E3982/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden. Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit, stellte am 6. März 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er brachte im Wesentlichen vor, ihm drohe auf Grund seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt von (politisch) Gefangenen, Menschenrechtsaktivisten, Mitgliedern der pro-kurdischen politischen Partei HDP und Mitgliedern der kurdischen Anwaltskammer sowie in Bezug auf seine Mitgliedschaft in Vereinen, die Menschenrechtsverletzungen in türkischen Gefängnissen an die Medien weitergeleitet hätten, ungerechtfertigte Strafverfolgung in der Türkei. Von den türkischen Behörden sei der Beschwerdeführer immer wieder bedroht und als "Terroristenanwalt" beschimpft worden. Als unmittelbar fluchtauslösendes Ereignis nannte der Beschwerdeführer einen Vorfall, bei dem er auf einer Autofahrt von Adana nach Mersin von der türkischen Geheimpolizei angehalten worden und ihm mitgeteilt worden sei, dass in seinem Fall kein Spielraum mehr bestehe und er das letzte Mal verwarnt werde. Zehn Tage später habe er seinen Herkunftsstaat verlassen.
2. Mit Bescheid vom 2. Juni 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung in die Türkei zulässig sei. Ferner setzte es eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise.
3. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 7. November 2023 wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab.
Als erwiesen nimmt das Bundesverwaltungsgericht an, dass der Beschwerdeführer in der Türkei als Rechtsanwalt gearbeitet, (politisch) Gefangene im Rahmen seiner Berufsausübung unterstützt und sich auch selbst politisch engagiert bzw in sozialen Medien geäußert habe. Gesichert sei auch, dass gegen den Beschwerdeführer am 10. April 2023 Anklage wegen Propaganda für eine terroristische Organisation gemäß Art7 Abs2 des türkischen Anti Terrorismus Gesetzes erhoben worden sei, weil der Beschwerdeführer im Oktober 2021 auf seinem Twitter Account unter anderem mehrere mit dem Hashtag #FreedomForOcalanNow versehene Beiträge geteilt habe. In weiterer Folge sei der Beschwerdeführer – ebenfalls wegen Beiträgen auf seinen Social Media Kanälen – wegen Beleidigung des türkischen Innenministers und Beleidigung eines weiteren Amtsträgers (jeweils) gemäß Art125 Abs3a des türkischen Strafgesetzbuches angeklagt worden. Mit Beschluss des Friedens Strafgerichtes Mersin vom 5. April 2022 sei der Beschwerdeführer zur Festnahme ausgeschrieben worden.
Die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz begründet das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst damit, dass der Beschwerdeführer das ihm von der türkischen Anklagebehörde bzw dem Gericht vorgeworfene Verhalten nicht bestritten habe. Er sei der (rechtlichen) Ansicht, dass dieses Verhalten nicht strafbar sei . Soweit der Beschwerdeführer darzulegen versuche, dass ihn in Bezug auf diese Strafverfahren kein faires Verfahren bzw womöglich eine unverhältnismäßige Bestrafung erwarte, seien keine stichhaltigen Anhaltspunkte dafür hervorgekommen, dass das strafgerichtliche Vorgehen der türkischen Behörden gegen den Beschwerdeführer politisch motiviert sei. Er habe seinen Herkunftsstaat lediglich aus Angst vor legitimer Strafverfolgung verlassen. Es sei zwar davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat verhaftet werde. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei aber noch keine Verurteilung des Beschwerdeführers erfolgt. Es sei auch keine Prognose über den Ausgang des Strafverfahrens möglich. Selbst wenn der Beschwerdeführer für schuldig befunden werde, stehe ihm die Erhebung von Rechtsmitteln bis hin zur Anrufung des Kassationsgerichtshofes in Ankara offen. Der Beschwerdeführer sei bereits einmal aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Dieser Umstand deute darauf hin, dass der Beschwerdeführer nicht (alleine) auf Grund seiner Tätigkeit als kurdischer Rechtsanwalt oder seines politischen Engagements in das Visier der türkischen Strafverfolgungsbehörden geraten sei und deshalb unfaire, nicht den Grundsätzen eines ordentlichen Verfahrens entsprechende Prozesse zu erwarten habe. Es könne nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr eine unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe drohe.
4. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt und ebenso wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
3. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Bei Behauptung einer asylrelevanten Verfolgung durch die staatliche Strafjustiz ist bei der Prüfung nach §3 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) zu klären, ob rechtsstaatlich legitime strafrechtliche Verfolgung ("prosecution") vorliegt oder es sich um Verfolgung aus einem der Gründe des Art1 Abschnitt A Z2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ("persecution") handelt. Dabei kommt es entscheidend auf die angewendeten Rechtsvorschriften, aber auch auf die tatsächlichen Umstände ihrer Anwendung sowie die Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe an (s VfGH 25.6.2014, U433/2013; 8.6.2021, E4123/2020; vgl auch VwGH 29.8.2022, Ra 2022/18/0110, mwN). Für die Beurteilung der Asylrelevanz einer staatlichen Strafverfolgung ist festzustellen, welches tatsächliche Verhalten vom Strafgericht als erwiesen angenommen wurde, welche Straftatbestände (einschließlich ihrer Strafdrohung) auf Grund dieses Verhaltens als erfüllt angesehen wurden und welche Sanktion dafür jeweils verhängt wurde. Erst diese Feststellungen bilden die Grundlage für die Beurteilung, ob die verhängten Sanktionen für die als erfüllt angesehenen Straftatbestände verhältnismäßig sind (s VfGH 8.6.2021, E4123/2020; vgl auch VwGH 29.8.2022, Ra 2022/18/0110, mwN).
3.2. Im vorliegenden Fall lag dem Bundesverwaltungsgericht zwar noch kein Urteil eines türkischen Strafgerichtes gegen den Beschwerdeführer vor. Das Bundesverwaltungsgericht stellt jedoch fest, dass gegen den Beschwerdeführer strafrechtliche Anklagen wegen Verbreitung terroristischer Propaganda auf Grund des türkischen Anti-Terrorismus-Gesetzes und wegen Beleidigung von Amtsträgern erhoben und ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde.
3.3. Das Bundesverwaltungsgericht begründet die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz lediglich damit, dass dem Strafverfahren – soweit ersichtlich – nachvollziehbare Anklagen zugrunde lägen und der Beschwerdeführer zum Entscheidungszeitpunkt noch zu keiner bestimmten Strafe verurteilt worden sei, weshalb von einem ungerechtfertigten Eingriff von erheblicher Intensität nicht ausgegangen werden könne. Damit verkennt das Bundesverwaltungsgericht, dass eine bereits erlittene Verfolgung keine Voraussetzung für die Asylgewährung ist. Maßgeblich ist vielmehr die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht im Rahmen einer Prognoseentscheidung (vgl VfGH 18.9.2023, E944/2023; sowie jeweils vom selben Tag, E1167/2023 und E2019/2023). Entscheidend ist, ob die betroffene Person vor dem Hintergrund der aktuellen Länderfeststellungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (s zB VfGH 18.9.2023, E944/2023, mwN). Das Bundesverwaltungsgericht hätte daher eine drohende Verfolgungsgefahr nicht bloß mit dem Hinweis verneinen dürfen, dass derzeit noch keine Verurteilung des Beschwerdeführers erfolgt sei, ohne zu prüfen, womit er bei einer Rückkehr in der Türkei voraussichtlich rechnen müsste.
3.4. Das Bundesverwaltungsgericht legt zwar seinen Feststellungen zugrunde, dass der Beschwerdeführer in der Türkei als Rechtsanwalt tätig war und dabei auch (politisch) Gefangene im Rahmen seiner Berufsausübung unterstützte. Das Bundesverwaltungsgericht verneint aber, dass das Vorgehen der türkischen Justiz "aus einem unsachlichen Motiv heraus" erfolge. Die gegen den Beschwerdeführer laufenden Ermittlungen dienten lediglich der "legitimen Bekämpfung terroristischer Aktivitäten" bzw dem Schutz der Ehre bzw Würde und des Rufes des Einzelnen in der Gesellschaft. Des Weiteren geht das Bundesverwaltungsgericht ohne nähere Begründung davon aus, dass die strafrechtlichen Ermittlungen "unter Beachtung der wesentlichen Verfahrensgrundsätze" geführt würden und der "in der Türkei durch einen Rechtsanwalt vertreten[e]" Beschwerdeführer "gegen allfällige für [ihn] nachteilige Entscheidungen Rechtsmittel" erheben könne.
3.5. Diese nicht weiter begründeten Annahmen stehen jedoch in offenem Widerspruch zu den Länderberichten, die das Bundesverwaltungsgericht zwar zu Feststellungen erhebt, aber in seinen Erwägungen unbeachtet lässt (vgl VfGH 8.6.2021, E1559/2021). Diesen zufolge gibt es – worauf auch bereits der Verwaltungsgerichtshof ausdrücklich hingewiesen hat (s VwGH 29.8.2022, Ra 2022/18/0110) – "massive Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit von Strafverfahren in der Türkei", mit denen sich das Bundesverwaltungsgericht auseinandersetzen hätte müssen. Laut den Länderfeststellungen würden insbesondere die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, fehlende Garantien für die Gewaltenteilung, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung sowie die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu den schwerstwiegenden Problemen in der Türkei gehören. Die Unabhängigkeit der Justiz sei zusehend und merkbar immer weniger gesichert. Mehrere gesetzliche Bestimmungen verhinderten die umfassende Gewährleistung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Die Bestimmungen des Anti Terrorismus Gesetzes würden extensiv herangezogen und in großem Umfang missbräuchlich angewendet. Problematisch seien vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, etwa zur Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und zur Beleidigung des Staatsoberhauptes. Die Rechtslage diene primär der Einschränkung von politischen Rechten. Diejenigen, die abweichende Meinungen zu Themen äußerten, die das kurdische Volk beträfen, würden seit langem strafrechtlich verfolgt. Bereits die Mitgliedschaft in einem der PKK freundlich gestimmten Verein oder die bloße Veröffentlichung oder Verbreitung von Beiträgen eines solchen Vereins auf Facebook könne zur Verhaftung oder Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Die Missachtung grundlegender Verfahrensgarantien in Fällen von Terrorismus habe zu einem Grad an Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährde. So seien etwa Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertraten, mit Verhaftung und Verfolgung auf Grund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert. Einige Anwälte würden aus Angst vor staatlicher Vergeltung zögern, Fälle von Verdächtigen anzunehmen, die wegen Verbindung zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt sind.
4. Das Bundesverwaltungsgericht hat somit die Rechtslage grob verkannt sowie den konkreten Sachverhalt außer Acht gelassen und insofern jegliche Auseinandersetzung mit der entscheidungswesentlichen Frage unterlassen, welche Sanktionen dem Beschwerdeführer für welches Verhalten auf Grund welcher Straftatbestände bei einer Rückkehr in die Türkei drohen, und ob – wie vom Beschwerdeführer vorgebracht – ein Konnex zu einem der in Art1 Abschnitt A Z2 GFK genannten Konventionsgründe besteht. Das angefochtene Erkenntnis ist daher mit Willkür belastet.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.