JudikaturVfGH

E3802/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
27. Februar 2024

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden. Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger und stellte am 17. Dezember 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er brachte im Wesentlichen vor, ihm drohe in der Türkei ungerechtfertigte Strafverfolgung auf Grund seiner Aktivitäten für die "Demokratische Partei der Völker" (HDP), somit Verfolgung aus Gründen der politischen Gesinnung.

2. Mit Bescheid vom 30. Juli 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei, und legte eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise fest.

3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab.

Als erwiesen stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, dass strafrechtliche Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer in der Türkei wegen des Verdachtes terroristischer Propaganda für eine bewaffnete Terrororganisation gemäß Art7 Abs2 des Anti-Terror-Gesetzes geführt würden und ihm bei einer Verurteilung eine Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren drohe. Zudem seien am 2. Dezember 2020 ein Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer erlassen und am 25. Mai 2021 eine Hausdurchsuchung am (ehemaligen) Wohnort des Beschwerdeführers in Istanbul durchgeführt worden. Als Datum der Straftat werde der 21. November 2020 angegeben; an diesem Tag habe der Beschwerdeführer an einer Demonstration teilgenommen.

Die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz begründet das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst damit, dass noch keine Anklage gegen den Beschwerdeführer erhoben worden sei. Schon deshalb könne nicht prognostiziert werden, ob er in der Türkei einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafe ausgesetzt würde. Eine Einvernahme sei lediglich daran gescheitert, dass sich der Beschwerdeführer nicht mehr in der Türkei aufhalte. Zudem sei der Beschwerdeführer in der Türkei durch einen Rechtsanwalt vertreten und habe das Recht, gegen allfällige für ihn nachteilige Entscheidungen Rechtsmittel zu erheben. Es sei davon auszugehen, dass das Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer unter Beachtung der wesentlichen Verfahrensgrundsätze durchgeführt werde. Die Umstände des Ermittlungsverfahrens ließen keinen Schluss auf eine unlautere oder diskriminierende Strafverfolgung zu. Das Ermittlungsverfahren würde der legitimen Bekämpfung terroristischer Aktivitäten dienen; die Strafdrohung von einem bis zu fünf Jahren Haft sei keine unverhältnismäßige Strafe.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und ebenso wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 13.836/1994, 14.650/1996, 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001, 20.374/2020; VfGH 14.3.2023, E3480/2022), oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001, 18.614/2008, 20.448/2021 und 20.478/2021).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001, 20.371/2020 und 20.405/2020).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Bei Behauptung einer asylrelevanten Verfolgung durch die staatliche Strafjustiz ist bei der Prüfung nach §3 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005) zu klären, ob rechtsstaatlich legitime strafrechtliche Verfolgung ("prosecution") vorliegt oder es sich um Verfolgung aus einem der Gründe des Art1 Abschnitt A Z2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ("persecution") handelt. Dabei kommt es entscheidend auf die angewendeten Rechtsvorschriften, aber auch auf die tatsächlichen Umstände ihrer Anwendung sowie die Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe an (s VfGH 25.6.2014, U433/2013; 8.6.2021, E4123/2020; vgl auch VwGH 29.8.2022, Ra 2022/18/0110, mwN). Für die Beurteilung der Asylrelevanz einer staatlichen Strafverfolgung ist festzustellen, welches tatsächliche Verhalten vom Strafgericht als erwiesen angenommen wurde, welche Straftatbestände (einschließlich ihrer Strafdrohung) auf Grund dieses Verhaltens als erfüllt angesehen wurden und welche Sanktion dafür jeweils verhängt wurde. Erst diese Feststellungen bilden die Grundlage für die Beurteilung, ob die verhängten Sanktionen für die als erfüllt angesehenen Straftatbestände verhältnismäßig sind (s VfGH 8.6.2021, E4123/2020; vgl auch VwGH 29.8.2022, Ra 2022/18/0110, mwN).

3.2. Im vorliegenden Fall lag dem Bundesverwaltungsgericht zwar noch kein Urteil eines türkischen Strafgerichtes gegen den Beschwerdeführer vor. Das Bundesverwaltungsgericht stellt jedoch fest, dass gegen den Beschwerdeführer strafrechtliche Ermittlungen wegen Verbreitung terroristischer Propaganda auf Grund des türkischen Anti Terror Gesetzes liefen, ein Haftbefehl gegen ihn erlassen und eine Hausdurchsuchung an seinem vormaligen Wohnsitz durchgeführt worden seien.

3.3. Das Bundesverwaltungsgericht begründet die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz lediglich damit, dass zum Entscheidungszeitpunkt noch keine Anklage gegen den Beschwerdeführer erhoben worden und das in der Türkei geführte Ermittlungsverfahren aktuell kein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität sei. Damit verkennt es, dass eine bereits erlittene Verfolgung keine Voraussetzung für die Asylgewährung ist. Maßgeblich ist vielmehr die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht im Rahmen einer Prognoseentscheidung (vgl VfGH 18.9.2023, E944/2023; sowie jeweils vom selben Tag, E1167/2023 und E2019/2023). Entscheidend ist, ob die betroffene Person vor dem Hintergrund der zu treffenden aktuellen Länderfeststellungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (s zB VfGH 18.9.2023, E944/2023, mwN). Das Bundesverwaltungsgericht hätte daher eine drohende Verfolgungsgefahr nicht bloß mit dem Hinweis verneinen dürfen, dass derzeit noch keine Anklage gegen den Beschwerdeführer erhoben worden sei, ohne zu prüfen, womit er bei einer Rückkehr in die Türkei voraussichtlich rechnen müsste.

3.4. Zwar legt das Bundesverwaltungsgericht seinen Feststellungen zugrunde, dass der Beschwerdeführer am Tag der ihm vorgeworfenen Straftat an einer Demonstration teilgenommen habe. Mit den näheren Umständen der Teilnahme des Beschwerdeführers und einem allfälligen Zusammenhang zur Strafverfolgung setzt sich das Bundesverwaltungsgericht in weiterer Folge jedoch nicht auseinander. Vielmehr verneint das Bundesverwaltungsgericht pauschal, dass das Vorgehen der türkischen Strafjustiz "aus einem unsachlichen Motiv heraus" erfolge. Die gegen den Beschwerdeführer laufenden Ermittlungen dienten lediglich der "legitimen Bekämpfung terroristischer Aktivitäten". Des Weiteren geht das Bundesverwaltungsgericht ohne nähere Begründung davon aus, dass die strafrechtlichen Ermittlungen "unter Beachtung der wesentlichen Verfahrensgrundsätze" geführt würden und der "in der Türkei durch einen Rechtsanwalt vertreten[e]" Beschwerdeführer "gegen allfällige für [ihn] nachteilige Entscheidungen Rechtsmittel" erheben könne.

3.5. Diese nicht weiter begründeten Annahmen stehen jedoch in offenem Widerspruch zu den Länderberichten, die das Bundesverwaltungsgericht zwar zu Feststellungen erhebt, in seinen Erwägungen aber unbeachtet lässt (vgl VfGH 8.6.2021, E1559/2021). Diesen zufolge gibt es – worauf auch der Verwaltungsgerichtshof bereits ausdrücklich hingewiesen hat (s VwGH 29.8.2022, Ra 2022/18/0110) – "massive Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit von Strafverfahren in der Türkei", mit denen sich das Bundesverwaltungsgericht auseinandersetzen hätte müssen (vgl VfGH 26.2.2024, E3982/2023).

4. Somit hat das Bundesverwaltungsgericht die Rechtslage grob verkannt sowie den konkreten Sachverhalt völlig außer Acht gelassen und insofern jegliche Auseinandersetzung mit der entscheidungswesentlichen Frage unterlassen, welche Sanktionen dem Beschwerdeführer für welches tatsächliche Verhalten auf Grund welcher Straftatbestände bei einer Rückkehr in die Türkei drohen, und ob – wie vom Beschwerdeführer vorgebracht – ein Konnex zu einem der in Art1 Abschnitt A Z2 GFK genannten Konventionsgründe besteht. Das angefochtene Erkenntnis ist daher mit Willkür belastet.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

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