass der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Geschwistern nach Nangarhar zurückgegangen sein soll, anstatt bereits mit seinem Vater das Land zu verlassen, vor allem unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Taliban bereits zuvor das Haus der Familie des Beschwerdeführers überfallen und den Beschwerdeführer und seine Mutter geschlagen haben sollen.

Selbst wenn man den Ausführungen des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung, wonach er mit seinem Vater direkt nach der Machtübernahme nach Kabul gegangen sei und sie zusammen von dort aus das Heimatland verlassen haben, folgt, so bleibt unplausibel, dass die Mutter und die Geschwister weiterhin im Elternhaus in XXXX verblieben sind, dies obwohl diese bereits zweimal von den Taliban aufgesucht worden seien und die Mutter von den Taliban schon zuvor geschlagen worden sei.

Nur am Rande sei angemerkt, dass sich die Ausführungen des Beschwerdeführers in der Erstbefragung am 05.02.2023, wonach er seinen Entschluss zur Ausreise aus Afghanistan vor ungefähr sechs Monaten gefasst habe und er vor ungefähr sechs Monaten zu Fuß über Pakistan in den Iran gegangen sei, weder mit seinen Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl noch mit seinen abgeänderten Ausführungen in der mündlichen Beschwerdeverhandlung in Einklang bringen lassen. Aufgrund der Angaben des Beschwerdeführers in der polizeilichen Erstbefragung ist davon auszugehen, dass dieser wesentlich später als vom Beschwerdeführer in den nachfolgenden Einvernahmen behauptet, Afghanistan verlassen hat, was wiederum gegen eine aktuelle Verfolgungsgefahr des Beschwerdeführers spricht.

Wenn man die Angaben des Beschwerdeführers zu seiner Reiseroute und der Aufenthaltsdauer in den durchreisten Staaten zugrunde legt, ist es in keinem Fall plausibel, wenn der Beschwerdeführer behauptet, er habe bereits kurz nach der Machtübernahme der Taliban sein Heimatland verlassen, dies selbst dann nicht, wenn man unter Berücksichtigung der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers seine Angaben, wonach der Sturz der Regierung erst Ende des Jahres 2021 stattgefunden habe, heranzieht. Legt man die Angaben zu seiner Aufenthaltsdauer in den durchreisten Ländern in der Erstbefragung zugrunde, so hätte der Beschwerdeführer bereits rund fünf Monate nach dem Verlassen Afghanistans Österreich erreichen müssen. Auch wenn man die abgeänderten Angaben zur Reiseroute beziehungsweise Aufenthaltsdauer in den durchreisten Ländern (so sprach der Beschwerdeführer in der Erstbefragung etwa davon, nach seiner Ausreise aus Afghanistan durch Pakistan nur durchgereist zu sein, hingegen führte er in der mündlichen Verhandlung aus, sie seien ungefähr ein bis eineinhalb Monate in Pakistan geblieben) in der mündlichen Verhandlung heranzieht, hätte der Beschwerdeführer bereits rund vier Monate nach der Ausreise aus Afghanistan im Bundesgebiet ankommen müssen.

Widersprüchlich gestalteten sich weiters die Angaben zu den Cousins des Vaters des Beschwerdeführers, die den Taliban angehört und den Beschwerdeführer vielfach bedroht haben sollen. Vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führte der Beschwerdeführer aus, die Cousins wären im Distrikt XXXX aktiv gewesen; er wisse nicht, welche Funktion sie genau gehabt hätten. Im Rahmen der Einvernahme vor der belangten Behörde sprach er allgemein gehalten davon, dass die Stiefcousins Taliban-Angehörige gewesen seien und ständig gekommen seien und gefragt hätten, wo der Vater des Beschwerdeführers sei. Der Beschwerdeführer konkretisierte nur einen einzigen Vorfall, bei dem die Cousins ihn auf dem Schulweg direkt angesprochen und bedroht hätten. So sprach der Beschwerdeführer damals, dazu befragt, ob er vor seiner Ausreise jemals persönlich von den Stiefcousins des Vaters bedroht worden sei, davon, dass sie ihn, als er zur Schule oder zu einem Kurs gegangen sei, direkt auf dem Weg angesprochen und ihm mitgeteilt hätten, sie würden ihn „mithilfe Gottes“ bald töten. Derzeit sei ihnen das nicht möglich, weil noch die Regierung an der Macht sei. In der Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht brachte der Beschwerdeführer vor, die Cousins des Vaters hätten ihn ab dem Jahr 2019 immer wieder bedroht; alle zwei bis drei Monate, immer, wenn sie ihn gesehen hätten. Sie hätten ihn dahingehend bedroht, dass sie ihn umbringen werden. Auf die Frage, ob er ungefähr eingrenzen könne, wie oft die Cousins des Vaters ihn bedroht hätten, antwortete der Beschwerdeführer in der Verhandlung ausweichend, indem er lediglich zu Protokoll gab: „Unterschiedlich. Alle 2-3 Monate, immer als sie mich gesehen haben.“ Es erscheint lebensfremd, dass die Cousins des Vaters den Beschwerdeführer über einen derart langen Zeitraum immer wieder dahingehend bedroht haben sollen, dass sie ihn, wenn er groß sein werde, „umbringen und richtig schlagen“ würden, ohne ihr Vorhaben aber jemals in die Tat umzusetzen. Es ist auch nicht verständlich, weshalb der Beschwerdeführer durch die Cousins des Vaters bedroht worden sein soll, nicht jedoch seine Mutter. Dass der Vater von den Cousins telefonisch bedroht worden sei, brachte der Beschwerdeführer erstmals in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor. Unverständlich erscheint, weshalb die Bedrohungen mit dem Sturz der afghanischen Regierung aufgehört haben sollen; wie bereits festgehalten ist aufgrund der Angaben des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl davon auszugehen, dass dieser nach der Machtübernahme noch zwei Monate im Elternhaus aufhältig war, selbst wenn man aber den dazu völlig widersprüchlichen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung, wonach der Beschwerdeführer und sein Vater direkt nach der Machtübernahme nach Kabul gegangen und dort zwei Monate verblieben seien, Glauben schenken würde, so erscheint unverständlich, weshalb nicht zumindest weiterhin telefonische Bedrohungen durch die Cousins stattgefunden haben.

Auch die Schilderungen der Besuche der Taliban im Elternhaus durch den Beschwerdeführer im Jahr 2020 und 2021 wirkten wenig authentisch.

Der Beschwerdeführer wurde in der mündlichen Beschwerdeverhandlung dazu aufgefordert darzulegen, wie der erste Vorfall, als die Taliban gekommen seien, abgelaufen ist. Er gab diesbezüglich im Wesentlichen an, es seien ungefähr sieben bis acht Personen in der Nacht zu ihnen ins Haus gekommen und seien die ganze Nacht bei ihnen verblieben, wobei sie den Beschwerdeführer und seine Mutter geschlagen und das ganze Haus durchsucht hätten. Sie hätten durchgehend gefragt, wo der Vater des Beschwerdeführers sei, in der Früh seien sie dann weggegangen, zuvor hätten sie noch die Hände des Beschwerdeführers nach hinten gebunden. Auf Nachfrage der erkennenden Richterin, ob sich der Beschwerdeführer erklären könne, weshalb die Taliban die gesamte Nacht bei ihnen verbracht hätten, gab der Beschwerdeführer lediglich an, dies nicht zu wissen.

Nach acht bis neun Monaten hätten die Taliban erneut das Haus der Familie des Beschwerdeführers aufgesucht, diesmal seien weder der Beschwerdeführer noch seine Mutter geschlagen worden. Die Ausführungen des Beschwerdeführers, wonach die Taliban bei diesem zweiten Vorfall drei bis vier Stunden bei ihnen gewesen seien, Tee verlangt und über Stunden immer wieder gefragt hätten, wo der Vater des Beschwerdeführers sei, wirkten ebenso wenig plausibel.

Geht man davon aus, dass die Taliban bereits zweimal das Haus der Familie aufgesucht hatten, um nach dem Vater des Beschwerdeführers zu fragen, so erscheint es wenig nachvollziehbar, dass dieser den Angaben des Beschwerdeführers zufolge rund fünfzehn Tage oder einen Monat nach diesem zweiten Vorfall zurück nach Hause gekommen sein soll, um kurze Zeit danach wieder nach XXXX zu fahren und dann anschließend vor dem Sturz der afghanischen Regierung erneut nach Hause zu kommen. Würde man davon ausgehen, dass die Taliban tatsächlich nach dem Vater des Beschwerdeführers gesucht haben, so wäre zu erwarten gewesen, dass er nicht nochmalig in das Elternhaus zurückgekommen wäre.

Gegen die behauptete Verfolgungsproblematik spricht zudem, dass die Mutter und die Geschwister des Beschwerdeführers seinen eigenen Angaben zufolge nach der Machtübernahme noch rund eineinhalb Jahre im Herkunftsstaat verblieben sind. So sprach der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor der belangten Behörde am 21.03.2024 davon, dass auch seine Mutter und die Geschwister vor ungefähr einem Jahr in den Iran ausgereist seien, jedoch befanden sich diese dann jedenfalls bis Anfang des Jahres 2023, sohin nach der Machtübernahme noch etwa eineinhalb Jahre, im Heimatland. Dass die Mutter schließlich auch das Haus der Familie verlassen habe und zu ihrer Schwester nach XXXX gegangen sei, erwähnte der Beschwerdeführer erstmals in der mündlichen Beschwerdeverhandlung; er sprach aber auch vor dem Bundesverwaltungsgericht davon, dass sich seine Mutter und seine Geschwister zu dem Zeitpunkt, als der Beschwerdeführer und sein Vater für zwei Monate in Kabul aufhältig gewesen seien, nach wie vor im Elternhaus befanden.

In der fortgesetzten mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 28.03.2025 wurde der in Vorarlberg lebende Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers als Zeuge einvernommen; doch auch dieser konnte insgesamt keine näheren, plausiblen Angaben machen, die geeignet wären, die Fluchtgründe des Beschwerdeführers zu untermauern. So gab dieser an, bereits im Jahr 2012 Afghanistan verlassen zu haben und seither nicht mehr dort gewesen zu sein. Zuletzt habe er seinen Bruder, den Vater des Beschwerdeführers, im Jahr 2012 gesehen; sie hätten damals in einem gemeinsamen Haushalt gelebt. Auf die Berufstätigkeit des Vaters des Beschwerdeführers angesprochen, berichtete der Zeuge davon, dass sein Bruder mit ihrem Vater zusammen auf den Feldern gearbeitet und diesem bei der Ernte geholfen habe. Nebenbei habe er damals versucht, eine Arbeit bei der Behörde zu finden. Auf die Frage, ob der Vater des Beschwerdeführers noch eine andere Berufstätigkeit ausgeübt habe, solange dieser noch in Afghanistan aufhältig gewesen sei, brachte er vor, dies nicht zu wissen („Sonst weiß ich nicht, was er gemacht hat, abgesehen von dieser Arbeit auf den Feldern“). Er habe auch keinerlei nähere Informationen dazu, weshalb die Familie von den Taliban bedroht worden sei. Erst auf Nachfrage der Rechtsvertreterin brachte der Zeuge dann vor, dass der Vater des Beschwerdeführers schließlich bei den Special Forces aufgenommen worden sei, wo er bis zur Machtübernahme der Taliban über einen Zeitraum von rund neun Jahren tätig gewesen sei und eine höhere Position innegehabt habe. Abgesehen davon, dass diese Ausführungen nicht mit seinen zunächst getätigten Angaben, wonach er nur wisse, dass sein Vater auf den Feldern gearbeitet habe, in Einklang zu bringen sind, ist festzuhalten, dass der Zeuge keinerlei persönlichen Wahrnehmungen hinsichtlich der angeblichen Berufstätigkeit des Vaters des Beschwerdeführers hat, sondern lediglich zu Protokoll gab, von seiner Mutter rund acht Monate nach seiner Ausreise erfahren zu haben, dass sein Bruder zum Militär gegangen sei, sich sohin also nur aufs Hörensagen berufen konnte. Von den angeblichen Bedrohungen der Cousins wisse er ebenso nur vom Hörensagen, weil ihm dies sein Bruder einmal telefonisch erzählt habe. Insgesamt vermochte also auch die Aussage des Zeugen die Fluchtgeschichte des Beschwerdeführers nicht zu untermauern.

Nur am Rande sei angemerkt, dass der als Zeuge einvernommene Onkel des Beschwerdeführers, der seinen eigenen Angaben zufolge in sehr regelmäßigem Kontakt mit dem Vater des Beschwerdeführers stehe, zu Protokoll gab, dieser befinde sich seit ein bis zwei Jahren im Iran. Der Beschwerdeführer brachte hingegen vor, sein Vater halte sich bereits seit dem Jahr 2021 im Iran auf.

Zur Berücksichtigung der Minderjährigkeit in der Beweiswürdigung hat der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgesprochen, dass etwa in einem Fall, in dem das fluchtauslösende Ereignis im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren erlebt wurde und diesem Ereignis eine mehrjährige Flucht nachfolgte, eine besonders sorgfältige Beurteilung der Art und Weise des erstatteten Vorbringens zu den Fluchtgründen erforderlich ist und die Dichte dieses Vorbringens nicht mit "normalen Maßstäben" gemessen werden darf. Es muss sich aus der Entscheidung erkennen lassen, dass solche Umstände in die Beweiswürdigung Eingang gefunden haben und dass darauf Bedacht genommen wurde, aus welchem Blickwinkel die Schilderung der Fluchtgeschichte erfolgte. Auf die Tatsache, dass ein Asylwerber seinen Heimatstaat als Minderjähriger verlassen hat, ist in der Entscheidung einzugehen. Im Lichte dieser Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist ersichtlich, dass es zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Minderjährigen einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung bedarf (vgl. etwa VwGH 29.01.2021, Ra 2020/01/0470, mwN.).

Das erkennende Gericht bezog den Umstand der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers in seine Erwägungen ein, wodurch etwa Widersprüche des Beschwerdeführers bei Zeitangaben (er gab zum Beispiel an, davon auszugehen, dass die Machtübernahme der Taliban erst Ende 2021 erfolgte) bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens keine maßgebliche Berücksichtigung fanden. Dennoch können die zahlreichen Widersprüche, in die sich der Beschwerdeführer verwickelte, sowie die Unplausibilitäten in seinem Vorbringen nicht außer Betracht bleiben; so ist etwa davon auszugehen, dass auch ein minderjähriger Beschwerdeführer in Erinnerung hat, wo er sich über längere Zeiträume aufhielt oder in welches Land er zu welchem ungefähren Zeitpunkt geflohen ist.

Insgesamt machte der Beschwerdeführer nach dem Dafürhalten der erkennenden Richterin im Verfahren keinen glaubwürdigen Eindruck und gelang es dem Beschwerdeführer nicht, individuelle und konkrete Verfolgungsgründe glaubhaft zu machen. Es war aufgrund des persönlichen Eindrucks, den sich die erkennende Richterin im Zuge der mündlichen Beschwerdeverhandlung verschaffen konnte, nicht davon auszugehen, dass das widersprüchliche Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers auf sein Alter oder eine fehlende Reife zurückzuführen war. Auch im Lichte der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Minderjährigen (vgl. hierzu etwa auch VwGH vom 24.09.2014, Ra 2014/19/0020, mwN; vom 23.02.2016, Ra 2015/20/0161; vom 16.04.2002, 2000/20/0200 sowie vom 14.12.2006, 2006/01/0362), wonach eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung erforderlich und ein herabgesetzter Maßstab an die Genauigkeit der Angaben anzulegen ist, erschienen die Angaben des Beschwerdeführers hinsichtlich der behaupteten Bedrohungen, auch in Zusammenschau mit der Zeugenaussage des erwachsenen Onkels des Beschwerdeführers, aus oben dargestellten Erwägungen nicht glaubhaft.

2.2.2. Es ist festzuhalten, dass auch keine Anhaltspunkte bestehen, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines Aufenthalts in Europa seit 2023 psychischer und/oder physischer Gewalt oder anderen erheblichen Eingriffen ausgesetzt wäre. Der Beschwerdeführer brachte in der Beschwerdeschrift als weiteren Fluchtgrund vor, ihm drohe Verfolgung aufgrund der illegalen Ausreise aus Afghanistan und der Asylantragstellung in Österreich, da ihm oppositionelle Gesinnung unterstellt werde. Aus diesem gänzlich unsubstantiierten Vorbringen ist jedoch eine konkrete, individuelle Verfolgung nicht erkennbar. Dass jeder afghanische Staatsangehörige, der illegal aus Afghanistan ausgereist ist und sich einige Jahre in Europa aufgehalten hat, im Falle einer Rückkehr alleine aus diesem Grund einer Verfolgung ausgesetzt wäre, ergibt sich auch aus der Berichtslage nicht.

Gründe, warum dem Beschwerdeführer aufgrund des 27monatigen Aufenthalts in Europa eine individuell gegen ihn gerichtete physische und/oder psychische Gewalt oder andere erhebliche Eingriffe drohen würden, wurden nicht in substantiierter Weise vorgebracht. Der Beschwerdeführer wuchs in Afghanistan in einem afghanischen Familienverband auf. Er bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam und spricht mit Paschtu eine in Afghanistan verbreitete Sprache. Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer aktiv gegen den Islam auftritt und es ist für ihn zumutbar, im Rahmen der islamischen Religion im Herkunftsstaat zu leben. Vor diesem Hintergrund kann nicht erkannt werden, dass dem Beschwerdeführer aufgrund einer „Verwestlichung“ als Rückkehrer aus Europa eine konkrete Verfolgungsgefahr in Afghanistan drohen würde.

2.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat beruhen auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan aus dem COI-CMS, Version 12, Datum der Veröffentlichung 31.01.2025, und den genannten Detailquellen. Es handelt sich dabei um Berichte diverser anerkannter staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen bzw. Organisationen und bieten diese ein in inhaltlicher Hinsicht übereinstimmendes und ausgewogenes Bild zur Situation in Afghanistan. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

Abweisung der Beschwerde:

3.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0370). Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr“, wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287).

Nach der Rechtsprechung des VwGH ist der Begriff der „Glaubhaftmachung“ im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften iSd ZPO zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der Beschwerdeführer die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, dh er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG § 45 Rz 3 mit Judikaturhinweisen). Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der „hierzu geeigneten Beweismittel“, insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 19.03.1997, 95/01/0466). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (vgl. VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).

Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

Eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation stellt nach ständiger Judikatur des VwGH keinen hinreichenden Grund für eine Asylgewährung dar (vgl. etwa VwGH 14.03.1995, 94/20/0789; 17.06.1993, 92/01/1081). Wirtschaftliche Benachteiligungen können nur dann asylrelevant sein, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen (vgl. etwa VwGH 09.05.1996, 95/20/0161; 30.04.1997, 95/01/0529 u. a.). Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist eine Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der GFK genannten Anknüpfungspunkt – nämlich der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gewinnung – zusammenhängt.

3.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des Beschwerdeführers, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist:

Wie in der Beweiswürdigung dargelegt, war das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach sein Vater im Heimatland beim Militär gewesen sei und der Beschwerdeführer aufgrund dessen einer Verfolgungsgefahr durch die Taliban ausgesetzt sei, als nicht glaubwürdig zu beurteilen.

Eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu prognostizierende, individuelle und konkret gegen den Beschwerdeführer gerichtete Verfolgung aus einem in der GFK genannten Grund aufgrund seiner Eigenschaft als Rückkehrer aus Europa konnte ebenso nicht abgeleitet werden.

Zusammenfassend wurde keine Verfolgung des Beschwerdeführers dargelegt bzw. glaubhaft gemacht, die auf einem der in Art. 1 A Z 2 GFK genannten Konventionsgründe – nämlich Verfolgung aufgrund der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung – beruht.

Das Verlassen des Herkunftsstaates aus persönlichen Gründen oder wegen der dort vorherrschenden prekären Lebensbedingungen stellt keine relevante Verfolgung im Sinne der GFK dar. Auch Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen für sich genommen keine Verfolgung im Sinne der GFK dar. Zudem ist den Länderberichten zu entnehmen, dass die allgemeine Lage in Afghanistan nicht dergestalt ist, dass bereits jedem, der sich dort aufhält, der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werden müsste.

Da der Beschwerdeführer keine asylrelevante Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft gemacht hat, war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG als unbegründet abzuweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab (vgl dazu die zu Spruchteil A) zitierte Rechtsprechung), noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Die in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall vorzunehmende Beweiswürdigung ist – soweit diese nicht unvertretbar ist – nicht revisibel (vgl hierzu etwa VwGH vom 19.04.2016, Ra 2015/01/0002, mwN).

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