E624/2024 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden. Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger und stellte nach illegaler Einreise nach Österreich am 21. Dezember 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er brachte im Wesentlichen vor, wegen seiner kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit sowie aus politischen Gründen verfolgt zu werden. Im Rahmen einer freiwilligen Mitgliedschaft bei der HDP habe er Menschen über die Politik informiert und an Demonstrationen teilgenommen, weshalb er unter Beobachtung der Polizei gestanden sei. Zudem laufe gegen ihn in der Türkei ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachtes der Propaganda für eine terroristische Organisation. Zum Beweis dafür legte der Beschwerdeführer Urkunden in türkischer Sprache vor, die unter anderem das gegen ihn laufende strafrechtliche Ermittlungsverfahren belegen sollten.
2. Mit Bescheid vom 5. Mai 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte die Zulässigkeit der Abschiebung in die Türkei fest und setzte eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise fest.
3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab.
Zu den Fluchtgründen führt das Bundesverwaltungsgericht – soweit für das vorliegende Beschwerdeverfahren relevant – aus, es könne nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen die PKK/YPG und deren Tätigkeit verherrlichenden Facebook Postings im April 2022 ein unfaires Strafverfahren, eine unverhältnismäßige Strafe oder unmenschliche Haftbedingungen drohten. Begründend hält es dazu im Wesentlichen fest, es könne letztlich nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer versucht habe, das Bundesverwaltungsgericht zu täuschen, und dass die Postings bzw das Ermittlungsverfahren nicht den Tatsachen entsprächen; doch selbst im Falle der Wahrunterstellung wäre daraus noch keine Verfolgungsgefahr für den Beschwerdeführer abzuleiten. Aus den einschlägigen Länderberichten sei nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ableitbar, dass ihm im Falle der Rückkehr in die Türkei ein unfaires, Art6 EMRK widersprechendes Strafverfahren drohe. Die PKK gelte auch nach europäischen Maßstäben als Terrororganisation, und das Verhalten des Beschwerdeführers sei auch gemäß §282a österreichisches Strafgesetzbuch (StGB) strafbar. Im Übrigen stehe noch gar nicht fest, ob die Staatsanwaltschaft überhaupt Anklage gegen den Beschwerdeführer erheben werde. Sollte es dazu kommen, sehe der maßgebliche Art7 Abs2 türkisches Anti Terrorismus Gesetz zwar einen Strafrahmen vor, der deutlich über jenem des §282a StGB liege; jedoch sei in diesem Zusammenhang jedem Staat ein gewisser kriminalpolitischer Gestaltungsspielraum zuzugestehen. Im Ergebnis sei für den Beschwerdeführer keine politisch motivierte Strafe zu erwarten, die diesen Gestaltungsspielraum übersteige.
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.
6. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat keine Äußerung erstattet.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 13.836/1994, 14.650/1996, 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001, 20.374/2020; VfGH 14.3.2023, E3480/2022), oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001, 18.614/2008, 20.448/2021 und 20.478/2021).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001, 20.371/2020 und 20.405/2020).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Bei Behauptung einer asylrelevanten Verfolgung durch die staatliche Strafjustiz ist bei der Prüfung nach §3 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) zu klären, ob rechtsstaatlich legitime Strafverfolgung ("prosecution") vorliegt oder es sich um Verfolgung aus einem der Gründe des Art1 Abschnitt A Z2 GFK ("persecution") handelt. Dabei kommt es entscheidend auf die angewendeten Rechtsvorschriften, aber auch auf die tatsächlichen Umstände ihrer Anwendung sowie die Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe an. Für die Beurteilung der Asylrelevanz einer staatlichen Strafverfolgung ist festzustellen, welches tatsächliche Verhalten vom Strafgericht als erwiesen angenommen wurde, welche Straftatbestände (einschließlich ihrer Strafdrohung) auf Grund dieses Verhaltens als erfüllt angesehen wurden und welche Sanktion dafür jeweils verhängt wurde. Erst diese Feststellungen bilden die Grundlage für die Beurteilung, ob die verhängten Sanktionen für die als erfüllt angesehenen Straftatbestände verhältnismäßig sind (s zu alledem VfGH 26.2.2024, E3982/2023, mwN). Für die Annahme einer asylrechtlich relevanten Verfolgung aus Gründen der politischen Gesinnung reicht es bereits aus, dass diese von den Verfolgern bloß unterstellt wird (vgl VfGH 11.6.2014, U498/2013; 13.12.2017, E2497/2016 ua).
3.2. Im vorliegenden Fall lag dem Bundesverwaltungsgericht zwar noch kein Urteil eines türkischen Strafgerichtes vor. Allerdings brachte der Beschwerdeführer unter Vorlage von Urkunden vor, gegen ihn laufe in der Türkei ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachtes der Propaganda für eine terroristische Organisation. Die Authentizität der vorgelegten Urkunden wird vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht angezweifelt. Dennoch finden sich im angefochtenen Erkenntnis keine Feststellungen dahingehend, ob gegen den Beschwerdeführer in der Türkei strafrechtliche Ermittlungen laufen würden oder nicht. Das Bundesverwaltungsgericht führt lediglich aus, es könne nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen die PKK/YPG und deren Tätigkeit verherrlichende Facebook Postings im April 2022 ein unfaires Strafverfahren, eine unverhältnismäßige Strafe oder unmenschliche Haftbedingungen drohten. Wiewohl das Bundesverwaltungsgericht begründend darüber hinaus anführt, ein Täuschungsversuch des Beschwerdeführers hinsichtlich seiner Postings in den sozialen Medien bzw des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens könne nicht ausgeschlossen werden, vermag allein diese Ausführung – insbesondere angesichts der vom Beschwerdeführer vorgelegten Urkunden, deren Authentizität das Bundesverwaltungsgericht an keiner Stelle anzweifelt – noch nicht die Annahme eines in dieser Hinsicht unglaubwürdigen Vorbringens zu tragen.
3.3. Wie der Verfassungsgerichtshof zu laufenden Strafverfahren in der Türkei bereits ausgesprochen hat, darf eine drohende Verfolgungsgefahr nicht allein mit dem Hinweis verneint werden, dass derzeit noch keine Verurteilung des Beschwerdeführers erfolgt sei, ohne zu prüfen, womit er bei einer Rückkehr in die Türkei voraussichtlich rechnen müsste (vgl VfGH 26.2.2024, E3982/2023; 27.2.2024, E3802/2023; 26.6.2024, E1754/2024).
3.4. Selbst unter der Annahme eines gegen den Beschwerdeführer in der Türkei anhängigen strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens verneint das Bundesverwaltungsgericht eine asylrelevante Verfolgungsgefahr. Aus den einschlägigen Länderberichten sei nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ableitbar, dass ihm im Falle der Rückkehr ein unfaires, Art6 EMRK widersprechendes Verfahren drohe. Zwar würde bemängelt, "dass gerade im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen die subjektive Tatseite im Strafverfahren oft wenig Beachtung finde, […] der Terrorbegriff eine weite Auslegung erfahre und an sich harmlose Tätigkeiten, wie etwa die Veröffentlichung von reinen Fakten […] kriminalisiert würden, […] Zeugenaussagen bisweilen konstruiert würden oder Druck auf Belastungszeugen wie auch auf Verteidiger ausgeübt werde und […] die Verfahrensdauer manchmal übermäßig lang sei". Allerdings handle es sich im vorliegenden Fall "nur um die rechtliche Beurteilung […] nicht zu leugnenden Geschehens", weshalb Zeugenaussagen "wohl nicht nötig sein" würden und "auch Folter zur Erpressung eines Geständnisses nicht zu erwarten" sei. Zudem habe der Beschwerdeführer "jedenfalls keine reinen Fakten, sondern seine Meinung und eine Bewertung der PKK bzw der YPG kundgetan"; er stehe angesichts seines Verhaltens sowie seines "politisch untergeordneten Hintergrund[es] […] wohl nicht im Fokus des politischen Interesses an der Terrorbekämpfung". Keine Bedenken hegt das Bundesverwaltungsgericht schließlich auch im Hinblick auf den Umstand, dass der Beschwerdeführer im Ermittlungsverfahren unter Umständen keine Akteneinsicht erhalte.
3.5. Diese nicht weiter begründeten Annahmen stehen jedoch in offenem Widerspruch zu den Länderberichten, die das Bundesverwaltungsgericht zwar zu Feststellungen erhebt, in seinen Erwägungen jedoch nur punktuell heranzieht und insbesondere mit Blick auf den vorliegenden Fall zentrale Passagen unberücksichtigt lässt. Das Bundesverwaltungsgericht wäre gehalten gewesen, sich nachvollziehbar mit den Länderfeststellungen auseinanderzusetzen, denen zufolge die Missachtung grundlegender Verfahrensgarantien in der Türkei bei Fällen von Terrorismusverdacht zu einem Grad an Willkür geführt habe, der das Wesen des Rechtsstaates gefährde (vgl VfGH 26.2.2024, E3982/2023; 27.2.2024, E3802/2023; 26.6.2024, E1754/2024, jeweils mwN).
3.6. Überdies unterlässt es das Bundesverwaltungsgericht, die dem Beschwerdeführer konkret angelasteten Tathandlungen in Verhältnis zu den gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Vorwürfen zu setzen (vgl VfGH 26.6.2024, E1754/2024, mwN). Die bei der Prüfung nach §3 AsylG 2005 im Einzelfall gebotene Abgrenzung zwischen rechtsstaatlich legitimer Strafverfolgung ("prosecution") und Verfolgung iSd Art1 Abschnitt A Z2 GFK ("persecution") erübrigt sich nicht schon mit dem bloßen Hinweis auf die Strafbarkeit der Gutheißung terroristischer Straftaten gemäß §282a Abs2 StGB sowie einer abstrakten Gegenüberstellung der Strafrahmen dieser Bestimmung des österreichischen mit jener des türkischen Rechts. Allein aus diesen pauschalen Hinweisen lässt sich für den vorliegenden Fall – insbesondere vor dem Hintergrund der Länderberichte zur Rechtsstaatlichkeit und zum Justizwesen in der Türkei – weder die Legitimität der Strafverfolgung noch die Verhältnismäßigkeit einer allenfalls drohenden strengen Bestrafung des Beschwerdeführers ableiten.
4. Somit hat das Bundesverwaltungsgericht die Rechtslage grob verkannt sowie den konkreten Sachverhalt völlig außer Acht gelassen. Das angefochtene Erkenntnis ist daher mit Willkür belastet.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.