JudikaturVfGH

E1754/2024 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
26. Juni 2024

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger und stellte am 24. Juli 2023 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er brachte im Wesentlichen vor, ihm drohe in der Türkei ungerechtfertigte Strafverfolgung auf Grund seiner Teilnahme an Veranstaltungen der Fetullah Gülen-Bewegung. Er habe in den drei Monaten vor seiner Ausreise etwa zwei bis drei Mal wöchentlich an solchen Versammlungen teilgenommen. Drei Wochen vor seiner Ausreise, am 10. Juli 2023, habe eine polizeiliche Razzia stattgefunden, woraufhin er ausgereist sei. Es gebe einen Haftbefehl gegen ihn.

2. Mit Bescheid vom 31. August 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei, legte keine Frist für die freiwillige Ausreise fest, und erkannte einer Beschwerde gegen diesen Bescheid die aufschiebende Wirkung ab.

3. Mit Beschluss vom 4. Oktober 2023 erkannte das Bundesverwaltungsgericht der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu.

4. Mit angefochtenem Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen den Bescheid erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen fest.

Als erwiesen stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, der Beschwerdeführer stehe der Gülen-Bewegung nahe und habe kurz vor seiner Ausreise aus der Türkei an Versammlungen der Gülen-Bewegung teilgenommen. Die Teilnahme an den Versammlungen habe nicht auf einer politischen Motivation des Beschwerdeführers gegründet; er habe lediglich seine Freunde begleitet, um sich die Zeit zu vertreiben. Bei einer polizeilichen Razzia Anfang Juli 2023 sei ein Bekannter des Beschwerdeführers von der türkischen Polizei festgenommen worden, der den türkischen Behörden die Identität des Beschwerdeführers preisgegeben habe. Der Beschwerdeführer sei in der Türkei wegen des Verbrechens angeklagt, ein Mitglied der bewaffneten terroristischen Organisation "FETÖ/PDY" zu sein. Der Beschwerdeführer habe die Türkei verlassen, um einem Strafantritt wegen einer möglichen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe zu entgehen.

Die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz begründet das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst damit, dass es sich bei der Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation um ein kriminelles Delikt handle, für das man in jedem rechtsstaatlichen Land strafrechtlich verfolgt werde. Auch unter Berücksichtigung der Länderberichte sei nicht feststellbar, dass die Strafrechtspflege in der Türkei nach Grundsätzen erfolge, die einem Verfolgungstatbestand iSd Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) zuordenbar wäre. Gegen den Beschwerdeführer sei zwar eine strafrechtliche Anklage erhoben worden, er sei jedoch bisher nicht zu einer bestimmten Strafe verurteilt worden. Der Ausgang des offenen Strafverfahrens sei nicht absehbar und eine verlässliche Prognose hinsichtlich einer allfälligen Verurteilung kaum möglich. Es seien keine Hinweise erkennbar, dass der Beschwerdeführer im Strafverfahren mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit schuldig gesprochen und zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt werde. Auch wäre eine mögliche Verurteilung des Beschwerdeführers gemäß Art314 Abs2 iVm Art226 Abs6 des türkischen Strafgesetzbuches zu einer Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren keine unverhältnismäßige Strafe.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und ebenso wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 13.836/1994, 14.650/1996, 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001, 20.374/2020; VfGH 14.3.2023, E3480/2022), oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001, 18.614/2008, 20.448/2021 und 20.478/2021).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001, 20.371/2020 und 20.405/2020).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Bei Behauptung einer asylrelevanten Verfolgung durch die staatliche Strafjustiz ist bei der Prüfung nach §3 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005) zu klären, ob rechtsstaatlich legitime Strafverfolgung ("prosecution") vorliegt oder es sich um Verfolgung aus einem der Gründe des Art1 Abschnitt A Z2 GFK ("persecution") handelt. Dabei kommt es entscheidend auf die angewendeten Rechtsvorschriften, aber auch auf die tatsächlichen Umstände ihrer Anwendung sowie die Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe an. Für die Beurteilung der Asylrelevanz einer staatlichen Strafverfolgung ist festzustellen, welches tatsächliche Verhalten vom Strafgericht als erwiesen angenommen wurde, welche Straftatbestände (einschließlich ihrer Strafdrohung) auf Grund dieses Verhaltens als erfüllt angesehen wurden und welche Sanktion dafür jeweils verhängt wurde. Erst diese Feststellungen bilden die Grundlage für die Beurteilung, ob die verhängten Sanktionen für die als erfüllt angesehenen Straftatbestände verhältnismäßig sind (s zu alledem VfGH 26.2.2024, E3982/2023, mwN). Für die Annahme einer asylrechtlich relevanten Verfolgung aus Gründen der politischen Gesinnung reicht es bereits aus, dass diese von den Verfolgern bloß unterstellt wird (vgl VfGH 11.6.2014, U498/2013; 13.12.2017, E2497/2016 ua).

3.2. Im vorliegenden Fall lag dem Bundesverwaltungsgericht zwar noch kein Urteil eines türkischen Strafgerichtes gegen den Beschwerdeführer vor. Das Bundesverwaltungsgericht stellt jedoch fest, dass gegen den Beschwerdeführer ein strafrechtliches Verfahren wegen des Verbrechens anhängig ist, Mitglied der bewaffneten Terrororganisation "FETÖ/PDY" zu sein. Den Ausführungen im angefochtenen Erkenntnis zufolge gründet diese Strafverfolgung auf dem Umstand, dass der Beschwerdeführer kurz vor seiner Ausreise an Versammlungen der Gülen-Bewegung teilgenommen habe.

3.3. Wie der Verfassungsgerichtshof zu laufenden Strafverfahren in der Türkei bereits ausgesprochen hat, darf eine drohende Verfolgungsgefahr nicht allein mit dem Hinweis verneint werden, dass derzeit noch keine Verurteilung des Beschwerdeführers erfolgt sei, ohne zu prüfen, womit er bei einer Rückkehr in die Türkei voraussichtlich rechnen müsste (vgl VfGH 26.2.2024, E3982/2023; 27.2.2024, E3802/2023).

3.4. Nicht tragfähig ist die pauschale Annahme des Bundesverwaltungsgerichtes, dass der Beschwerdeführer durch die Teilnahme an Versammlungen der Gülen Bewegung ein in der Türkei strafbares Verhalten gesetzt habe und das Strafverfahren daher legitim sei. Soweit das Bundesverwaltungsgericht hiezu schlicht ausführt, es sei nicht in der Position, eine Grenze zwischen "verurteilenswerten" und "nicht-verurteilenswerten" Taten zu ziehen, verkennt es, dass es bei der Prüfung nach §3 AsylG 2005 gerade darauf ankommt, ob – im jeweiligen Einzelfall – rechtsstaatlich legitime Strafverfolgung ("prosecution") vorliegt oder es sich um Verfolgung iSd Art1 Abschnitt A Z2 GFK ("persecution") handelt.

Diese im Einzelfall gebotene Abgrenzung zwischen legitimer Strafverfolgung und asylrelevanter Verfolgung erübrigt sich auch nicht schon mit dem bloßen Hinweis auf die Strafbarkeit der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung gemäß §278b Abs2 des österreichischen Strafgesetzbuches (StGB).

3.5. Zudem unterlässt es das Bundesverwaltungsgericht, die dem Beschwerdeführer konkret angelasteten Tathandlungen in Verhältnis zu den gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Vorwürfen zu setzen. Das Bundesverwaltungsgericht legt seinen Feststellungen zwar zugrunde, dass der Beschwerdeführer an Versammlungen der Gülen-Bewegung teilgenommen habe, wobei die Teilnahme an diesen nicht auf einer politischen Motivation des Beschwerdeführers gegründet hätte. Mit dem konkreten Verhalten des Beschwerdeführers und den näheren Umständen seiner Teilnahme an diesen Versammlungen sowie deren Charakter setzt sich das Bundesverwaltungsgericht in weitere Folge jedoch nicht auseinander (vgl VfGH 27.2.2024, E3802/2023).

3.6. Das Bundesverwaltungsgericht wäre überdies gehalten gewesen, sich nachvollziehbar mit den Länderfeststellungen auseinanderzusetzen, denen zufolge die Missachtung grundlegender Verfahrensgarantien in der Türkei bei Fällen von Terrorismusverdacht zu einem Grad an Willkür geführt habe, der das Wesen des Rechtsstaates gefährde (vgl VfGH 8.6.2021, E1559/2021; 26.2.2024, E3982/2023; 27.2.2024, E3802/2023, mwN). Im vorliegenden Fall lässt das Bundesverwaltungsgericht auch die von ihm zugrunde gelegten Länderfeststellungen außer Acht, wonach der Ausgang der Strafverfahren wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung, insbesondere hinsichtlich des Strafausmaßes, willkürlich sei.

4. Somit hat das Bundesverwaltungsgericht die Rechtslage grob verkannt sowie den konkreten Sachverhalt völlig außer Acht gelassen. Das angefochtene Erkenntnis ist daher mit Willkür belastet.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

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