JudikaturJustizBsw61985/12

Bsw61985/12 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
03. Oktober 2019

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Fleischner gg. Deutschland, Urteil vom 3.10.2019, Bsw. 61985/12.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 7 EMRK - Verurteilung zur Leistung von Schadenersatz trotz eingestellten Strafverfahrens.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 7 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Der Bf. ist deutscher Staatsbürger. Er wurde gemeinsam mit vier anderen, darunter seine Frau, wegen der Geiselnahme A.s angeklagt. Dieser war der Finanzberater der fünf Angeklagten. Nachdem A. seinen vertraglichen Verpflichtungen im Zusammenhang mit einer Investition der Beschuldigten nicht nachgekommen war, wurde er von zwei von ihnen entführt und gefangen gehalten. Dabei wurde A. gezwungen, ein Schuldanerkenntnis zu unterzeichnen und € 75.000,– auf das Bankkonto eines der Mittäter zu überweisen. Er wurde letztlich von der Polizei gerettet.

Am 3.2.2010 wurde das strafrechtliche Verfahren gegen den Bf. vorläufig, am 29.8.2011 endgültig eingestellt, da er aus gesundheitlichen Gründen als verhandlungsunfähig galt. Die vier Mittäter wurden am 23.3.2010 vom Landgericht Traunstein wegen mehrerer strafbarer Handlungen in Zusammenhang mit der Erpressung A.s verurteilt.

Außerhalb des Strafverfahrens betraute A. einen Anwalt mit der Rückforderung der € 75.000,– und verlangte in Hinsicht darauf vom Bf. und den Mittätern den Ersatz der dadurch entstandenen Anwaltskosten. Da dies erfolglos blieb, brachte A. eine Zivilklage ein. Das Amtsgericht Speyer gab den fünf Beschuldigten die Möglichkeit zur Stellungnahme. Der Bf. informierte das Amtsgericht am 5.6.2011, dass er beabsichtige, sich mit Unterstützung eines Anwalts zu verteidigen. Zur Rechtssache nahm er nicht Stellung. Am 5.9.2011 informierte das Amtsgericht die Parteien, dass es A.s Anspruch als gerechtfertigt ansehen und diesbezüglich das Strafurteil des Landgerichts Traunstein einen ausreichenden Beweis darstellen würde. Am 17.10.2011 setzte der Bf. das Amtsgericht davon in Kenntnis, dass er nicht verhandlungsfähig sei. Das Gericht teilte ihm jedoch mit, dass ihn das nicht vom Verfahren und der mündlichen Verhandlung am 7.11.2011 entbinden würde. Einer Stellungnahme seiner Frau vom 28.10.2011 legte der Bf. eine Aussage bei, wonach er und seine Frau in keinerlei strafbare Handlungen involviert gewesen wären und auch nichts darüber wüssten. In seinem Vorbringen vom 30.10.2011 gab der Bf., der entschieden hatte, sich nun doch nicht anwaltlich vertreten zu lassen, an, dass das Verfahren aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme und weil im Strafverfahren seine Beteiligung an der Geiselnahme und Übertragung der € 75.000,– nicht nachgewiesen worden wäre einzustellen sei. Der Bf. wurde am Tag der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht von seiner Tochter vertreten, die die Abweisung der Klage verlangte, laut Protokoll allerdings keine Beweisanträge stellte.

Am 2.12.2011 sprach das Amtsgericht A. den geforderten Schadenersatz zu, wobei der Bf. und die vier Mittäter als Gesamtschuldner hafteten. In seinem Urteil bezog sich das Amtsgericht auf jene Aussagen von A., die von den Beklagten nicht bestritten wurden, und im Falle strittiger Tatsachen auf die Feststellungen des strafrechtlichen Urteils und die darin enthaltenen Aussagen der Beklagten und von A. Es kam zum Schluss, dass die Beklagten gemeinsam den Tatbestand der Freiheitsberaubung nach § 239 StGB und jenen der Nötigung nach § 240 StGB erfüllt hätten. Zum Bf. hielt es explizit fest, dass dieser es unterlassen habe, die Freiheitsberaubung zu beenden und sich insofern aktiv an der Nötigung beteiligt habe, als diverse Dokumente von ihm vorbereitet worden seien, die der Kläger dann unterschreiben musste.

Der nun anwaltlich vertretene Bf. legte am 2.1.2012 Berufung ein. Das Landgericht Frankenthal lehnte diese am 10.4.2012 aufgrund fehlender Erfolgsaussichten und ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung einstimmig ab, da das Amtsgericht die zivilrechtliche Haftung des Bf. rechtmäßig festgestellt hätte.

Das BVerfG lehnte die Behandlung einer Verfassungsbeschwerde des Bf. am 11.7.2012 ohne weitere Begründung ab (1 BvR 1306/12).

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügte insbesondere eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (Unschuldsvermutung). Daneben rügte er auch Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(34) Der Bf. rügte, dass die zivilrechtlichen Verfahren insofern unfair gewesen wären, als das Amtsgericht ausschließlich aufgrund der Tatsachenfeststellung des vorhergegangenen strafrechtlichen Urteils entschieden habe. Er beklagte darüber hinaus, dass er daran gehindert worden wäre, seine Argumente während einer mündlichen Verhandlung vor der Rechtsmittelinstanz vorzubringen. […]

Amtsgerichtsverfahren

(39) […] Im vorliegenden Fall stützte sich das Amtsgericht in seinem Urteil auf die […] Feststellungen des strafrechtlichen Urteils […], ohne weitere Beweise aufzunehmen. Die Vorbringen des Bf. vor dem Amtsgericht enthielten jedoch nur wenige Detailangaben zur Sache und bezogen sich im Wesentlichen auf seine gesundheitlichen Probleme. Obwohl der Bf. wissen hätte müssen, dass das Zivilgericht seine Verhandlungsunfähigkeit nicht akzeptieren würde, brachte er lediglich in seinem Schreiben vom 30.10.2011 vor, dass sich die Behauptungen des Klägers nicht auf ausreichende Beweise stützen würden. Trotzdem verlangte er keine weitere Beweisaufnahme. Sogar im Rahmen der mündlichen Verhandlung verlangte seine Vertretung lediglich die Abweisung der Klage.

(40) Der GH ist daher der Ansicht, dass der Bf. seine Möglichkeit zur Erhebung von Einwänden nicht in vollem Umfang wahrnahm. Er teilt nicht die Ansicht des Bf., dass diesem die Möglichkeit verwehrt worden wäre, die Feststellungen des strafrechtlichen Urteils zu widerlegen, und dass seine Vorbringen ignoriert worden wären. Das Amtsgericht forderte ihn mehrmals dazu auf, sich zum Gegenstand zu äußern, und wies ihn darüber hinaus darauf hin, dass es vorhatte, seine Feststellungen auf Grundlage des Strafurteils […] zu treffen. Trotzdem beantragte nur die Ehefrau des Bf. eine weitere Beweisaufnahme. Obwohl der Bf. im Rahmen einer schriftlichen Stellungnahme, die dem Vorbringen der Ehefrau beigelegt wurde, seine Verwicklung in jegliche strafbaren Handlungen dementierte, stellte diese offensichtlich ausschließlich die Klagebeantwortung seiner Ehefrau dar. Der GH zweifelt nicht daran, dass sich der Bf. darüber bewusst war, dass im Rahmen von Zivilprozessen alle Beteiligten verpflichtet waren, ihre eigenen Argumente und Beweismittel vorzubringen. Der […] Schriftverkehr des Bf. mit dem Amtsgericht zeigt, dass er über seine Verfahrenspflichten Bescheid wusste. Trotzdem bestand er weiterhin auf der Einstellung des Verfahrens, statt die Vorlage weiterer Beweise zu verlangen oder Zeugen zu nennen. […] Das Amtsgericht hinderte den Bf. folglich nicht daran, seine Beweise vorzubringen.

(41) Durch den Umstand, dass es vom Bf. unterlassen wurde, einen Beweisantrag zu stellen, ist der vorliegende Fall von Fällen zu unterscheiden, in denen die innerstaatlichen Gerichte gezwungen waren zu begründen, warum die vom Bf. angeführten Beweise nicht zugelassen wurden. Nach Ansicht des GH war es daher ausreichend, das Vorbringen des Bf. unter Bezugnahme auf die Vorbringen und Aussagen im Strafurteil zu widerlegen. […] Darüber hinaus scheint die Schlussfolgerung des Amtsgerichts, dass der Bf. aufgrund seiner Verwicklung [in die Tat], vor allem durch das Unterlassen der Beendigung der Freiheitsentziehung des Klägers, zur Verantwortung gezogen werden kann, weder willkürlich noch offensichtlich unangemessen.

(42) Der GH teilt darüber hinaus auch nicht die Ansicht des Bf., dass es das Amtsgericht unterlassen hätte, ihn rechtzeitig darüber zu informieren, dass das Verfahren nicht aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme eingestellt werden würde. Nachdem der Bf. bekannt gab, von einem Anwalt vertreten zu werden, ging das Amtsgericht vernünftigerweise davon aus, dass er eine angemessene Beratung erhielt. Obwohl [der Bf.] letztlich keinen Anwalt bestellte, brachte er nicht vor, dass er dazu nicht in der Lage gewesen wäre. […] Nachdem er nachfolgend eindeutig angab, nicht verhandlungsfähig zu sein, wies ihn das Amtsgericht umgehend darauf hin, dass ihn dies nicht vom Verfahren entbinden würde.

(43) Der GH findet letztlich keine Anhaltspunkte dafür, dass das zivilrechtliche Verfahren vor dem Amtsgericht unfair oder auf andere Weise unvereinbar mit Art. 6 Abs. 1 EMRK gewesen wäre.

(44) Daraus folgt, dass die Beschwerde offensichtlich unbegründet ist und daher […] [als unzulässig] abgewiesen werden muss (einstimmig).

Keine mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgericht

(47) Der GH hat bereits im Fall Rippe/D festgestellt, dass § 522 Abs. 2 ZPO, wonach das Berufungsgericht ermächtigt ist, eine Berufung, die offensichtlich keine Erfolgsaussichten hat, ohne mündliche Verhandlung und durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen, grundsätzlich mit Art. 6 EMRK vereinbar ist.

(48) […] Im vorliegenden Fall verfügte der Bf. über dieselben verfahrensrechtlichen Garantien wie [der Bf.] im Fall Rippe/D. Er bekam insbesondere eine öffentliche Verhandlung in erster Instanz; das Landgericht wies ihn darauf hin, dass es beabsichtigte, seine Berufung zurückzuweisen, und gab ihm Gelegenheit zur Stellungnahme. Es erging ein einstimmiger Beschluss durch drei Richter. Daraus folgt, dass der Bf., der zu diesem Zeitpunkt von einem Anwalt vertreten wurde, ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme hatte […]. Es war darüber hinaus auch keine mündliche Verhandlung [vor dem Landgericht] erforderlich, da [dieses] an die Tatsachenfeststellungen des Amtsgerichts gebunden war. Somit konnten die tatsächlichen und rechtlichen Fragen gestützt auf den Akt und die schriftlichen Stellungnahmen der Parteien hinreichend geklärt werden.

(49) Daraus folgt, dass diese Beschwerde offensichtlich unbegründet ist und daher [als unzulässig] abgewiesen werden muss (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK

(50) Sich auf Art. 7 EMRK berufend brachte der Bf. vor, dass für die Anordnung des Amtsgerichts, Schadenersatz zu leisten, keine Rechtsgrundlage im innerstaatlichen Strafrecht bestand. […]

(51) […] Weder der Zweck der Entschädigung noch ihre Höhe verliehen der Maßnahme den Charakter einer Verurteilung oder strafrechtlichen Sanktion iSv. Art. 7 EMRK. Der Bf. wurde lediglich zum Ersatz des Vermögensschadens des Klägers verurteilt, genau gesagt zur Erstattung der Anwaltskosten, die im Zusammenhang mit der Rückforderung der € 75.000,– entstanden.

(52) Daraus folgt, dass dieser Beschwerdepunkt mit der Konvention ratione materiae unvereinbar ist und daher [als unzulässig] abgewiesen […] werden muss (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK

(53) Der Bf. beklagte, dass er für eine Straftat zur Rechenschaft gezogen wurde, obwohl das diesbezügliche strafrechtliche Verfahren gegen ihn eingestellt wurde. […]

(55) […] Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet […] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

(59) Der GH hat zuvor in Fällen entschieden, in denen die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 2 EMRK auf gerichtliche Entscheidungen in Verfahren zur Feststellung zivilrechtlicher Haftung und Schadenersatzleistungen an das Opfer im Anschluss an die Beendigung des Strafverfahrens, entweder durch Einstellung oder durch Freispruch, zu prüfen war. In diesen Fällen muss der Bf. den Nachweis eines Zusammenhangs zwischen dem abgeschlossenen Strafverfahren und dem darauffolgenden zivilrechtlichen Verfahren erbringen.

(60) Der GH anerkennt, dass im vorliegenden Fall insofern eine indirekte Verbindung bestand, als die Anwaltskosten im Zusammenhang mit den Folgen des strafrechtlichen Verfahrens standen, obwohl das strafrechtliche Urteil nur gegen die Mitangeklagten ergangen war. Das Amtsgericht musste über die zivilrechtliche Haftung des Bf. in Zusammenhang mit A.s Verfahrenskosten entscheiden, die dieser für die Rückforderung der € 75.000,– aufwenden musste. Es musste infolgedessen die Teilnahme des Bf. an den Ereignissen, die zur Überweisung dieses Betrages führten, prüfen.

(61) Der GH muss daher feststellen, ob die Begründung des Amtsgerichts unter Beachtung der Unschuldsvermutung gemäß Art. 6 Abs. 2 EMRK erfolgt ist. […] Es gibt keinen einheitlichen Ansatz in Bezug auf die Feststellung der Umstände, unter denen Art. 6 Abs. 2 EMRK im Falle eines auf ein abgeschlossenes Strafverfahren folgenden Verfahrens verletzt wird. Es wird viel vom Wesen und vom Kontext des Verfahrens abhängen, in dem die strittige Entscheidung erging. In diesem Zusammenhang hat der GH wiederholt betont, dass obwohl die Entlastung hinsichtlich der strafrechtlichen Verantwortung im zivilrechtlichen Schadenersatzverfahren berücksichtigt werden muss, sie nicht die Feststellung der zivilrechtlichen Haftung zur Zahlung von Schadenersatz ausschließen soll, die sich aufgrund derselben Umstände, aber gestützt auf eine weniger strenge Beweispflicht ergibt. Trotzdem geht aus der Rechtsprechung des GH hervor, dass die von den innerstaatlichen Gerichten gewählte Ausdrucksweise von entscheidender Bedeutung ist. […] Im Falle der Einstellung eines Strafverfahrens wird die Unschuldsvermutung verletzt, wenn eine [den Beschuldigten] betreffende gerichtliche Entscheidung die Ansicht widerspiegelt, dass dieser schuldig ist.

(62) […] Im vorliegenden Fall ergab sich die zivilrechtliche Haftung in erster Linie aufgrund der Weigerung des Bf., die bei A. für die Rückforderung der € 75.000,– entstandenen Anwaltskosten zu ersetzen. A. hatte keinen Schadenersatz für die erlittene Freiheitsentziehung und Nötigung gefordert. Die Schadenersatzforderung erfolgte daher nicht auf Grundlage derselben Umstände – insbesondere, dass A. seiner Freiheit beraubt und genötigt wurde –, im Hinblick auf die das Strafverfahren gegen den Bf. eingestellt worden war.

(63) In Bezug auf die gewählte Ausdrucksweise stellt der GH fest, dass das Urteil des Amtsgerichts die Aussage enthielt, dass die Handlungen des Bf. den Tatbestand der Freiheitsberaubung gemäß § 239 StGB und der Nötigung gemäß § 240 StGB erfüllten. Dies war aber keine Feststellung hinsichtlich der strafrechtlichen Schuld. Das Amtsgericht verwendete bewusst den […] Begriff »Tatbestand« um zu verdeutlichen, dass es lediglich gewisse Elemente einer Strafbestimmung geprüft hatte, die die Grundlage für sowohl die strafrechtliche als auch die zivilrechtliche Haftung sein konnten. Es beschränkte sich auf diese Feststellung und stellte nicht ausdrücklich fest, dass der Bf. die Straftaten, derer er beschuldigt und in deren Zusammenhang das Strafverfahren gegen ihn eingestellt worden war, begangen hätte.

(64) Der GH betont, dass die vom Entscheidungsträger verwendete Sprache hinsichtlich der Prüfung der Vereinbarkeit der Entscheidung und ihrer Begründung mit Art. 6 Abs. 2 EMRK wesentlich ist. […] Sogar die Verwendung von Ausdrücken aus dem strafrechtlichen Bereich, wie im vorliegenden Fall »Freiheitsberaubung« und »Nötigung«, haben den GH nicht dazu veranlasst, dort eine Verletzung von [Art. 6 Abs. 2 EMRK] festzustellen, wo die Verwendung der besagten Ausdrücke im Kontext des Urteils als Ganzes betrachtet vernünftigerweise nicht als Bestätigung der Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit verstanden werden konnte.

(65) In Fällen ungünstiger Formulierungen hat es der GH als erforderlich erachtet, den Kontext der Verfahren in ihrer Gesamtheit und deren Besonderheiten zu betrachten. Diese Besonderheiten wurden zu entscheidenden Faktoren in der Beurteilung, ob eine Aussage zu einer Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK führte. Der GH gelangt zu der Auffassung, dass diese Besonderheiten auch anwendbar sind, wenn die Formulierung eines Urteils missverstanden werden könnte, aber auf der Grundlage einer korrekten Einschätzung des Kontexts des innerstaatlichen Rechts nicht als Feststellung strafrechtlicher Verantwortung verstanden werden kann.

(66) […] Im vorliegenden Fall schloss sich A. dem Strafverfahren nicht als Privatbeteiligter an. Die Schadenersatzforderung wurde in einem von den strafrechtlichen Anklagen abgesonderten Verfahren behandelt. Das zivilrechtliche Verfahren wurde nicht nur erst später, sondern auch vor einem anderen Gericht und anderen Richtern geführt. Es war daher weder ein Zusatz zum strafrechtlichen Verfahren noch […] eine Fortsetzung desselben.

(67) Obwohl manche Voraussetzungen der zivilrechtlichen Haftung jenen der strafrechtlichen entsprachen, musste das Amtsgericht die Schadenersatzforderung doch auf der Grundlage des Schadenersatzrechts beurteilen. Unter Bezugnahme auf die einschlägigen Bestimmungen des BGB, die ihrerseits auf die einschlägigen Bestimmungen des StGB verweisen, stellte das Amtsgericht klar, dass es einen Schadenersatzanspruch prüfen musste und keine Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit beabsichtigt war. Entsprechend deutschem Schadenersatzrecht war es darüber hinaus für die Feststellung der zivilrechtlichen Haftung nicht ausreichend darzulegen, dass die Tatbestandselemente der Freiheitsberaubung und Nötigung erfüllt wurden. Der Geschädigte musste zudem Verursachung, Schaden und [Schadenshöhe] nach den Grundsätzen des bürgerlichen Rechts nachweisen. Das Amtsgericht konzentrierte sich außerdem auf Elemente, die ausschließlich für die Feststellung der zivilrechtlichen Haftung von Relevanz waren, da seine Begründung die Feststellung der Haftung als Gesamtschuldner, die Berechnung der Höhe des Schadenersatzes und die Prüfung möglicher Gegenansprüche umfasste. Darüber hinaus hatte das Amtsgericht den Schadenersatzanspruch auf Grundlage der allgemeinen Grundsätze zivilrechtlicher Verfahren und unter anderen Rahmenbedingungen als jenen des Strafverfahrens festzustellen. Im Gegensatz zum Strafprozessrecht hatten sich die Zivilgerichte auf die von den Beteiligten vorgelegten Beweise und die anzuwendenden Beweislastregeln zu stützen.

(68) […] Obwohl das Amtsgericht seine Feststellungen auf Grundlage der Vorbringen und Zeugenaussagen des gegen die vier Mitangeklagten ergangenen […] strafrechtlichen Urteils traf, musste es die darin vorgebrachten Stellungnahmen prüfen und neuerlich bewerten. In diesem Zusammenhang muss wiederholt werden, dass, obwohl die Ereignisse, die zur zivilrechtlichen Haftung des Bf. führten, mit jenen in Verbindung standen, auf deren Grundlage er im strafrechtlichen Verfahren angeklagt worden war, der Schadenersatz […] für die Rückerlangung von A.s Geld zugesprochen wurde. Dies war nicht Gegenstand des Strafverfahrens. Daher behandelte das Zivilverfahren nicht »dieselben Umstände«. Da der Ausgang des Strafverfahrens für die Zivilgerichte nicht bindend war, erfolgte eine abgesonderte Beurteilung der Umstände durch das Amtsgericht, um feststellen zu können, ob die Straftatbestandselemente […] erfüllt waren. Es prüfte aber auch die zusätzlichen für die Feststellung der zivilrechtlichen Haftung zu erfüllenden Elemente. Es hat es nicht darauf angelegt, zuerst darzulegen, dass der Bf. tatsächlich eine Straftat begangen hatte, um dann über die Schadenersatzforderung absprechen zu können.

(69) Angesichts der vorstehenden Ausführungen wiederholt der GH, dass bei der Formulierung der Begründung eines auf ein eingestelltes Strafverfahren folgenden zivilrechtlichen Urteils mit besonderer Sorgfalt vorgegangen werden muss. Unter Berücksichtigung des Wesens und Kontexts des zivilrechtlichen Verfahrens im vorliegenden Fall sowie der im innerstaatlichen Recht etablierten Bedeutung und Wirkung der konkret verwendeten Rechtsbegriffe gelangt der GH allerdings zur Ansicht, dass die Feststellung der zivilrechtlichen Haftung der Unschuldsvermutung nicht widersprach. Die Ausdrucksweise konnte nicht vernünftigerweise als Bestätigung der Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit verstanden werden. Es erfolgte demnach keine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Ringvold/N v. 11.2.2003

Rippe/D v. 2.2.2006 (ZE)

Lagardère/F v. 12.4.2012

Allen/GB v. 12.7.2013 (GK) = NLMR 2013, 257

Vella/M v. 11.2.2014

N.A./N v. 18.12.2014

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.10.2019, Bsw. 61985/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2019, 389) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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