JudikaturOGH

2Ob60/25z – OGH Entscheidung

Entscheidung
18. September 2025

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte MMag. Sloboda, Dr. Thunhart und Dr. Kikinger und die Hofrätin Mag. Fitz als weitere Richterin und weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei K*, vertreten durch Dr. Gernot Lehner, Rechtsanwalt in Neumarkt im Hausruckkreis, gegen die beklagte Partei A*, vertreten durch Dr. Martin Neuwirth, Dr. Alexander Neurauter, Rechtsanwälte in Wien, wegen 8.888,73 EUR sA, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts Wels als Berufungsgericht vom 20. November 2024, GZ 22 R 254/24w 59, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Grieskirchen vom 29. August 2024, GZ 2 C 18/23s 51, im angefochtenen Umfang aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss des Berufungsgerichts wird aufgehoben und in der Sache selbst dahin erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts einschließlich der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 3.985,42 EUR (darin enthalten 409,90 EUR USt und 1.526 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1] Der von der Klägerin gehaltene PKW wurde bei einem Verkehrsunfall mit einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug in Frankreich beschädigt.

[2] Die Klägerin begehrt – soweit noch Gegenstand des Rekursverfahrens – ausgehend vom Alleinverschulden des Lenkers des bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeugs den Ersatz ihrer Reparaturkosten.

[3] Die Beklagte wendet das Alleinverschulden des Lenkers des Fahrzeugs der Klägerin ein und beantragte dazu ua die Einvernahme einer in Frankreich wohnhaften Zeugin per Zoom.

[4] Das Erstgericht übermittelte zunächst im August 2023 ein Rechtshilfeersuchen an das französische Rechtshilfegericht. Im Jänner 2024 gab die Beklagte bekannt, dass die Zeugin aus – näher ausgeführten – persönlichen Gründen keinen Gerichtstermin wahrnehmen könne, und beantragte (erneut) deren Einvernahme per Zoom.

[5]Mit Beschluss vom 26. 1. 2024 befristete das Erstgericht – offenbar gestützt auf § 283 Abs 3 ZPO – die Einvernahme der Zeugin zunächst mit 1. 5. 2024. Rechtlich führte es aus, eine Einvernahme per Zoom sei aufgrund der Notwendigkeit, die Zeugin unter Beiziehung eines Dolmetschers sowie eines Sachverständigen unter Vorhalt von Urkunden im Detail zum Unfallhergang zu befragen, nicht möglich.

[6]Nach einem Hinweis der Beklagten, keinen Befristungsantrag der Klägerin erhalten zu haben, stellte letztere einen Antrag nach § 279 Abs 1 ZPO.

[7] Mit Beschluss vom 27. 2. 2024 setzte das Erstgericht zur Vernehmung der Zeugin eine Frist bis 1. 6. 2024, weil der Beweisaufnahme aufgrund der Lebensumstände der Zeugin ein Hindernis von ungewisser Dauer entgegenstehe.

[8] Nach erfolglosem Verstreichen der Frist gab das Erstgericht der Klage ausgehend vom Alleinverschulden des Lenkers des bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeugs – mit Ausnahme der unbekämpft gebliebenen Abweisung pauschaler Unkosten – statt.

[9] Das Berufungsgericht hob das klagsstattgebende Urteil auf, trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf und ließ den Rekurs an den Obersten Gerichtshof zu.

[10]Es bejahte den von der Beklagten in ihrer Berufung allein relevierten Verfahrensverstoß aufgrund der unterbliebenen Einvernahme der in Frankreich wohnhaften Zeugin per Zoom. § 277 ZPO sehe die Einvernahme von Zeugen unter Verwendung von technischen Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung statt der Einvernahme durch einen ersuchten Richter vor, wenn die technischen Möglichkeiten dafür vorlägen und die Einvernahme durch den ersuchten Richter unter Berücksichtigung der Verfahrensökonomie nicht zweckmäßiger oder aus besonderen Gründen erforderlich sei. Die Bestimmung sei auch auf die Einvernahme von Zeugen im Ausland anzuwenden und erfordere – wie auch im Inland – nicht, dass sich die zu vernehmende Person in einem Gerichtsgebäude aufhalte. Umstände, die ausnahmsweise eine Vernehmung durch einen ersuchten Richter erfordern würden, lägen nicht vor. Mangels notwendiger Einschaltung einer ausländischen Behörde bei Vornahme einer Videokonferenz außerhalb eines Gerichtsgebäudes müsse das für Videoeinvernahmen in der EuBVO 2020 vorgesehene Verfahren auch nicht (zwingend) eingehalten werden. Da der Beweisaufnahme aufgrund der Möglichkeit einer Videovernehmung der Zeugin auch außerhalb eines Gerichtsgebäudes (in Frankreich) kein Hindernis entgegenstehe, sei das Verfahren mangelhaft geblieben. Den Rekurs ließ das Berufungsgericht zur Frage zu, ob die Vernehmung eines Zeugen im Wege der Videokonferenz nach § 277 ZPO dessen Anwesenheit in einem Gerichtsgebäude voraussetze.

[11] Dagegen richtet sich der Rekurs der Klägerin mit dem Abänderungsantrag, das Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.

[12] Die Beklagte beantragt in ihrer Rekursbeantwortung , den Rekurs zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[13] Der Rekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig . Er ist im Sinn einer Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils auch berechtigt .

[14]Die Klägerin steht einerseits auf dem Standpunkt, dass die Einvernahme der Zeugin per Videokonferenz jedenfalls untunlich sei, weil sie im Detail zum Unfall zu befragen sei und sie zur Rekonstruktion auf Urkunden Positionen und Geschwindigkeiten zeigen bzw einzeichnen müsse. Andererseits seien im Anwendungsbereich des § 277 ZPO ausschließlich Videokonferenzen von Gerichtsgebäude zu Gerichtsgebäude mit technischer Ausrüstung des Gerichts in einem eigenen Justiz-Zoom-Kreis zulässig. Anderenfalls sei die in § 85b GOG geforderte Datensicherheit, eine zuverlässige Identitätsfeststellung und eine unbeeinflusste Vernehmung nicht gewährleistet. Die von § 132a ZPO eröffnete Möglichkeit von „Videotagsatzungen“ beziehe sich nicht auf Zeugenvernehmungen. Art 19 EuBVO sehe überdies zwingend die Zustimmung des ersuchten Staats vor. Jedenfalls hätte die Beklagte die vom Erstgericht von Beginn an in Aussicht genommene Vernehmung der Zeugin durch den ersuchten Richter im Rechtshilfeweg anstatt einer Videokonferenz nach § 196 ZPO rügen müssen.

1. Zur Beweisbefristung nach § 279 Abs 1 ZPO

[15]1.1. Steht der Aufnahme eines Beweises ein Hindernis von ungewisser Dauer entgegen (erster Fall), ist die Ausführbarkeit einer Beweisaufnahme zweifelhaft (zweiter Fall) oder soll die Beweisaufnahme außerhalb des Geltungsgebiets dieses Gesetzes erfolgen (dritter Fall), so hat das Gericht auf Antrag eine Frist zu bestimmen, nach deren fruchtlosem Ablauf die Verhandlung auf Begehren einer der Parteien ohne Rücksicht auf die ausstehenden Beweise fortgesetzt wird (§ 279 Abs 1 ZPO).

[16]1.2. Ein Beweisbefristungsbeschluss kann erst mit Mängelrüge gegen die Entscheidung in der Hauptsache bekämpft werden (vgl 3 Ob 135/15x mwN). Abgesehen davon, dass die Beklagte das Unterbleiben der Zeugeneinvernahme per Zoom ohnehin bemängelte, ist eine vorangehende Rüge nach § 196 ZPO nicht erforderlich (RS0037055 [insbes T7]), weil es sich dabei um einen Stoffsammlungsmangel handelt.

[17]2. Das Erstgericht hat die Befristung der Einvernahme der Zeugin auf § 279 Abs 1 erster Fall ZPO gestützt. Ob der Beweisaufnahme ein Hindernis von ungewisser Dauer entgegensteht, hängt nach den von den Vorinstanzen als erwiesen angenommenen Lebensumständen der Zeugin davon ab, ob deren Vernehmung durch das Erstgericht im Wege einer Videokonferenz auch an ihrem Wohnort in Frankreich, also außerhalb eines französischen Gerichtsgebäudes zulässig ist.

3. Zur EuBVO 2020

[18] 3.1. Die grenzüberschreitende Beweisaufnahme in Zivil und Handelssachen erfolgt in der Europäischen Union (mit Ausnahme von Dänemark) auf Grundlage der seit 1. 7. 2022 anzuwendenden Verordnung (EU) 2020/1783 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2020 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil oder Handelssachen (EuBVO 2020). Die VO ist nach ihrem Art 1 Abs 1 EuBVO 2020 anzuwenden, wenn das Gericht eines Mitgliedstaats nach seinem innerstaatlichen Recht (a) das zuständige Gericht eines anderen Mitgliedstaats um Beweisaufnahme ersucht oder (b) darum ersucht, in einem anderen Mitgliedstaat unmittelbar Beweis erheben zu dürfen. Die unmittelbare Beweisaufnahme ist in den Art 19 und 20 EuBVO 2020 geregelt.

[19] 3.2. Art 20 EuBVO 2020 enthält Vorschriften über die – hier in Rede stehende – unmittelbare Beweisaufnahme per Videokonferenz oder mittels anderer Fernkommunikationstechnologie und eröffnet dafür nach herrschender Lehre die Möglichkeit, Videokonferenzen auch außerhalb des Gerichtssaals des zuständigen Gerichts des ersuchten Staats durchzuführen ( Fucik in Fasching/Konecny 3 V/3 Art 20 EuBVO 2020 Rz 6; Von Hein in Rauscher , EuZPR/EuIPR 5 Art 20 EU BewVO Rn 10; Knöfel , Die Neufassung der Europäischen Beweisaufnahmeverordnung [EuBewVO], RIW 2021, 247).

[20] Ob diese Art der Videovernehmung für das jeweils erkennende Gericht in Betracht kommt, richtet sich aber nach dessen innerstaatlichem Recht. Denn Art 19 Abs 8 EuBVO 2020 sieht vor, dass das ersuchende Gericht die unmittelbare Beweisaufnahme nach seinem Recht vornimmt (vgl auch Spitzer in Kodek/Oberhammer, ZPOON § 291a ZPO Rz 1). Dies gilt gleichermaßen für die Videokonferenz, die nach der Verordnung (nur) ein Anwendungsfall unmittelbarer Beweisaufnahme ist. Auch wenn Art 20 EuBVO 2020 daher die Möglichkeit einer Videokonferenz mit einem Zeugen außerhalb eines Gerichts( gebäudes) eröffnen sollte, kommt eine solche nur dann in Betracht, wenn sie (auch) nach dem nationalen Verfahrensrecht des erkennenden Gerichts als Art der Beweisaufnahme zulässig ist (so auch Knöfel , Die Neufassung der Europäischen Beweisaufnahmeverordnung [EuBewVO], RIW 2021, 247 [iZm einer von der EuBVO 2020 eröffneten Möglichkeit einer Beweisaufnahme „mittels anderer Fernkommunikations technologie“]).

[21] Dieses Ergebnis folgt im Übrigen schon aus Art 1 EuBVO 2020, wonach die Verordnung in Zivil oder Handelssachen gilt, in denen das Gericht eines Mitgliedstaats nach seinem Recht um eine Beweisaufnahme durch ein Rechtshilfegericht oder darum ersucht, in einem anderen Mitgliedstaat unmittelbar Beweis erheben zu dürfen. Schon die Anwendung der Verordnung setzt daher ein nach dem Recht des erkennenden Gerichts zulässiges Ersuchen voraus.

[22] 3.4. Es ist daher im Folgenden zunächst zu klären, ob das nationale Verfahrensrecht eine Videokonferenz mit einem Zeugen auch außerhalb eines Gerichts( gebäudes) ermöglicht. Nur wenn das zuträfe, wäre zu prüfen, ob dafür ein Ersuchen nach Art 19 Abs 1 EuBVO 2020 erforderlich ist und deren Durchführung die Einhaltung des in Art 19 EuBVO 2020 vorgesehenen Verfahrens voraussetzt (vgl zum Meinungsstand: Sengstschmid in Mayr , Europäisches Zivilverfahrensrecht 2 Rz 15.9 mwN).

4. Zur Zulässigkeit der Vernehmung eines nicht im Gericht anwesenden Zeugen durch Nutzung von Mitteln der Informationstechnologie.

[23]4.1. Nach § 277 ZPO hat das Gericht nach Maßgabe der technischen Möglichkeiten statt der Einvernahme durch den ersuchten Richter eine unmittelbare Beweisaufnahme unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wortund Bildübertragung durchzuführen, es sei denn, die Einvernahme durch einen beauftragten oder ersuchten Richter wäre unter Berücksichtigung der Verfahrensökonomie zweckmäßiger oder aus besonderen Gründen erforderlich. Diese Regelung setzt voraus, dass die Voraussetzungen für eine Einvernahme im Rechtshilfeweg grundsätzlich vorliegen, was sich für Zeugen aus § 328 Abs 1 ZPO ergibt.

[24]4.2. § 277 ZPO geht auf den mit der ZVN 2004, BGBl I 228/2004, eingeführten § 91a GOG zurück, der die Möglichkeit einer Einvernahme über technische Einrichtungen zur Wortund Bildübertragung als Alternative zur Einvernahme im Rechtshilfeweg eingeführt hatte. Die ZVN 2009, BGBl I 30/2009, hatte diese Regelung unverändert in § 277 ZPO übernommen, um durch eine „erhöhte Sichtbarkeit“ deren Anwendung zu fördern (ErläutRV 89 BlgNR 24. GP 14). Die derzeit geltende Fassung beruht auf dem Budgetbegleitgesetz 2011 (BudBG 2011, BGBl I 111/2010): Durch Ersetzen des Wortes „kann“ durch „hat“ wurde damit der primäre Einsatz der Videokonferenz angeordnet. Die Einvernahme im Rechtshilfeweg (oder im Senatsprozess durch einen beauftragten Richter) ist nach der Neufassung nur zulässig, wenn dies aus Gründen der Verfahrensökonomie zweckmäßiger oder im Einzelfall erforderlich ist (näher dazu ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 85 f).

[25]4.3. Der Gesetzgeber hat damit der unmittelbaren Beweisaufnahme im Weg der Videokonferenz (vgl RS0046333 [T44]) den Vorrang vor einer Einvernahme durch einen ersuchten Richter eingeräumt ( Spitzer in Spitzer/Wilfinger, Beweisrecht § 277 ZPO Rz 1; Rechberger/Klicka in Rechberger/Klicka ZPO 5 § 277 Rz 1). Mangels Einschränkung gilt dies unabhängig davon, ob sich die zu vernehmende Person im In oder Ausland aufhält ( Rechberger in Fasching/Konecny 3III/1 § 277 ZPO Rz 1; Sengstschmid in Mayr , Europäisches Zivilverfahrensrecht 2 Rz 15.99 mwN; Oberhammer/Scholz Berger, Möglichkeit und Grenzen der Videoeinvernahme nach § 277 ZPO, ecolex 2022/193; aA, aber ohne nähere Begründung, Spitzer in Spitzer/Wilfinger, Beweisrecht § 277 ZPO Rz 1). Dies entspricht auch der Intention des Gesetzgebers, der unmittelbaren Beweisaufnahme durch eine Videokonferenz den Vorrang vor der Einvernahme durch einen ersuchten Richter einzuräumen (ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 85 f).

[26]4.4. Ob § 277 ZPO voraussetzt, dass sich die zu vernehmende Person bei einem – für sie örtlich günstigen – Gericht einfindet und die Einvernahme mit technischer Ausrüstung dieses Gerichts erfolgt, oder ob die Person auch an einem anderen Ort, etwa an ihrem Wohnort oder ihrer Arbeitsstelle, ohne Einschaltung eines (zweiten) Gerichts durch Nutzung von Internetdiensten vernommen werden kann, ist dem Wortlaut der Bestimmung nicht eindeutig zu entnehmen. Auch in der Rechtsprechung wurde diese Frage bisher nicht erörtert.

4.5. Die Lehre ist nicht einheitlich:

[27] 4.5.1. Überwiegendwird die Auffassung vertreten, dass Videokonferenzen nach § 277 ZPO von Gerichtsgebäude zu Gerichtsgebäude mit der technischen Ausrüstung der Gerichte erfolgten; die Aussage werde daher in einem „Justizsetting“ abgelegt ( Spitzer/Wilfinger , ZVN 2023: Videoverhandlung im Zivilprozess, ÖJZ 2023/99; Spitzer , Die Digitalisierung des Prozesses am Beispiel der Videoverhandlung, in FS Lovrek [2024] 725 [732, 739]; Rechberger , Zur Wandlung des Erscheinungsbildes des österreichischen Zivilprozesses durch seine Elektronisierung, in FS M. Schneider [2013] 361 [382]; Leupold , Öffentlichkeit im Zivilprozess – Verfahrensgrundsätze und Rechtsentwicklung im Lichte der Krise, JRP 2021, 339 [347] mwN; Schmidt, Videokoferenztechnologie statt Rechtshilfe, RZ 2006, 265). Eine nähere Begründung findet sich dafür allerdings – abgesehen von den noch darzustellenden Materialien – nicht; das Erfordernis eines „Justizsettings“ wird vielmehr vorausgesetzt. Damit verbindet sich, allerdings im Kontext der Videoverhandlung nach § 132a ZPO, eine grundsätzliche Skepsis gegenüber jeder Einvernahme von Personen im Weg der Videokonferenz, weil sich „erfahrungsgemäß […] die Unwahrheit leichter in eine Kamera“ sagen lasse (so pointiert Spitzer/Wilfinger , ÖJZ 2023/99 [608] in Wiedergabe einer Formulierung von Stadler in Musielak/Voit, ZPO 20 § 128a Rz 7).

[28] 4.5.2. Die Gegenauffassungstützt sich im Kern auf den Wortlaut von § 277 ZPO. Zwar seien die Materialien zu § 91a GOG davon ausgegangen, dass die Zuschaltung in der Regel von einer justizeigenen Videokonferenzanlage erfolge, das Gesetz ordne diese Vorgehensweise aber nicht an. Dies ergebe sich insbesondere aus jüngeren Regelungen zur Videoverhandlung ieS (§ 3 des 1. COVID-19-JuBG, nunmehr § 132a ZPO), die – bei weitgehend dem § 277 ZPO entsprechendem Wortlaut – eindeutig auf die Zuschaltung von Parteien und ihren Vertretern durch Nutzung von Internetdiensten ohne Inanspruchnahme eines (weiteren) Gerichts abzielten ( Oberhammer/Scholz Berger, Möglichkeiten und Grenzen der Videoeinvernahme nach § 277 ZPO, ecolex 2022/93 [288 f]; Sengstschmid in Mayr , Europäisches Zivilverfahrensrecht 2 Rz 15.103 ff; vgl auch Ent, Videoverhandlungen nach der ZVN 2023 [Teil II], RZ 2024, 56 [58 f], der zwar zur Problematik nicht ausdrücklich Stellung nimmt, aber den Begriff der „Videokonferenz“ nach § 132a ZPO auch auf § 277 ZPO zu übertragen scheint).

4.6. Auf dieser Grundlage hat der Senat erwogen:

[29] 4.6.1. Zeugen trifft grundsätzlich eine öffentlich rechtliche Zeugnispflicht, die die Pflicht umfasst, vor Gericht zu erscheinen ( Frauenberger in Fasching/Konecny 3III/1 Vor §§ 320 ff ZPO Rz 5; Rechberger/Klicka in Rechberger/Klicka, ZPO 5 Vor § 320 Rz 4). Dabei ist aus systematischer Sicht Folgendes zu beachten:

[30]Der hier zu beurteilende § 277 ZPO ist nur anwendbar, wenn die in § 328 Abs 1 ZPO geregelten Voraussetzungen für eine Einvernahme durch den ersuchten Richter vorliegen. In seinem unmittelbaren Anwendungsbereich führt § 328 Abs 1 ZPO nur dazu, dass der Zeuge nicht vor dem erkennenden, sondern vor dem Rechtshilfegericht zu erscheinen hat. Hingegen befreit die in § 277 ZPO nicht erwähnte Bestimmung des § 328 Abs 2 ZPO Zeugen, die infolge Krankheit, Gebrechlichkeit oder aus anderen persönlichen Gründen außer Stande sind, ihre Wohnung zu verlassen, von der Pflicht, vor Gericht zu erscheinen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um das erkennende oder das ersuchte Gericht handelt ( Rechberger/Klicka und Frauenberger aaO). In diesem Fall wird der Zeuge – sei es vom erkennenden oder vom ersuchten Gericht – an seinem Wohnort einvernommen.

[31]Da der Gesetzgeber damit nur unter den engen Voraussetzungen des § 328 Abs 2 ZPO ein Abstehen von der Pflicht des Zeugen, vor Gericht zu erscheinen, als sachlich angemessen erachtet, umgekehrt aber § 277 ZPO nur auf die weiter gefassten Tatbestände des § 328 Abs 1 ZPO Bezug nimmt, liegt aus systematischer Sicht ein enges Verständnis von § 277 ZPO dahin nahe, dass der zu vernehmende Zeuge beim auswärtigen Gericht zu erscheinen hat.

[32] 4.6.2. Diese Auffassung wird durch historische Auslegung gestützt.

[33]Die Erläuterungen zum – insoweit unverändert gebliebenen – § 91a GOG (ErläutRV 613 BlgNR 22. GP 21) nehmen wiederholt auf die Ausstattung der Gerichte Bezug und führen aus, dass das Prozessgericht die Partei, den Zeugen oder den Sachverständigen zu dem in Aussicht genommenen Gericht zu laden hat. Die Einschaltung eines „Rechtshilferichters“ sei (zwar) nicht vorgesehen. Bei allen Gerichten mit Videokonferenztechnologie werde (aber) entsprechend geschultes Personal zu Verfügung zu stellen sein, das die Anlagen bediene und die notwendige Überprüfung der Identität der einvernommenen Person durchführe.

[34]Auch der Gesetzgeber des Budgetbegleitgesetzes 2011 ging davon aus, dass die Einvernahme nach § 277 ZPO das Erscheinen des Zeugen vor Gericht erfordert. Denn nur so lässt sich die Auffassung der Materialien erklären, dass die Notwendigkeit, eine nicht transportfähige Person zu Hause aufzusuchen, ein Grund für die (ausnahmsweise) Einvernahme durch den ersuchten Richter – also nicht im nun vorrangigen Weg der Videokonferenz – sei (ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 86). Eine generelle Ausnahme von der Pflicht eines Zeugen, vor Gericht zu erscheinen, sollte daher auch mit § 277 ZPO nicht geschaffen werden. Zweck der Bestimmung war nur, eine erhöhte Unmittelbarkeit, eine erleichterte Ausübung des Fragerechts der Parteien samt Möglichkeit der Interaktion und Nachfrage durch eine unmittelbare Beweisaufnahme durch das erkennende Gericht zu eröffnen.

[35]Aus den Materialien geht daher klar hervor, dass der Gesetzgeber nicht einmal die Möglichkeit eröffnen wollte, eine nicht transportfähige Person iSd § 328 Abs 2 ZPO per Video an ihrem Wohnort zu vernehmen, führte er doch gerade diese Konstellation als einen Grund für die Einvernahme (nur) durch einen ersuchten Richter an. § 277 ZPO zielt daher nur auf einen „Vorrang“ des erkennenden Gerichts vor dem Rechtshilfegericht, nicht aber darauf ab, die Einvernahme einer Person etwa an ihrem Wohnort oder ihrer Arbeitsstelle zu ermöglichen.

[36]4.6.3. An diesem Verständnis hat auch die Einführung von § 132a ZPO nichts geändert.

[37] Mit dieser Bestimmung wurde im Anschluss an die Gesetzgebung während der COVID-19-Pandemie die ua vom Einverständnis der Parteien und dem Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie abhängige Möglichkeit zur Abhaltung einer „Videoverhandlung“ mit nicht beim erkennenden oder einem auswärtigen Gericht anwesenden Parteien bzw Parteienvertretern in das Dauerrecht des streitigen zivilgerichtlichen Verfahrens übernommen (vgl dazu Melzer in Kodek/Oberhammer, ZPOON § 132a ZPO Rz 1; Spitzer/Wilfinger , ZVN 2023: Videoverhandlung im Zivilprozess, ÖJZ 2023, 606).

[38] In Bezug auf Beweisaufnahmen wurde die Möglichkeit einer Videozuschaltung aber – auch bei Zustimmung der Parteien – auf die Einvernahme der Parteien oder informierter Vertreter in der vorbereitenden Tagsatzung und auf die Erstattung oder Erörterung von Gutachten beschränkt. Grund dafür war nach den Materialien (ErläutRV 2093 BlgNR 27. GP 3), dass der Einsatz von Medien zum Zweck der zwischenmenschlichen Kommunikation zwangsläufig eine gewisse Veränderung des Verhaltens der zugeschalteten Personen und der nonverbalen Kommunikation aller Beteiligten sowie eine Einschränkung der Wahrnehmung der auf diese Weise übermittelten Geschehnisse mit sich bringe. Der Gesetzgeber stand daher einer weiteren Verlagerung der Beweisaufnahme in die elektronische Kommunikation durchaus zurückhaltend gegenüber.

[39]Zwar kann in einer Videoverhandlung nach § 132a ZPO (also bei bloß virtueller Anwesenheit der Parteien bzw ihrer Vertreter) unter den Voraussetzungen des § 277 ZPO auch eine Einvernahme von anderen Personen stattfinden. Allerdings führen die Materialien dazu aus, dass für die erforderliche Zustimmung der Parteien – gemeint: zu einer Verhandlung bei bloß virtueller Anwesenheit der Parteien bzw ihrer Vertreter – wesentlich sein könne, ob zusätzlich auch „die Vernehmung einer Partei oder eines Zeugenvor dem auswärtigen Gericht (nach § 277 ZPO)vorgesehen“ sei (ErläutRV 2093 27. GP 3; Hervorhebung durch den Senat). Auch § 132a ZPO befreit daher Zeugen nach den Materialien nicht von ihrer Pflicht, beim erkennenden oder ersuchten Gericht zu erscheinen; vielmehr gehen (auch) die Materialien davon aus, dass eine Einvernahme nach § 277 ZPO unter Anwesenheit des Zeugen bei Gericht erfolgen muss.

[40]4.6.4. Im Ergebnis sprechen daher neben systematischen Erwägungen auch die Materialien zu § 277 ZPO und die vom Gesetzgeber noch bei der Verankerung der „Videoverhandlung“ im Dauerrecht (§ 132a ZPO) dokumentierten Bedenken gegen eine Ausweitung der Beweisaufnahme per Videokonferenz dafür, eine Einvernahme nach § 277 ZPO nur von Gerichtsgebäude zu Gerichtsgebäude mit technischer Ausrüstung der Gerichte zuzulassen. Auch der Wortlaut des Gesetzes deckt eine solche Auslegung: Während § 132a ZPO von technischen Kommunikations mitteln spricht, damit (nur) auf die erforderliche Kommunikations technologie (Zoom) abstellt und daher auch die Zuschaltung von privaten Endgeräten erfasst, kann die Formulierung „technische Einrichtungen“ in § 277 ZPO ohne weiteres im Sinn der dargestellten Materialien auf solche Einrichtungen bei Gericht bezogen werden.

[41]4.6.5. Soweit aus der Entscheidung 3 Ob 150/22p, die aber (nur) die Frage der Anwendbarkeit der §§ 291a ff ZPO auf eine Videovernehmung betraf und zur hier strittigen Rechtsfrage nicht Stellung nahm, Gegenteiliges abzuleiten sein sollte, wird dies vom erkennenden Senat nicht geteilt.

5. Die vorangehenden Ausführungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

§ 277 ZPO gilt in Bezug auf Einvernahmen unabhängig davon, ob sich die zu vernehmende Person im In oder Ausland aufhält.

Die Vernehmung von Personen unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wortund Bildübertragung nach § 277 ZPO hat von Gericht zu Gericht zu erfolgen und erfordert daher die Anwesenheit des Zeugen beim auswärtigen Gericht.

6. Für den vorliegenden Fall ergibt sich daraus Folgendes:

[42]6.1. Da die Zeugin auch für die von der Beklagten beantragte Einvernahme im Weg einer Videokonferenz zu einem französischem Gericht kommen müsste, das über die dafür erforderlichen technischen Einrichtungen verfügt, einem derartigem Vorgehen aber nach den Sachverhaltsannahmen der Vorinstanzen ein dauerhaftes Hindernis entgegensteht, erweist sich die vom Erstgericht vorgenommene Präklusion des Beweises nach § 279 Abs 1 erster Fall ZPO im Ergebnis als gesetzeskonform. Eine unmittelbare Einvernahme der Zeugin durch das erkennende Gericht vor Ort in Frankreich (§ 328 Abs 2 Z 4 iVm § 291a ZPO und Art 19 EuBVO 2020) hat die Beklagte nicht beantragt; dass das Erstgericht nicht ein weiteres Mal um eine Einvernahme im Rechtshilfeweg (allenfalls auch am Wohnort der Zeugin) ersucht hatte, hat die Beklagte in der Berufung nicht gerügt. Der vom Berufungsgericht angenommene Verfahrensmangel liegt daher nicht vor.

[43]6.2. Die Beklagte hat gegen das klagsstattgebende Urteil des Erstgerichts keine Rechtsrüge erhoben, sodass auch im Revisionsverfahren keine Überprüfung des vom Erstgericht unter Zugrundelegung französischen Sachrechts angenommenen Alleinverschuldens des Lenkers des bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeugs zu erfolgen hat (vgl RS0043573; vgl 6 Ob 106/23s Rz 36).

[44]6.3. Der Oberste Gerichtshof kann gemäß § 519 Abs 2 letzter Satz ZPO über einen Rekurs gegen einen Beschluss des Berufungsgerichts gemäß § 519 Abs 1 Z 2 ZPO durch Urteil in der Sache selbst erkennen, wenn sie zur Entscheidung reif ist (RS0043853 [insbes T7 bis T9]). Da das hier zutrifft, war das klagsstattgebende Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.

[45]7. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO.